Lange Zeit nahm man an, der Charakter eines Menschen forme sich in seinen Teenager- und frühen Twen-Jahren endgültig aus. Dieser Charakter sei dann gefestigt und präge den Menschen sein Leben lang.
Das stimmt aber nicht; vielmehr können sich Charaktereigenschaften das ganze Leben herausbilden, verstärken, oder verkümmern.
Im besten Fall, wird jemand im Laufe seines Lebens bescheidener, charmanter, ehrlicher, höflicher, kommunikativer, großzügiger, umsichtiger oder respektvoller. Häufiger sind leider charakterliche Veränderungen in die negative Richtung. Menschen werden, arroganter, cholerischer, sturer, gieriger, fauler, eingebildeter, paranoider, rücksichtloser, herablassender, rechthaberischer, unmoralischer, wichtigtuerischer oder gemeiner.
Die Corona-Pandemie war einer dieser Lackmustests, bei denen sich zeigte, wer so denkfaul und rücksichtlos geworden ist, daß man tatsächlich den Kontakt abbrechen musste, wenn man zuvor mit ihm befreundet war. Oder dessen öffentliche Äußerungen man zukünftig ignorieren konnte, wenn es ein zuvor geschätzter Politiker war.
Journalisten, die man mag und respektiert, können selbstverständlich grundsätzlich andere Ansichten, als man selbst vertreten, oder aber bei bestimmten Fragen andere Antworten geben.
Es ist aber ein Unterschied, ob man auf denselben Fakten
basierend, verschiedene Schlüsse zieht.
Oder ob jemand beginnt, grundsätzlich Teile der Realität zu negieren, sich auf
Gefühle oder Verschwörungstheorien stützt und sachliche Argumente als
Aggression umdeutet.
Religiotie ist ein klassisches Beispiel für so ein Verhalten. Weist man einen Gläubigen und Missionierenden auf offensichtliche Paradoxien hin, fühlt er sich angegriffen, beklagt sich, seine Religion werde nicht genügend geschützt.
Willkommen in der Genitalverstümmelungsdebatte. Natürlich lässt es sich nicht mit Kinderschutz und Humanismus vereinbaren, wenn man Säuglinge an Penis oder Schamlippen verstümmelt und dabei auch noch Todesfälle riskiert. Sagt man das aber jemanden, der genau dafür eintritt, sich aber gleichzeitig als Humanist versteht – Volker Beck oder Heribert Prantl zum Beispiel – erntet man Arroganz und Aggressivität.
Mann kann nicht mit „Impfgegnern“, Reichsbürgern, Election-Deniern, Chemtrailern, Flatearthern, Beschneidungsfans, Antisemiten, Religioten, Homöopathen, Trump-Fans, Kreationisten oder Reptiloiden-Gläubigen in Freundschaft koexistieren, weil sie eben nicht nur eine andere Meinung vertreten, sondern aufgrund negativer Charaktereigenschaften, die Welt der Fakten verlassen haben.
Die Sache wird so kompliziert, weil diese Gaga-Ansichten zwar oft geballt auftreten, aber durchaus auch als Inselverarmung existieren können.
Vernünftige normale Menschen, die auf Globuli schwören, Naturwissenschaftler, die an Gott glauben, demokratische Politiker, die dafür eintreten, kleinen Jungs ein Stück vom Penis abzuschneiden.
Heribert Prantl hat sich ganz offensichtlich charakterlich zum Negativen verändert.
[….] Prof. Dr. Heribert Prantl (*1953), Jurist (Promotion Magna Cum Laude), Staatsanwalt, Richter, Autor, Journalist, Publizist war ab 1988 SZ-Redakteur, von 1995 bis 2017 Chef des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, 2018 bis 2019 Leiter des Ressorts Meinung und von 2011 bis 2019 war er Mitglied der Chefredaktion.
Das Abo habe ich nie bereut und schätze inzwischen viele andere SZ-Autoren sehr. Aber da Prantl für mich der erste Anknüpfungspunkt war, achte ich immer noch besonders auf seine Kolumnen am Wochenende und zu den Christlichen Feiertagen.
Umso mehr schmerzt es mich natürlich, bei all der Grundsympathie zu beobachten, daß Heribert Prantl offenbar zunehmend an „Religiotie“ leidet
[….] Der Jurist und Journalist Prantl war aber immer ein liberaler Mann, dessen Ansichten ich stets respektierte.
Umso geschockter war ich, als Prantl 2012 zum inzwischen berüchtigten "Kölner Beschneidungsurteil" den Juristen und Humanisten in sich über Bord warf und sich der Religiot in ihm Bahn brach. Er plädierte deutlich dafür, Kindern und Jugendlichen, medizinisch unsinnige schmerzhafte Genitalverstümmelungen antun zu dürfen.
Zur Ausgießung des Heiligen Geistes, beschäftigt sich Heribert Prantl (es war so sicher wie das Amen in der Kirche) natürlich auch mit Pfingsten und stellt (ebenso sicher vorhersehbar) fest, wie wichtig dieses christliche Fest ist.
Garniert; auch das ist in jedem seiner Texte zu katholischen Riten so; mit einer ordentlich Portion Larmoyanz im Subtext.
„Ach, so ein Jammer, daß der Glaube nachläßt. Wäre es doch bloß wie früher in meiner Kindheit.“
Diese Leier kann ich inzwischen schon singen, lese die Kolumne aber trotzdem, weil ich weiß, wie gebildet Prantl ist und warte gespannt, welche historische Begebenheit oder welche literarische Vorlage er wohl diesmal verwendet, um zu dem erwartbaren Schluß zu kommen, daß es mehr Religion und mehr Rituale brauche. [….]
(Leserbrief an die SZ, 27.05.2023)
Auf diesen Leserbrief bekam ich tatsächlich eine persönliche Antwort von Prof. Prantl, die derartig arrogant und blamabel für ihn war, daß ich sie nicht veröffentlichen kann.
Ich war wirklich traurig und dachte, ihn endgültig als ernstzunehmenden Journalisten verloren zu haben.
Prantl scheint tatsächlich mehrere Inselverarmungen aufzuweisen, aber dennoch in vieler Hinsicht bei scharfen Verstand zu bleiben.
Er schreibt immer wieder Kolumnen, die ich sehr begrüße.
In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung sogar über ein persönliches Herzensthema, nämlich einem Vorwurf, dem ich mich kontinuierlich ausgesetzt sehe: Der Wählerbeschimpfung.
[….] Es gibt ein Verbot in der Bundesrepublik Deutschland, das nirgendwo niedergeschrieben ist, an das sich aber fast alle halten. Es handelt sich um das Verbot der sogenannten Wählerbeschimpfung. Als Wählerbeschimpfung gilt es dabei schon, wenn man Wähler für ihre Wahlentscheidung kritisiert; das ist, angeblich, die Todsünde der Demokratie. Wähler haben nämlich, das ist der Gehalt des Kritikverbots, immer recht - auch dann, wenn sie rechtsextrem wählen. Wenn sie eine in weiten Teilen neonazistische Partei wie die AfD wählen, wenn sie dieser Partei zu Einfluss und zu Macht verhelfen, wenn sie so dafür sorgen, dass es eine institutionelle Wieder-Gewöhnung an braunes Gedankengut gibt - dann sind daran angeblich alle anderen schuld, nur nicht die Wählerinnen und Wähler. Das aber ist falsch.
Die Schuld an der Wähler-Entscheidung für eine braune Partei wird auf Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck abgeladen, auf die Regierungsampel also und auf ihre andauernden Streitereien; sie wird auch auf Friedrich Merz abgeladen und auf seine täppische Oppositionspolitik. Die Schuld am Aufleben des Neonazismus, der sich in der AfD manifestiert, wird allen anderen und allem anderen zugeschoben - den regierenden Politikern, den Politikern der größten Oppositionspartei, dem Ukraine-Krieg, der Corona-Politik, der Asylpolitik, der Klimapolitik, der Bildungspolitik. Es wird so getan, als gäbe es für das braune Kreuz eine eingebaute Entschuldigung. Es gibt sie nicht. Es gibt genügend Gründe dafür, mit der herrschenden Politik unzufrieden, es gibt auch Gründe, auf sie zornig zu sein. Es gibt aber keinen einzigen Grund dafür, deswegen eine nationalistische und neonazistische Partei zu wählen, eine Partei, die so tut, als wären die Verbrechen der Nazis ein "Vogelschiss". Die rechtsstaatliche Demokratie hat Fehler, und die demokratischen Parteien machen Fehler. Aber: Der rassistische Nationalismus, wie er sich in der AfD ausgebreitet hat, ist ein einziger furchtbarer Fehler. Wer auf den Wahlzettel sein Kreuz bei der AfD malt, der erteilt damit nicht einfach nur den anderen Parteien einen Denkzettel; er ermächtigt eine Partei, die die Menschenwürde verachtet, die giftige und gemeine Reden führt, in der das Nazi-Denken zu Hause ist und in der die NS-Verbrechen verharmlost werden. Das darf man kritisieren, das muss man kritisieren. [….]
Recht hat er, der Prantl!
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