Dienstag, 23. Juli 2019

Herr Meister


Ende 1986 hatte meine Mutter ihren Gärtner im Haus, der sich sehr über mich wunderte.

Ich war damals politisch sehr aktiv und wähnte mich in einer besonders apokalyptischen Woche.
In dem Jahr war Tschernobyl explodiert, man traute sich nicht Fenster zu öffnen oder Pilze zu essen. Hamburg hatte das erste mal SMOG-Alarm ausgelöst, ich kämpfte in einer Bürgerinitiative mit Unterstützung der Zeitschrift „Trendwende“ gegen die Volkszählung 1987, die George Orwell in den Schatten stellen sollte und nun sprach im Fernsehen der charismatische Willy Brandt von „Bhopal am Rhein“!
Die amerikanische Union Carbide hatte sich in Indien niedergelassen, um dort billiger und ohne die lästigen Schutzmaßnahmen Pestizide zu produzieren. 1984 traten einige Tonnen hochgiftiger Chlorverbindungen aus. Bis zu 25.000 Menschen starben sofort; weitere 500.000 wurden durch direkten Kontakt mit der Gaswolke verletzt und leiden bis heute unter den Folgen. Myriaden Menschen erblindeten und Ungezählte litten unter Hirnschäden, Lähmungen, Lungenödemen, Herz-, Magen-, Nieren-, Leberleiden und Unfruchtbarkeit. Babys wurde fehlgebildet geboren und die Dow Chemical, die 1994 die Union Carbide Corporation aufkaufte, weigert sich bis heute die verseuchten Böden zu sanieren. Produktionen in Billiglohnländern lohnt sich also wirklich.
Nur zwei Jahre später also rückte so eine Chemiekatastrophe ganz nah an uns heran. „Bhopal am Rhein“. Gemeint war damit die Baseler Sandoz-Katastrophe.
Am 01.11.1986 brannte eine gigantische Chemikalienlagerhalle ab. Riesige Mengen kontaminierten Löschwasser gelangten in den Rhein, darunter auch Herbizide des Nachbarunternehmens Ciba-Geigy; wie zum Beispiel 400 kg Atrazin.
Der gesamte Rhein färbte sich blutrot.

[…..] Die Giftwelle schob sich rheinabwärts: Sie löschte den gesamten Aalbestand auf einer Strecke von mehr als 400 Kilometern aus, tötete zahlreiche andere Fische und Lebewesen. Bilder von tausenden verendeten Aalen, die aus dem Rhein geborgen wurden, gingen um die Welt. Die Trinkwasserentnahme aus Deutschlands "Schicksalsfluss" wurde bis in die Niederlande für fast drei Wochen eingestellt. Es war eine der größten Umwelthavarien und löste damals, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, viele Ängste aus. […..]

Als Herr Meister, der Gärtner aus dem kleinen Vorgarten in unser Wohnzimmer trat, starren wir gerade auf weihnachtliche Bilder aus Rotterdam.

Inzwischen war die toxische Flut aus der Schweiz im Rhein-Maas-Delta angekommen, alle Fische starben, trieben stinkend an der Oberfläche und die Niederländer mühten sich ab die Kadaver abzuschöpfen.

[…..] Wenigstens 30 bis 40 Tonnen hochgiftiger Substanzen sickerten ins Flußwasser, wie viele es wirklich waren, wird sich nie rekonstruieren lassen. Rund 1200 Tonnen Chemikalien, darunter 900 Tonnen hochgiftiger Verbindungen, waren in der niedergebrannten Lagerhalle gestapelt - genug, um die Bevölkerung von ganz Europa umzubringen.
Mit 3,7 Stundenkilometer Fließgeschwindigkeit wanderte die 70 Kilometer lange Giftschleppe flußabwärts. Am sechsten Tag erreichte sie Bonn. Anfang letzter Woche diffundierten die Giftpartikel vor der niederländischen Rheinmündung in die Nordsee. Vorläufige Schadensbilanz für den Oberrhein: 150000 tote Aale, "riesige Mengen von toten Zandern, Barben und Barschen (Fischereisachverständiger Hartmut Kickhäfer), Vernichtung aller Wasserflöhe, das Absterben der Fliegenlarven zu 80 Prozent, der Wasserschnecken "in erheblichem Umfang" - Störung des ökologischen Gleichgewichts in diesem Flußabschnitt auf lange Zeit. […..]

Herr Meister hatte seine ganz eigene Meinung dazu: „Das gönne ich den Holländern!“
Wir mussten uns wohl verhört haben, starrten ihn ungläubig an.
Aber Herr Meister war überzeugt im Recht zu sein und präsentierte uns vollkommen unironisch seine Erklärung.
Seit 30 Jahren äßen seine Frau und er zu Weihnachten eine deutsche Gans. Dieses Jahr hätten sie erstmals eine Gans aus Holland gekauft und das Biest wäre ja dermaßen zäh gewesen!

In den folgenden Dekaden verwendete ich diese Begebenheit oft als Metapher für das Urteilsvermögen der Deutschen.
Herr Meister hatte das Wahlrecht und wählte. Ich kann das bis heute nicht.

Wenn CDU-CSU-SPD-Politiker ihren Anspruch als Volkspartei formulieren, betonen sie ein Gesamtangebot zu machen, nicht nur Partikularinteressen zu vertreten.

[…..] Die Volksparteien sind derzeit nicht in der Lage, der Gesellschaft Debatten aufzudrängen, eine Agenda zu setzen. Wenn aber die großen Parteien keine Debatte über das Wesentliche in einer Gesellschaft führen, also etwa über Wohlstandsverteilung, über Daseinsvorsorge und Ähnliches, dann machen andere ihre Themen stark. Das ist mancherorts – glücklicherweise – das sehr präsente Thema Klimaschutz, andernorts sind es Fragen von Migration und Sicherheit. In urba­nen Milieus Fragen des Lebensstils und der Offenheit. Das geht zu unseren Lasten, dabei hängt es eng mit unseren traditionellen Themen zusammen.
  Eine Regierungspartei ist in einem Widerspruch gefangen. Sie kann nicht wie die Grünen den Zeitgeist aufgreifen und neue politische Forderungen stellen, ohne sofort damit konfrontiert zu werden, was sie selbst zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Uns werden Gesetze und Entwicklungen der vergangenen Jahre entgegengehalten, in denen wir mit in der Regierung saßen. […..]
(Kevin Kühnert, SZ-Magazin, 19.07.2019)

[……] Es scheint derzeit einen Trend zu geben, Parteien zu wählen, die sich für ein Thema engagieren. Mit den Grünen wird das Thema Klimaschutz verbunden. Das Vollsortiment, das die Volksparteien anbieten, scheint bei Jungwählern nicht mehr attraktiv zu sein. Das ist ein Problem – nicht nur für die Volksparteien, sondern auch für die Gesellschaft.
[…..]Demokratie ist dann gut, wenn man nicht nur das Spartenprogramm fährt, sondern das Vollprogramm wie Union und SPD. […..]
(Philipp Amthor, SZ-Magazin, 19.07.2019)

Was die beiden drögen Zukunftshoffnungen ihrer Parteien dort sagen wollen erscheint mir auf bizarre Weise falsch und richtig zugleich.

Einthemenparteien halte ich auch für sehr problematisch.
Schließlich hängt alles mit allem zusammen und gerade Volksvertreter sollten daher Allrounder sein, die das Gesamtbild überschauen, Kompromisse machen können und anerkennen, daß andere auch berechtigte Interessen haben.
Idealerweise werden die Allround-Politiker mit einem Vertrauensvorschuss ausgestattet, dem sie sich würdig erweisen.
Aber wie soll das funktionieren, wenn so viele Wähler wie Herr Meister denken?

Es muss doch nur ein afghanisch-stämmiger Taxifahrer mal einen schlechten Tag haben, sich verfahren und schon wettert sein Fahrgast gegen „die“ Ausländer, wählt das nächste mal AfD.

Der kleine Ärger im Alltag, das Geschehen auf dem eigenen Tellerrand, weit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der „großen Politik“ prägt oft mehr das politische Handeln als alle wohlüberlegten Zukunftspläne der großen Parteien.

Ausgefeilte Steuer- und Rente-Konzepte sind möglicherweise irrelevant, wenn sich ein Wähler jeden Tag über miserable kommunale Verkehrsplanung ärgert, weil eine Baustelle vor der Tür ist.
Ich höre in Hamburg heute noch in das Geschimpfe über „die verdammte Verkehrspolitik von Herrn Scholz“ – auch wenn ich schon ein Dutzend mal erklärt habe, daß der gute Mann schon seit März 2018 nicht mehr Hamburger Bürgermeister ist und auch schon vorher garantiert nicht persönlich bestimmte wo, wann welche Baustelle eingerichtet wird, weil das Sache der Bezirksregierungen ist.

Als R2G-Fan muss ich leider sagen, daß die verkehrspolitischen Vorstellung der Grünen in meinem Bezirk Hamburg-Mitte (Fläche: 142,2 km², Einwohner: 302.667) zuverlässig solche enormen Schnapsideen sind, daß selbst ich – und ich fasse es nicht das zu schreiben – gelegentlich Verständnis dafür habe nun mal die CDU zu wählen.
Zuverlässig wird jede einigermaßen funktionierende Kreuzung und Durchgangsstraße so umgebaut, daß alle Verkehrsteilnehmer maximal verärgert sind.
Monatelang werden Wohnstraßen gesperrt, um am Ende mit weniger Bäumen, aber trotzdem auch weniger Platz wieder eröffnet zu werden.

In meiner Straße wurden letztes Jahr abwechselnd alle 20 Meter links und rechts Schikanen eingebaut, die zu Einspurigkeit und Staus führen. Statt des zuvor ruhig und reibungslos funktionierenden Verkehrs, haben wir nun Hubkonzerte.
Gegenwärtig wird die Parallelstraße mit ähnlichen Schikanen und drastischen Fahrbahnverengungen versehen. Während der Bauarbeiten wird der Verkehr durch meine Straße umgeleitet, die daraufhin so total verstopfte, daß alle Schikanen und Verkehrsinseln aus dem letzten Jahr wieder abgebaut wurden.

Die Sendung Extra3 berichtet regelmäßig in der Rubrik „der reale Irrsinn“ über derartige Bezirkspossen.




Ich befürchte, die “große Politik” unterschätzt wie sehr sich die Herr Meisters über so etwas ärgern.

Die wichtigste Verkehrsader meiner Umgebung ist die Sierichstraße.

[…..]  In den 1950er Jahren stießen Pläne, die vielbefahrene Straße zu verbreitern, nicht nur bei den Anwohnern auf Widerstand; ihr hätten auch die Eichen geopfert werden müssen, die den Straßenzug auf der gesamten Länge säumen. Der spätere Leitende Baudirektor Werner Hoffmann schlug als Alternative „eine in amerikanischen Großstädten geübte Praxis“ vor. „Hier machte man bei wesentlich dichterem Verkehr gute Erfahrungen mit einer wechselnden Verkehrsführung – morgens hin und abends her – im gleichen Straßenzug jeweils als Einbahnstraße entsprechend dem Verkehrserfordernis.“
Nach einem halbjährigen Probelauf wechselt die Fahrtrichtung auf der Sierichstraße als einer der wenigen Straßen in Europa seither tageszeitabhängig, was zweimal täglich erfolgt. Die Straße wird täglich von 4 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags zur unechten Einbahnstraße stadteinwärts. Von 12 Uhr mittags bis 4 Uhr morgens darf auf ihr nur stadtauswärts gefahren werden. Die Verkehrsregelung passt sich damit den Kfz-Verkehrsströmen und der Lastrichtung des Berufsverkehrs an. Aufgrund dieser Einzigartigkeit gilt die Sierichstraße als „Hamburgs bekannteste Einbahnstraße“. [….]
(Wiki)

Jeder Bewohner des Bezirks weiß wie dringend notwendig dieser Richtungswechsel ist, weil die Sierichstraße zur Rushhour die einzig verfügbare Verkehrsachse dieser Richtung ist.

Die Grünen wollen das nun unbedingt abschaffen und den Verkehr zum absoluten Stillstand bringen.

Das ist eine kleine, kommunale Entscheidung, die bundes- und weltpolitisch selbstverständlich gar keine Rolle spielt, aber ich prophezeie, daß so ein Irrsinn Stimmen kostet und womöglich zu entscheidenden Verschiebungen um Bundestagswahldistrikt führt.
Wenn erstmals ein CDUler direkt gewählt wird, liegt das an solchen Petitessen.
Denn viele Wähler heißen Meister.

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