Sonntag, 20. November 2016

Muss man lesen



Wieso ich überregionale, teure Zeitungen lese?

Wegen der Edelfedern.

Was ist eine Edelfeder?

Zum Beispiel Evelyn Roll aus Lüdenscheid.

Roll, 64, studierte Germanistik und Politische Wissenschaften, Journalistik und Öffentliches Recht und arbeitet inzwischen seit über 30 Jahren in verschiedenen Positionen bei der Süddeutschen Zeitung.
Evelyn Roll erstellte eine interessante ZDF-Dokumentation über Angela Merkel, verfasst Bücher über Golf, aber ich adoriere, verehre und liebe sie für ihre ausführlichen gesellschaftlichen Reportagen, die meines Erachtens zu den besten journalistischen Texten der Gegenwart gehören.

Glücklicherweise habe ich Rolls geniale dreiteilige Reportage über den „Patienten Deutschland“ aus dem Jahr 2004 (SZ Nr. 211/2004) aufgehoben und inzwischen immer mal wieder gelesen.
Dabei handelt es sich um die beste Analyse der "German Disease", also das angstgetriebene Wesen der Deutschen, welches zehn Jahre später maßgeblich für das Entstehen der PEGIDA-Pest werden sollte.

Faszinierend an der nationalen Angststörung ist die Kombination von Alarmismus und Analyse. Wir wissen ziemlich genau was mit Deutschland nicht stimmt, sind aber ganz und gar unfähig irgendetwas daran zu ändern, entsprechende Politiker zu wählen, unser Verhalten umzustellen.

[…..] Angst. Angst. Angst. 1281 Ratgeber- Titel, mit denen man sich in alle denkbaren Komplikationen des Kinderkriegens einarbeiten kann, wirft Amazon-Deutschland beim Stichwort "Geburt" aus. In deutschen Mutterpässen werden 70 Prozent aller Schwangeren einer Risikogruppe zugeordnet. […..]
Paul Nolte, Frank Schirrmacher oder auch Gabor Steingart, der Leiter des Berliner Spiegel-Büros, der mit "Deutschland. Der Abstieg eines Superstars" einen weiteren Bestseller über den Patienten Deutschland verfasst hat, beschreiben ja nichts wirklich Neues. Alles, was man über die Renten, die Arbeitslosigkeit, die Grenzen des Wachstums, die Unbeweglichkeit der Politiker, die Selbstblockade des Föderalismus, den biologischen Niedergang der deutschstämmigen Bevölkerung wissen kann, stand schon vor 20 Jahren in den Büchern und Aufsätzen, die Kurt Biedenkopf, Wilhelm Hennis, Burkart Lutz, Klaus von Dohnanyi, Peter Glotz, Heiner Geißler und Meinhard Miegel geschrieben haben. Der Abstand zwischen Erkenntnis und Umsetzung aber ist in diesen 25 Jahren immer gleich geblieben.
Dafür ist das Krisenpalaver zum Grundrauschen dieser TV-Demokratie geworden. "Lässt die Regierung die Deutsche Wirtschaft im Stich?" - "Steht der Osten auf der Kippe?"- "Kommt jetzt die ganz große Krise?" Das sind nicht die Talkshowtitel der kommenden Woche. Sondern die aus den Januartagen des Jahres 2001.
Der Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, Meinhard Miegel zum Beispiel, ein soignierter Herr, den wir bei Borchardts treffen, hat 1979 zusammen mit Kurt Biedenkopf "Die programmierte Krise" veröffentlicht. Da steht eigentlich schon alles drin. […..]
(Evelyn Roll, 2004)

Viele der Warner, Mahner und Profi-Angst-Analysten, die Roll damals erwähnte, sind inzwischen tot: Schirrmacher, Mißfelder, Glotz.
Der Dauerkrisenmodus Deutschlands lebt weiter.

An diesem Wochenende nun nimmt sich Frau Roll des Themas an, das mich in den letzten Monaten am meisten beschäftigte:
Die inzestuösen Internet-Informationsblasen, in denen alle nur das gleiche glauben und sich so immer mehr radikalisieren. Sie analysiert die destruktiven Algorithmen der sozialen Medien, listet selbstkritisch das Versagen der „Alt-Medien“ auf.
Vieles von dem habe ich in diesem Blog auch schon angesprochen, aber selbstverständlich gelingt Roll das besser und fundierter.

[…..] Eine Trump-Wählerin erzählte der Washington Post, wie "weit überdurchschnittlich" sie sich für Politik interessiert: Den ganzen Tag über informiert sie sich im Internet, außerdem schaut sie viele Stunden Cable News. Was sie deswegen, anders als weniger gut Informierte, sicher weiß, ist: Barack Obama ist ein schwuler Muslim aus Kenia. Michelle Obama war vor ihrer Geschlechtsumwandlung ein Mann namens Michael. Beide Obama-Töchter wurden entführt und zwangsadoptiert. Schließlich gibt es kein einziges Foto, das Michelle Obama schwanger zeigt, was ja auch klar ist, weil sie doch ein Mann war. Und Hillary Clinton hat etliche Männer von Prostituierten umbringen lassen, auch den konservativen Supreme-Court-Richter Antonin Scalia.
Vierundvierzig Prozent der Amerikaner konsumieren Nachrichten oder das, was sie dafür halten, nur noch auf Facebook. Sie wissen deswegen, dass Donald Trump sie niemals belügen wird, dass der Klimawandel nichts als eine üble Erfindung ist, die Evolution sowieso. Und demnächst ist die Erde dann eine Scheibe.
Viele Menschen, auch in Europa, wissen gar nicht, dass der Chefredakteur ihrer Nachrichten-Welt im Netz ein Algorithmus ist, der die zu ihren bisherigen Klick-Aktionen und Interessen jeweils passgenaue Realität für sie auswählt. Wer sich zum Beispiel ein bisschen durch die Videos und "wissenschaftlichen Beweise" klickt für die These, dass die Erde eine Scheibe ist, bekommt tagelang nur noch so ein Zeug. [….]

Roll regt sich nicht wie ich fürchterlich darüber auf, daß Fakten weitgehend irrelevant geworden sind, daß Rechts-Demagogen mit reinen Lügen ausgesprochen erfolgreich sind, sondern sie macht Vorschläge wie dies in Zukunft  verhindert werden könnte.

[….] Vielleicht müssen wir Journalisten neu lernen, dass man einen Text durchaus auch mal beginnen kann mit den drei Wörtern: Das ist falsch. Wenn einer den Klimawandel oder die Evolution leugnet oder mit Lügen gegen Minderheiten hetzt, darf man darüber nicht nur berichten, sondern muss dazu senden oder schreiben: Das ist eine Erfindung.
Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten. Es wird überlebenswichtig sein für die Demokratie, eine Lüge wieder eine Lüge zu nennen. Wenn jemand behauptet, die Erde ist eine Scheibe, darf die Schlagzeile eben nicht sein: "Streit über die Form der Erde".
Wenn so schamlos und kalkuliert gelogen wird, könnte man auch über die beliebten "Er-sagt-Sie-sagt"-Formate im Fernsehen noch einmal nachdenken. Es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, zu allem ausgewogen zwei Seiten zu präsentieren. Die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte. Lüge und Wahrheit, Fälschung und Original, Bullshit und Information, Sachaussagen und Beleidigungen dürfen nicht gleich behandelt werden. Nachrichtliche und kommentierende Formen, Unterhaltung und Ernsthaftes müssen in gefährlichen Zeiten wieder deutlich unterscheidbar gemacht, Quellen sorgfältig benannt werden. "Das Netz sagt" ist das Gegenteil einer Quellenangabe.
Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung - aber nicht auf eigene Fakten
Und dann, und natürlich und überhaupt, die Begrifflichkeit. Ein Politiker, der lügt oder Falsches behauptet, ist kein Populist. Er ist ein Lügner. Es gibt auch keine Altparteien, keine Traditionsmedien, keine liberale Umerziehungselite, keine Diktatur der Toleranz, was bitte sollte das alles sein? [….]

Meine Bitte an alle:
Rolls Artikel in Gänze lesen!