Montag, 8. Dezember 2014

Überparteilichkeit

Es ist doch albern in einem Konflikt zwischen Nationen Position zu beziehen.
Man kann nicht für „die Israelis“ oder „die Palästinenser“ sein.
Man kann nicht für „die Russen“ oder „die Ukrainer“ sein.
Ein ganzes Volk ist a priori heterogen; daher verbietet es sich mit maximaler Pauschalisierung alle Individuen der einen Seite zu dämonisieren.
Etwas anders war das in den klassischen imperialen und kolonialen Angriffskriegen. Das weltweit gewalttätigste und destruktivste Volk waren sicherlich die europäischen weißen Christen, die in alle anderen Kontinente einfielen, um Genozide, Versklavungen und systematisch Ausbeutung zu betreiben.
Vor tausend Jahren hätte ich sicher Partei für die Muslime in Jerusalem bezogen, als die christlichen Kreuzzüge tobten. Vor fünfhundert Jahren hätte ich sicher Partei für die indigenen Völker Amerikas bezogen, als die christlichen Conquistadores einfielen.
Vor hundert Jahren hätte ich sicher Partei für die Philippinen ergriffen, als die Kolonialmacht USA rund 1 Million Filipinos (20 % der damaligen Bevölkerung) umbrachte.
Und vor 70 Jahren hätte ich natürlich für die Russen gehofft, als Hitlers Aktion Reinhard begann, in deren Folge deutsche Soldaten mehr als 20 Millionen Sowjetbürger töteten.
Vietnam war natürlich auch moralisch eindeutig.

In modernen Konflikten ist es aber mit der Schuldzuweisung schwierig, weil die Interessenlage zu komplex ist.
Die Ukraine und Russland haben sich nicht nur deswegen in den Haaren, weil Herr Putin sich schützend vor die von Kiewer Faschisten bedrohten Minderheiten stellt. Es liegt auch nicht nur daran, daß sich freundliche demokratische Ukrainer gegen den aggressiv-landraubenden Russen-Zar wehren.
Die Wahrheit liegt noch nicht mal nur dazwischen, sondern ist vieldimensionaler.
20 Jahre nahm der Westen keine Rücksicht auf Russland. Die Krim war tatsächlich die längste Zeit ihrer Geschichte russisch und ist bis heute überwiegend russisch bevölkert. Umgekehrt blickt die Ukraine zu Recht skeptisch auf die ökonomische Übermacht der Russen. Andererseits wurde tatsächlich im Januar dieses Jahres ein ziemliche rechtmäßig gewählte Werchowna Rada ebenso wie die rechtmäßige Regierung unter Ministerpräsident Mykola Asarow mit westlicher Unterstützung weggeputscht und dann von einer nicht legitimierten Regierung, der mehrere Faschisten angehörten, ersetzt.
Und was gegenwärtig militärisch in der Ostukraine genau passiert, weiß kein Mensch.

Im „heiligen Land“ kommt erschwerend noch die Religion hinzu. Da prügelt man seit Dekaden mit solcher Verve aufeinander ein, daß es einfach ist Position für eine Partei zu beziehen, weil man unendlich viele Grausamkeiten der Anderen aufzählen kann.

Manchmal scheint es leicht Partei für den Underdog zu beziehen. Über viele Jahre war es unbestrittener westlicher Konsens im Iran-Irakkrieg auf der Seite Saddam Husseins zu stehen. Das war so klar, daß die USA Saddam mit Waffen und Zielkoordinaten versorgte.
Ebenfalls um 1980 ging es mit einer scheinbar ebenso eindeutigen Gut/Böse-Situation in Afghanistan los. Voller Sympathie drückte der Westen Osama bin Laden und den Mudschaheddin die Daumen. Es sollte nicht so lange dauern, bis sich die Sympathien in völlige Antipathie verkehrte, bis Saddam und Osama zur Inkarnation des Bösen hochstilisiert wurden.

Ich meine, daß die Nordafrikanischen und Nahöstlichen Diktatoren bald anders gesehen werden.
Der Westen hatte lange mit geradezu grotesk absolutistischen Typen wie Gaddafi, Präsident Ben Ali und Mubarak oder Assad zusammengearbeitet.
Die größten Unterstützer dieser Diktatoren waren übrigens die christlichen Minderheiten; die es beispielsweise im Irak so gut hatten, daß der Christ Azis sogar Saddams Stellvertreter wurde.
Dann fanden wir, der Westen, all die eben noch hofierten Staatschefs auf einmal ganz doof und erfreuten uns an demokratischen Entwicklungen. Nun waren Ben Ali, Assad und Mubarak plötzlich bähbäh. Wie es in diesen Ländern heute ohne eine harte diktatorische Zentralmacht aussieht, kann man daran ausmachen, daß die rund 20 Millionen orientalischen Christen eigentlich nur noch die Auswahl zwischen sofort geköpft werden und Flucht haben.

„Die Libyer“ oder „die Ägypter“, die allesamt nach deutschem Vorbild eine total liebe, pluralistisch-tolerante Demokratie aufbauen wollten/sollten, sind in der Praxis irgendwie ungemütlich.

Es ist mir nach wie vor ein Rätsel wieso nicht vorher die Alternativen bedacht wurden. Daß Länder wie der Irak oder Libyen ethnisch extrem heterogen sind, ist doch für niemanden überraschend. Außer für George Bush womöglich. Ihm hatte ja niemand gesagt, daß es zwei verschiedene Sorten des Islam gibt.

Umso erstaunlicher, daß die westeuropäische Presse wieder bereitwillig ein extrem simplifiziertes Schwarzweiß-Bild im Ukrainekonflikt zeichnet.
Im Westen die guten, demokratisch unterstützenswerten Demokraten, die alle altruistisch veranlagt Gedichte lesen und nach Rosenwasser duften.
Im Osten hingegen der böse, großmannssüchtige Russe, der gerne Schwule verprügelt und Putin vergöttert. Dabei werden die Begriffe „Putin“; „Kreml“ und „Russland“ synonym benutzt, als ob es gar keine andersdenkenden Russen gäbe.
Dabei ist längst eine Post-Ostwestkonfliktische Generation nachgewachsen.
Und selbst die läßt sich beim besten Willen nicht über einen Kamm scheren.
In einem sehr bemerkenswerten Essay führte das die in Moskau lebende Kaukasierin Alissa Ganijewa (29) letzte Wochen in der SZ aus.

Die postsowjetische Generation in Russland lässt sich schwer auf einen Nenner bringen. In unserem Land wechselten sich die Mikro-Epochen so oft ab, dass die Abstände zwischen den Generationen von den soziologisch üblichen zwanzig Jahren auf zehn schrumpften, wenn nicht sogar sieben bis acht. Ein Mensch, der beim Zusammenbruch der UdSSR gerade die Schule abschloss, denkt ganz anders als einer, der damals gerade in die Schule kam. Und was soll man erst über die 1990er-Jahrgänge sagen!
[….]    Deswegen gibt es unter den 30-Jährigen naturgemäß viele Menschen, die sich irgendwie, vage, mit der sowjetischen Vergangenheit identifizieren. Für viele gilt die Aufmerksamkeit der äußeren Hülle: In der Mode herrscht ein Retrotrend mit T-Shirts, Clubs und Supermärkten mit dem Schriftzug "UdSSR".
Die Nachfrage nach Sowjet-Chic wurde auch von oben befördert - zuerst durch die Rückkehr zur Melodie der sowjetischen Nationalhymne im Jahr 2000, dann über politische Jugendbewegungen wie "Die Unsrigen" oder "Die junge Garde". Ich erinnere mich, wie ich als gebürtige Kaukasierin - im Kaukasus werden Ehen oft von den Eltern arrangiert - vor ungefähr acht Jahren einen der vorgeschlagenen Verehrer abwies, weil er Aktivist einer kommunistischen Jugendorganisation war. Die Kupplerin hatte mir das damals als Karrierevorteil präsentiert.
[….]  Für die 20-Jährigen ist die UdSSR wie die Zeit der Dinosaurier, weit entfernt und unvorstellbar. Andererseits kann man nicht sagen, dass diese Generation hundertprozentig liberal und eurozentrisch wäre. Unter ihnen finden sich auch solche, die man in Russland "Vatniki", "Steppjacken", nennt - ein Schimpfwort für die radikal konservative Unterschicht, die Homosexuelle verfolgt, die im Ukraine-Konflikt für die "Befreiung Neurusslands von faschistischen Okkupanten" eintritt und die sich für sogenannte Werte starkmacht, also gegen Spitzenunterwäsche, öffentliche Lesungen von Klassikern, wenn es dort vulgäre Worte gibt, und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.  Es gibt aber auch andersherum gepolte Radikale, die dogmatisch alles verurteilen, was in Russland passiert. Die beiden Gruppen bekriegen sich permanent in Internetforen und sozialen Netzwerken; ein Interesse an Nuancen oder an der Wahrheit haben sie nicht. Diese Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Welt ist sehr gefährlich, aber typisch für die russische Jugend.
[….]  Heute trifft man in Russland junge Menschen, die unerklärliche Chimären sind. Ich habe einen Bekannten, der gleichzeitig aufgeklärter Liberaler und russischer Nationalist ist. Eine andere Bekannte ist mit 28 leidenschaftliche Kommunistin - und dabei aber sehr fromm. Solche paradoxen Weltsichten sind häufig. [….]  

X-fach wies ich auf die Absurdität dessen hin jemanden zu verurteilen, nur weil er den Versuch unternehme „Russland zu verstehen“, daß es völlig gaga ist das Wort „Russlandversteher“ als Schimpfwort zu verwenden.

Aber in der lupenreinen Merkel-Demokratie reicht es eben noch lange nicht aus, wenn einmal das Richtige gesagt oder geschrieben wird.

Nein, es muß auch mit genügend publizistischer Power rüberkommen.
Das erreichen beispielsweise Promis. Und ich spreche nicht von den Z-Gestalten aus dem Dschungelcamp, sondern meine echte A-Promis.
Dann hört man zu, ventiliert ihr Anliegen und berichtet auf einmal doch in ihrem Sinne. Jetzt unterzeichneten 66 deutsche Superpromis einen Appell wider die Dämonisierung Russlands.

 [….] Roman Herzog, der Alt-Bundespräsident von der CDU hat unterschrieben und Hans-Jochen Vogel, der alte Sozialdemokrat. Unterschrieben haben Luitpold Prinz von Bayern, der Urenkel des letzten bayerischen Königs und der Astronaut Sigmund Jähn, der Benediktiner- Pater Anselm Grün und der Altkanzler Gerhard Schröder. Unterschrieben haben Schauspieler wie Mario Adorf und Klaus Maria Brandauer, Schriftsteller wie Christoph Hein, Regisseure wie Wim Wenders, Verteidigungsexperten wie Horst Teltschik, einst Sicherheitsberater von Helmut Kohl und Walther Stützle, einst Verteidigungsstaatssekretär. Unterschrieben haben Otto Schily, der ehemalige Minister für Recht und Ordnung von der SPD, Erhard Eppler, der frühere SPD-Entwicklungshilfeminister, Antje Vollmer, die frühere Vizepräsidentin des Bundestags von den Grünen und Burkhard Hirsch, der frühere Vizepräsident des Bundestags von der FDP.
[….] Der Aufruf ist Ausdruck einer berechtigten Befürchtung, die auch den Altkanzler Helmut Kohl in seinem jüngsten Europa-Buch plagt: "Im Ergebnis müssen der Westen genauso wie Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht haben". [….] Kohl ist zu Recht befremdet über die Ausgrenzung Russlands; er verurteilt zu Recht, dass sich die G-7 Staaten im Juni ohne Russland getroffen haben, dass sie das Land aus dem Treffen der größten Industrienationen der Welt hinausgedrängt haben. Das war nicht Diplomatie, das war Gehabe.
Gehabe ist der Geschlechtstrieb der Politik. Polternd-herablassende Sprache gehört auch zum Gehabe. Solches Gehabe beherrscht nicht nur Putin ausgezeichnet, Obama kann es auch. Es war wenig hilfreich, dass er Russland als "Regionalmacht" verhöhnt hat; ohne die "Regionalmacht" sind die großen Weltkonflikte nicht zu lösen. [….] Die Motive des anderen zu verstehen, ist Grundlage für alle Verhandlungen. Wer das schmäht, wer nicht mehr verstehen will, der will nicht mehr verhandeln. Das wäre absolut nicht mehr zu verstehen.
Angela Merkel, deren Russland-Kurs von ihren Vorgängern als zu harsch kritisiert wird, muss diese Kritik annehmen und mit ihr klug umgehen - diese Kritik also verstehen. [….]