Die alte Weisheit, nach der im Krieg zuerst die Wahrheit stirbt, trifft auch auf den Ukrainekrieg 2022 zu.
Aber was bedeutet das schon im postfaktischen Zeitalter? Boris Johnson war schon vor seiner politischen Laufbahn als Journalist, von 1999 bis 2005 war er Herausgeber der konservativen Zeitschrift The Spectator, bekannt dafür zu lügen und frei erfundene Geschichten zu drucken. Sogar noch 2015/2016 dachte ich, fortwährend zu lügen und das auch noch so plump, daß er permanent der Lüge überführt wurde, müsste Donald Trump so schwer schaden, um die Wahl zu verlieren. Inzwischen haben die konservativen Populisten alle gelernt, wie effektiv und einfach man Wahlkampf machen kann, wenn man die Fakten ignoriert und stattdessen, das sagt, was den größten Effekt erzielt.
Johnson und Trump, Netanjahu und Bolsonaro, Erdoğan und Putin logen, bzw lügen als amtierende Regierungschefs so selbstverständlich, daß die internationale Gemeinschaft auch hochoffizielle Regierungsdokumente dieser Herren nicht mehr ernst nimmt.
Wie also soll man akkurate Berichte über den Frontverlauf in der Ukraine, über die Truppenmotivation, über Verluste und eingesetzte Waffen erfahren? Angreifer und Verteidiger beschönigen die eigenen Verluste und übertreiben die Zahl der gefallenen Gegner. Ich meine, auch bei westlichen Journalisten zu beobachten, daß die Zahlen der russischen Gefallenen umso größer sind, je mehr der Autor Putin verachtet. Schließlich kann man die Toten nicht wie Stimmzettel der US-Präsidentschaftswahl 2020 in Arizona genau nachzählen. Als Ausweg bleibt seriösen Betrachtern nur, einzuschätzen, wie plausibel verschiedene Zahlen sind.
Allgemein gilt die Zustimmung zu Präsident Wolodimir Selenskij als überwältigend. Mindestens 80% der Ukrainer unterstützen demnach den Kurs ihrer Regierung, sich mit allen Mitteln zu wehren und lieber Myriaden Tote in Kauf zu nehmen, bevor man russische Provinz wird. 80% halte ich für gut möglich. Bei einem Angriff von außen, versammeln sich die Bürger immer hinter ihrer eigenen Führung.
Aber um ganz ehrlich zu sein, wissen wir natürlich nicht, wie groß Selenskijs Ansehen innerhalb der Ukraine ist, weil keine repräsentativen Umfragen durchgeführt werden können und auf der Straße befragte Ukrainer aus verständlichen Gründen nicht ihrem Präsidenten vor der Auslandspresse in den Rücken fallen möchten.
Wie viele Russen, wie viele Ukrainer und wie viele Gemischte (in der Ostukraine hat fast jeder russische UND Ukrainische Verwandte) im Krieg niedergemetzelt wurden, wissen wir auch nicht genau. Wir kennen nur nicht überprüfbare Ukrainische Zahlen über russische Verluste.
[….] Soldaten: 71.820 (+620 zum Vortag)
Flugzeuge: 275 (+1)
Hubschrauber: 253 (+1)
Panzer: 2686 (+14)
Gepanzerte Kampffahrzeuge: 5485 (+32)
Artilleriesysteme: 1728 (+4)
Luftabwehrsysteme: 197 (+0)
Mehrfachraketenwerfersysteme: 383 (+0)
Autos und andere Fahrzeuge: 4128 (+8)
Schiffe: 16 (+0)
Unbemannte Kampfdrohnen: 1413 (+1)
Der Kreml selbst macht nur sehr wenig Angaben zu eigenen Verlusten. [….]
(Frankfurter Rundschau, 31.10.2022)
Der Tagesspiegel orakelt diese Woche gar, Russland verliere jeden Tag bis zu 1.000 Soldaten. Hinzu kommen 400.000 Covid19-Tote, die Russland bisher zu beklagen hat.
Für einen Präsidenten, der angeblich an Großrussland glaubt und sein Land wieder zur unangefochtenen Supermacht dopen will, sind das keine schönen Zahlen.
Aber zum Glück steht Putin sein bester und frommster Freund Patriarch Kyrill bei. Der Papst der 150 Millionen russisch-orthodoxen Christen unterstützt den Krieg voll und ganz, weil Christen traditionell eher das ungeborene und jenseitige Leben interessiert.
Und natürlich, weil der Angriff auf die Ukrainer notwendig ist, um die Schwulerei des Westens zu bekämpfen.
(….) Ich finde den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine schlecht und falsch. Wladimir Putin und viele Russen, finden diesen Krieg immerhin richtig, einige sogar gut und richtig.
Zu der Fraktion gehört Patriarch Kyrill I., (bürgerlich Wladimir Gundjajew), der Herr über 150 Millionen russisch-orthodoxe Christen. Quasi der Papst der Rus.
Kyrill mag vor allem Reichtum, teure Uhren, Juwelen und seine Privilegien. Deswegen liebt und unterstützt er seinen Namensvetter Wladimir Putin. Die beiden Wladimirs sind ein Herz und eine Seele. Und den Krieg gegen die Ukraine finden beide Wladimirs einfach geil. Während sich der kleinere, jüngere und glattrasierte Wladimir darum bemüht, rational zu erscheinen und Gründe für den Krieg vorgibt, macht es sich der fünf Jahre ältere Wladimir mit dem Rauschebart und dem besonders albernen psychedelischen Hut einfacher: Er hasst einfach alle Ukrainer, nennt es eine „heilige Pflicht“ der Russen, sich freiwillig als Soldaten gegen die Ukraine zu melden, weil Selenskyjs Landsleute bekanntlich alle Schwuchteln wären und die armen frommen (heterosexuellen!) Russen homopervertieren wollten. Eine völlig einleuchtende Darstellung also, die erklärt, weshalb Kyrill I. den Krieg gut und richtig findet. (….)
Nun sind also 70.000 oder 80.000 russische Soldaten zwar mausetot, ABER immerhin nicht schwul! Für den frommen Kyrill schon ein Sieg.
Und selbst, wenn sie jemals rumgeschwult hätten, wären sie nun durch ihren heldenhaften Soldatentot entschwult, also von ihren Sünden reingewaschen.
[….] Patriarch: Gefallenen Soldaten werden Sünden erlassen
Russlands orthodoxe Kirche verspricht Soldaten die Vergebung all ihrer Sünden, wenn sie im Krieg ihr Leben opfern. Patriarch Kyrill verglich in einem Gottesdienst am Sonntag das Sterben „bei der Erfüllung der militärischen Pflichten“ damit, dass Gott seinen eigenen Sohn Jesus geopfert habe. [….] Kyrill betonte zugleich, die Kirche wisse, dass diejenigen, die bei der Erfüllung ihrer militärischen Pflichten sterben, sich für andere aufopfern. „Und deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden abwäscht, die ein Mensch begangen hat“, so der Patriarch. [….]
Deo Gracias! Muss das eine Freude und Erleichterung für die Eltern, Geschwister, Ehepartner, Kinder der toten Russen sein: Hurra, sie sind von Sünden reingewaschen, ähnlich wie Jesus!
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