[….] Markus Söder hat Hubert Aiwanger die Absolution erteilt. Sein Stellvertreter habe „Reue“ gezeigt, behauptet der Ministerpräsident. [….] „Damit ist die Sache aber aus unserer Sicht abgeschlossen“, sagte der CSU-Chef am Sonntag über den Antisemitismus-Skandal des Freie-Wähler-Chefs Aiwanger, mit dem er nach der bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober weiter regieren will. [….] Abstoßend ist Aiwangers Versuch, sich zum Opfer zu stilisieren. Er sei „entsetzt“, wie versucht werde, „mich politisch und persönlich fertig zu machen“, schreibt der Freie-Wähler-Politiker frech – und droht nebenbei mit rechtlichen Schritten und dem Dienstrecht. Reue sähe anders aus. Übrigens: Wer wissen will, wie eine Schmutzkampagne aussieht, sollte die Berichterstattung der Springer-Presse über den grünen Vizekanzler Robert Habeck verfolgen. [….]
(Pitt von Bebenburg, FR, 03.09.2023)
Der deutsche Grundkonsens, man habe die Lektionen aus der deutschen Geschichte gelernt, ist vorbei.
[….] Mit Moral, mit einer ausgewogenen Beurteilung des Verhaltens Aiwangers in der vergangenen Woche hat diese Entscheidung nichts zu tun. Das zeigt sich schon an den fadenscheinigen Begründungen. Er wolle keine Vorverurteilung vornehmen. Aber was heißt hier Vorverurteilung? Verurteilung vor was? Diesen Satz hätte man direkt nach der ersten Veröffentlichung der Süddeutschen Zeitung bringen können. Aber nun geht es um das seitherige Verhalten Aiwangers. Dieses allen Ernstes als unglückliches Krisenmanagement zu bezeichnen, bedarf schon einer Extraportion Chuzpe.
Man erinnere sich an das Silvestervideo von Christine Lambrecht, das Energiekrisenmanagement von Robert Habeck. Hier hätte man die Vokabel „unglücklich“ vielleicht gebrauchen können. Söder hingegen forderte die Entlassung der beiden. Aber Moral ist bei Söder immer nur die Moral der anderen. Jetzt dürfe nichts mehr dazukommen, hat Söder vor ein paar Tagen noch großspurig gefordert, und er erwarte eine umfangreiche und glaubwürdige Beantwortung seines Fragenkatalogs. Nun lässt er Aiwanger aber etwa mit der Behauptung durchkommen, er wisse nicht, wie die Flugblätter in seine Schultasche gekommen seien. Auch die windelweiche Pseudoentschuldigung seines Vize lobt er als richtig und notwendig. Und dass er sich von dem Flugblatt distanziert habe, spreche für Aiwanger. Hallo? Allein dass Söder offenbar in Betracht zieht, es könne möglich sein, sich nicht von diesem Machwerk zu distanzieren, lässt einen sprachlos zurück. [….]
Markus Söder springt mit nacktem Arsch voran Jüdischen Organisationen und Antisemitismusbeauftragten ins Gesicht.
Er macht Antisemitismus offiziell hoffähig. Mit Zustimmung der AfD, FW und CSU. Mit schweigender Zustimmung der CDU.
Der 03.09.2023 ist der Tag der größten Schande Deutschlands im 21. Jahrhundert.
[….] Um zu begreifen, aus welcher Fallhöhe Markus Söder gerade abstürzt, muss man zurückspringen in das Jahr 2016. Damals besuchte Söder die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Dort wird der sechs Millionen Juden gedacht, die während des Holocausts – unter anderem in Auschwitz – ermordet wurden. Söder schrieb damals ins Gästebuch: "Wir dürfen es nie vergessen. Wir dürfen es nie wieder zulassen. Wir müssen Antisemitismus bekämpfen."
Eindeutig klang das. Keinen Fußbreit Platz für Judenhass. Söder glasklar.
Und jetzt? […]
Aus und vorbei. Für seine Macht und den Stammtisch adelt Söder jetzt den inkarnierten Antisemitismus an seinem Kabinettstisch.
[….] »Sie sind unser Schutzpatron«[….] Mit der Verleihung des diesjährigen Lord-Jakobovits-Preises zeichnete die Rabbinerkonferenz, die über 700 Gemeinde-rabbiner aus ganz Europa vertritt, den Ministerpräsidenten für seinen Beitrag »zum Schutz sowie zur Förderung jüdischen Lebens in Europa« aus. Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hob in ihrer Laudatio für Markus Söder dessen »langjährigen und unermüdlichen Einsatz« für die jüdische Gemeinschaft hervor: »In Ihnen haben jüdische Menschen in Bayern seit vielen Jahren einen guten, einen verlässlichen Freund, einen festen Partner und einen treuen Verbündeten. Das spüren wir im Umgang mit Ihnen«, sagte Knobloch im Kaisersaal. [….]
(Jüdische Allgemeine, 18.05.2023)
Aus und vorbei. Für seine Macht und den Stammtisch läßt Söder die Juden in Deutschland fallen und bringt antisemitische, rechtsextreme Hetzer wie David Berger zum Jubilieren. Der Abschaum mit dem Goebbels-Vokabular sieht sich von der bayerischen Regierung bestätigt. Söder übernimmt das faschistisch-völkische Narrativ.
[…] Medien-Kampagne gegen Aiwanger krachend gescheitert [….] eine überwiegende Mehrheit der bürgerlichen Wähler nicht mehr auf den billigen Kampagnenjournalismus von SZ & Co hereinfällt.
„Jetzt bestätigt sich, was ich von Anfang an gesagt habe: Es gibt keinen Grund, mich zu entlassen, die Kampagne gegen mich ist gescheitert. Wir müssen jetzt wieder zur Tagesarbeit für unser Land zurückkehren, damit Bayern ab Herbst stabil u vernünftig weiterregiert werden kann“ – so Hubert Aiwanger in einer ersten Stellungnahme.
Egal was man von Söder oder Aiwanger halten mag. Heute ist ein guter Tag mit Signalwirkung für Deutschland. Söder ist nicht in die Moralfalle, die so typisch ist für linksgrüne Politik getappt und hält an seinem Vize fest. [….] Eine für unsere großen Medien wie die „Süddeutsche“ typische Schmutzkampagne, die sich nicht einmal schämte, die Juden für ihre perfide Agenda zu missbrauchen und auf die zuletzt auch CDU-Chef Merz hereinfiel, ist krachend gescheitert. […]
(David Berger, 03.09.2023)
Von dem womöglich schlimmsten faschistischen verschwörungstheoretischen Hetzblogs Deutschlands derart gelobt zu werden, zeigt auf welche extrem rechten Abwege Söder rutscht.
Die Trumpisierung Bayerns ist vollzogen. Zwar gibt es heute viele wahre und wichtige journalistische Stimmen, welche die ungeheuerliche moralische Entgleisung und Rechts-Verschiebung der Unionsparteien in passende Worte kleiden.
Allein, das kümmert CDU, AfD, FW und CSU nicht, weil weite Teile der Wählerschaft ähnlich enthemmt wie die Trump-Jünger, den demokratischen Konsens verlassen haben. Sie stören sich nicht nur nicht an völkischen Sprüchen, antihumanistischer Politik und Antisemitismus. Sie schätzen es. Sie wählen Höcke, Söder, Aiwanger nicht trotz ihrer Unanständigkeit, sondern gerade deswegen!
[….]. Die Bürgerinnen und Bürger in Bayern wissen bis heute nicht, wer Aiwanger war und wer er ist, auch und erst recht nicht, nachdem er 25 Fragen der Bayerischen Staatskanzlei beantwortet hat. Sie haben nur erfahren, dass sich ein hochrangiger Politiker seit Tagen um ein klares Wort und eine ehrliche Aufarbeitung drückt. Und sich stattdessen in Bierzelten und Interviews selbst zum Opfer stilisiert – was in dem unglaublichen Satz gipfelte, die Schoa werde für parteipolitische Zwecke missbraucht.
Aiwangers schriftliche Antworten sind eine Beleidigung. Sie sind nichtssagend und belanglos, sie strotzen vor Widersprüchen.
Aiwanger beschreibt den Vorfall um das Pamphlet als »einschneidendes Erlebnis«, kann sich aber an so gut wie kein Detail erinnern.
Er bereut und entschuldigt sich, sagt aber mit keinem Wort, für welche Tat.
Er behauptet, der Vorfall um das Flugblatt habe einst »wichtige gedankliche Prozesse« angeschoben – obwohl er erst kürzlich bei einer Kundgebung ganz offen die Sprache von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten benutzte und tönte, die Mehrheit müsse sich »die Demokratie zurückholen«.
Ganze zwei Zeilen verwendet Aiwanger in seiner Erklärung, um Reue auszudrücken – sollte er Gefühle verletzt haben. Auf sechs Zeilen wettert er über die Ungeheuerlichkeit, dass ein Dokument aus seiner Schulzeit an die Öffentlichkeit gelangt sei. [….] Der Populismus hat gesiegt. Söder hat seine Entscheidung nicht auf Basis von Aiwangers Antworten getroffen, sondern sich vom Applaus leiten lassen, den Aiwanger dieser Tage im Bierzelt bekommt. Das ist nicht nur gefährlich für die Demokratie und die politische Kultur in diesem Land. Es zeugt auch davon, dass Söder immer Söder bleiben wird. [….]
(SPIEGEL-Leitartikel von Martin Knobbe, 03.09.2023)
Das ist die bittere Erkenntnis dieses dunkeln Sonntags; ja es gibt sie noch, die Guten und die Anständigen; die Politik, die man wählen kann. Aber in weiten Teilen Deutschlands (und der USA) sind die Wähler so verkommen, daß sie das gar nicht wollen und ganz freiwillig, von ihren selbstgewählten Desinformationsnetzen gelenkt, bei den braunen Zerstörern ihr Kreuz machen.
[….] Die SPD-Politikerin Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und frühere Bundesministerin, schrieb auf X, ehemals Twitter, in Bezug auf Aiwanger und Söder: »Im Rückblick wird die Trumpisierung der deutschen Politik nicht mit der AfD verbunden werden. Sondern mit einem ignoranten, skrupellosen Provinzpolitiker und einem schwachen konservativen Ministerpräsidenten.«
Bayerns SPD-Chef und Vorsitzender der SPD im Landtag, Florian von Brunn, sagte dem SPIEGEL: »Markus Söder ist nicht nur der schlechteste Ministerpräsident Bayerns, sondern der machtbesessenste. Für uns gilt: Erst das Land, dann die Partei. Für Markus Söder gilt das Gegenteil.« Dass die CSU unter Markus Söder einen »aktiven Rechtspopulisten und früher auch rechtsradikal tätigen Aktivisten als Stellvertreter in der Regierung akzeptiert«, sei ein negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland.
Fehlenden Anstand warf Grünen-Co-Chef Omid Nouripour Söder vor: »Es geht nicht um den 17-jährigen Hubert, sondern um den 52-jährigen Aiwanger und seinen Umgang mit der eigenen Vergangenheit«, so Nouripour zum SPIEGEL. Dieser Umgang werde nun von Söder belohnt, »weil ihm Taktik wichtiger als Haltung ist«. Das sei »unanständig und schlecht« für Bayern und Deutschland.
Auch Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen kritisierte die Entscheidung Söders scharf: »Sich als Jugendlicher möglicherweise zu verlaufen, ist das eine, sich als verantwortlicher Politiker zum Opfer zu machen und der Inszenierung wegen an den demokratischen Grundfesten zu rütteln, ist das andere«, sagte Habeck der Nachrichtenagentur dpa. »Da ist eine Grenze überschritten.« Vor diesem Hintergrund sei die Entscheidung Söders »leider keine gute«, erklärte Habeck. »Es geht hier nicht um Jugendsünden seines Koalitionspartners, sondern am Ende um den Grundkonsens dieser Republik, den jede Regierung in Bund und Ländern voll und ganz schützen muss.«
Der Queerbeauftragte der Bundesregierung, der Grüne Sven Lehmann, schrieb auf X, ehemals Twitter: »Vor fünf oder zehn Jahren wäre #Aiwanger entlassen worden. Dass Markus Söder ihn im Amt hält, ist eine erschreckende Normalisierung von menschenfeindlichen Positionen in hohen Staatsämtern. Und klebt ab jetzt an ihm. Ein bitterer Tag – nicht nur für Bayern.« [….]
Für einen anständigen Menschen wirkt es psychologisch erstaunlich, wie selbstsicher und arrogant der bayerische Vize-MP agiert. Er gibt sich nicht einmal Mühe, den Anschein zu erwecken, als nehme er Söders 25 Fragen ernst. Offenkundig ist es ihm völlig egal, ob er noch Glaubwürdigkeit besitzt, weil er das dumpf-völkische Bierzelt hinter sich weißt.
[….] Auch seine 25 Antworten auf die Fragen des Ministerpräsidenten sind im Grunde eine Unverschämtheit: kursorisch, hingerotzt, Erinnerungslücken behauptend, wo es auch nach aiwangerischem Ermessen keine Erinnerungslücken geben kann: "Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich", schreibt er. Wenn der Vorfall sein Leben verändert hat, warum erinnert er sich dann nicht daran? Doch der bisherige Verlauf des Wahlkampfs zeigt, welchen Kredit Hubert Aiwanger im Milieu seiner Freien Wähler angehäuft hat. […]
(Detlef Esslinger, 03.09.2023)
Söder hat seine CSU 2018 in die FW-Falle manövriert, sein ganzes politisches Leben selbst rechts gezündelt und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als offiziell völkischen, antidemokratischen Populismus abzusegnen.
[….] In der CSU kursierten am Wochenende Horrorszenarien: Was, wenn Aiwanger 20 Prozent holt? Wie viel bleiben der CSU dann noch - vielleicht 30?
Das ist das Söder-Dilemma: Eine Entscheidung, die bei der Jury gut ankommt, hätte verheerende Folgen haben können, für die CSU, aber mutmaßlich auch für das Land – gesellschaftliche Polarisierung, neue Systemskepsis, vielleicht das Ende der Freien Wähler als Partei der Mitte. Aber: Können nicht auch die Folgen der Entscheidung, die Söder letztlich getroffen hat, verheerend sein? Die Affäre Aiwanger dokumentiert, wie glimpflich man in Deutschland plötzlich mit der Verhöhnung der Opfer des Holocaust davonkommen kann. [….] An welchen Mann Söder da sein politisches Schicksal nun aufs Neue gebunden hat, wird am Sonntag in einem Festzelt im Münchner Osten deutlich. Kurz vor elf Uhr löst sich Hubert Aiwanger aus dem Knäuel der Kameras, Mikrofone und Journalisten. Er schreitet als ein Triumphator hinauf zum Rednerpult, umjubelt wie überall in diesen Tagen. [….] „Ich sage Ihnen voraus, Bayern wird weiter von CSU und Freien Wählern regiert. Die Grünen werden in der Opposition bleiben.“
Jubel brandet auf, denn in diesem Moment ist klar: Söder hält an Aiwanger fest.
Dann legt Aiwanger nach: Die Freien Wähler sollten geschwächt und er selbst „ertränkt“ werden. Die Berichterstattung über ihn sei ein „schmutziges Machwerk“, von dem sich viele noch distanzieren müssten. „Ich schaue nach vorne, mir geht es nicht um politische Abrechnungen, für so einen Käse habe ich überhaupt keine Zeit.“ [….]
Sofern es die populistischen Klimawandelleugner-Kräfte nicht schaffen werden, das endgültige Ende der Menschheit einzuläuten, werden sich zukünftige Studenten eines Tages mit der Bedeutung des bayerischen 03.09.2023, als Kipppunkt in die politische Katastrophe, beschäftigen. Söder, Chamberlain, Wagenknecht – sie werden einst als gefährliche Appeaser auf einer Stufe stehen.
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