Mittwoch, 24. Juli 2019

Indolent.


Wenn man in amerikanischen Oppositions-Foren chattet, stößt man immer wieder auf Memes, die Trumps rassistische Pöbeleien und das Schweigen der GOP-Größen im Parlament thematisieren.
Dazu erscheint der Satz „Falls ihr euch je gefragt hattet, wie in der deutschen Demokratie das faschistische Nazi-Regime entstehen konnte….“
Der Gedanke ist zutreffend. In der Tat erleben wir coram publico, wie humanistische Werte kontinuierlich abgeräumt werden und der Präsident selbst immer xenophober und rassistischer tönt.

Wie in den Jahren vor 1933 in Deutschland gelingt es auch in den USA nicht die widerständigen Kräfte dagegen zusammen zu führen.
Während die andere Hälfte der Bevölkerung genau die Menschenhetze und die rassistischen Tiraden bejubelt, wird die andere indolent. Die Presse stumpft entweder ab, findet keine Weg mehr mit den Trump-Skandalen die angemessene Empörung zu generieren, oder ist sogar gleichgeschaltet, fungiert in Goebbels-Manier als Einpeitscher des Herren.

In gewisser Weise sind die USA moralisch sogar noch verkommener als die späte Weimarer Republik.
Anders als in Weimar verfügt man über

a.) eine Jahrhunderte alte demokratische Erfahrung
b.) enormen ökonomischen Wohlstand
c.)  historisches Wissen wohin der Faschismus führt.

Der vielzitierte Satz, nachdem die weit nach 1945 geborenen Deutschen natürlich nicht für die Nazi-Gräuel, wohl aber aufgrund der nationalen Erfahrungen für ein Verhindern der Wiederholung verantwortlich sind, ist richtig.

Gerade unter diesem Aspekt blicken wir besonders schaudernd nach Nordamerika: Wären so ein Wahlkampf, so ein Präsident und so eine Regierung in Deutschland möglich?

Anfang der 1990er Jahre, als wir Wessis entsetzt mit fremdenfeindlichen Mobs in der ehemaligen DDR konfrontiert wurden, als Rostock-Lichtenhagen brannte, hätte ich die Frage verneint.
Zu massiv und kollektiv war das Entsetzen über die neuen Mitbürger aus dem Beitrittsgebiet.
Es gab eine gewaltige Gegenbewegung.
Allein 450.000 Menschen versammelten sich in Hamburg zum „Alsterleuchten“ unter dem Motto „stoppt den Hass“.
Buchstäblich die ganze Stadt war aufgerüttelt und in Brandenburg wählten 55% der Menschen die SPD. Der Souverän war bereit für demokratische Werte einzutreten. Massenhaft.

(….) Am 10. Oktober 1981 fanden sich fast 400.000 Menschen im Bonner Hofgarten ein, um gegen die Atom-Nachrüstung in Deutschland zu protestieren.
Die Regierung Helmut Schmidt überlebte das nicht sehr lange, aber als Helmut Kohl Kanzler wurde und die Menschenmassen noch anschwollen, „stand er“ und holte mehr Atomraketen ins Land.

22. November 1983: Am Tag, als der Bundestag die Aufstellung von US-Raketen in Deutschland beschließt, demonstrieren im Bonner Hofgarten bis zu 500.000 Menschen gegen die Nachrüstung mit US-Raketen.
In Hamburg sind es 400.000 Demonstranten, über die schwäbische Alb bildet sich eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Bereits in den Jahren zuvor war es zu Massenprotesten gekommen.
Die US-Raketen vom Typ Pershing II wurden trotz der massiven Proteste in der Bundesrepublik stationiert.

Im Juli 1986 demonstrieren in Bayern mehr als 100.000 Besucher am "Anti WAAhnsinnsfestival" gegen die atomare Wiederaufarbeitung.
 Die Bundesregierung sitzt es wieder aus.

26. Januar 1991: In Bonn demonstrieren 200.000 Menschen gegen den zweiten Golfkrieg, an dem sich auch Deutschland beteiligt, vor allem finanziell.
Dezember 1992: In Hamburg demonstrieren am 13.12.1992 bis zu 450.000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit, in München waren es eine Woche zuvor 300.000 Teilnehmer. Die Bürger wollen mit Lichterketten ein Zeichen gegen Fremdenhass setzten, der sich in Anschlägen auf Asylbewerberheime und Häuser von Ausländern in Deutschland manifestiert. […]

Es folgten eine Reihe riesiger Demonstrationen gegen die harte Asylpolitik der CDU-Kohl-Merkel-Regierung.
100.000 Menschen in Essen 01.01.1993 "Das Ruhrgebiet sagt Nein!", gegen Gewalt und Rassenhass. Noch einmal genauso viele am 30.01.1993 bei der "Lichterspur" in Berlin unter dem Motto "Aufstehen und widerstehen“ und am selben Tag 120.000 Menschen in Düsseldorf beim "Lichterfest des Friedens und der Menschlichkeit."

15. Juni 1996: In Bonn demonstrieren 350.000 Menschen gegen Sozialabbau in Krankenversicherung und Arbeitsrecht. Die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung gibt dem Druck der Straße nicht nach

09.11.2000: Berlin, 200.000, "Für Menschlichkeit und Toleranz", gegen Ausländerhass.

15. Februar 2003: Rund 500.000 Menschen demonstrieren in Berlin gegen den sich abzeichnenden Irak-Krieg. In Stuttgart sind es 50.000 Demonstranten.

Die nächsten Demonstrationen mit deutlich sechsstelligen Teilnehmerzahlen gibt es Ende 2003 und im Jahr 2004 gegen die Hartz-Gesetzgebung; leicht kommen eine Viertelmillion Menschen dazu in Berlin zusammen, aber auch in Stuttgart sind es 140.000 am 03.04.2004 und noch einmal 100.000 am selben Tag in Köln.

Bei allen diesen Demonstrationen geht es aber um Werte wie Frieden, Solidarität und Bürgerrechte – also etwas, das die CDU in ihrer Regentschaft stets eingeschränkt hat. (…..)

20 Jahre später, im Zeitalter der sozialen Medien leben die Deutschen in ihren eigenen Filterblasen, lesen keine Zeitungen mehr, verlieren sich in Partikularinteressen.
Kommen 5.000 Menschen zur Klimademo zusammen, sind wir schon baff erstaunt.
Rassistische Morde, pogromartige Zustände, tausende fremdenfeindliche Übergriffe, Kriegsrhetorik oder auch 4.000 durch EU-Politik im Mittelmeer krepierte Frauen Kinder erregen kaum noch Aufmerksamkeit.
Die offen rassistische AfD sehen Demoskopen in mehreren Bundesländern als stärkste Partei. In Sachsen schafften die Flügel-Hetzer das bereits zwei Mal – bei der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 gingen sie als erstes durchs Ziel.

Der Bedeutungsrückgang der klassischen Medien führt zu immer geringerem Interesse sich zu engagieren und zu informieren. Immer mehr Menschen sind verblödet und kurzsichtig wie Herr Meister. Mögen wir noch lange von der direkten Demokratie verschont bleiben.

Möglicherweise sind wir in ein paar Jahren auch bereit für einen Trump.
Mehrere osteuropäische Nationen haben sich bereits rechtsradikalen Autokraten verschrieben.
Mit Italien und heute auch England marschieren zwei große westeuropäische Länder ebenfalls in den rechtspopulistischen Orkus.
Angesichts dieser Weltlage sollten wir der Groko täglich auf Knien für ihre Vernunft und ihre zu 50% sehr vernünftigen und umsichtigen Minister danken.

Unsere Antennen für Rassismus sind nämlich bereits abgebrochen.
In Deutschland können Rechtsradikale inzwischen Flüchtlinge und diejenigen, die sich für Flüchtlinge engagieren, ermorden, ohne daß es noch zu nennenswerter Gegenwehr des Staates kommt. Die Gesellschaft nimmt es indolent hin.

[…..] Die zögerliche Reaktion von Politikern auf Bombendrohungen und Angriffe aus dem rechten Spektrum schützt Strukturen wie damals den NSU. Innenminister Seehofer muss jetzt handeln.
In Duisburg, Mannheim und Mainz wurden am Montag Moscheen nach Bombendrohungen geräumt. In der Zentrale der Linkspartei in Berlin ging ebenfalls eine Drohung ein, unterschrieben mit "Combat 18", dem Namen einer militanten Neonazigruppe. Im hessischen Wächtersbach schoss am gleichen Tag ein Autofahrer auf einen Mann aus Eritrea. Mutmaßliches Motiv: Rassismus. Der Terror meldet sich zurück in Deutschland, diesmal von ganz rechts. Die Politik aber wirkt sonderbar teilnahmslos.
Schon nach der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke kam öffentliches Entsetzen nur zögerlich in Gang. […..]
Es ist diese Gleichgültigkeit, die rechtsextremistische Mörderbanden wie den NSU lange vor Entdeckung geschützt hat. […..]

Was soll man auch erwarten, wenn der zuständige Superinnenminister ein Laie ist, der seit Jahren ebenfalls gegen Flüchtlinge hetzte?
Ein Mann, der in seinem vorherigen Job als bayerischer Ministerpräsident von einem sogar noch extremeren Hetzer ersetzt wurde, der wiederrum mit dem Nachbar-MP von den Grünen ein Herz und eine Seele ist. Die überzeugten Christen Kretschmann und Söder sind sich politisch einig.

[…..] Ein Mann setzt sich an einem warmen Julivormitttag in der deutschen Provinz ins Auto, um im Vorbeifahren jemanden zu erschießen. Irgendjemanden, es gibt nur ein Kriterium: Das Opfer soll schwarz sein.
So geschah es laut Polizei am Montag im südhessischen Wächtersbach - und man muss sich die Ungeheuerlichkeit dieser Tat klarmachen, diese erschütternde Beiläufigkeit rassistischer Gewalt: Da fuhr jemand einfach los, um einen arglosen Menschen aufgrund eines hasserfüllten Weltbilds zu töten.
Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn wenige Wochen nach dem mutmaßlich rechtsextrem motivierten Mord an einem CDU-Politiker eine solche Tat geschieht? Und was verrät uns der Umgang mit diesem Anschlag über den Zustand von Demokratie und Debattenkultur?
[…..] Eine gesamtgesellschaftliche Debatte über rechtsextreme Gewalt scheint gerade jedenfalls nicht neu entfacht zu werden.
Vielleicht liegt das daran, dass der Anschlag kein Mitglied der Mehrheitsgesellschaft traf und vielen schon deshalb nicht nah geht. […..]  Wie weit ist die kollektive Abstumpfung bereits fortgeschritten?
Offenbar ziemlich weit, wenn man bedenkt, dass dieser Fall an frühere Anschläge erinnert: Auch die NSU-Rechtsterroristen suchten ihre meisten Opfer nach heutigem Wissensstand willkürlich aus - Hauptsache, sie waren Migranten. Und auch im Fall Walter Lübcke ereignete sich die Gewalttat eines Neonazis in der hessischen Provinz, auch in diesem Fall stand wohl kein Terrornetzwerk dahinter. […..]

Das Deutschland des Jahres 2019 bewegt sich gemütsmäßig auf die USA des Jahres 2016 hin. Kaum einer stört sich noch an Nazi-Übergriffen, fremdenfeindlichen Morden und rechtsradikaler Wählerschaft.

[….]Das Problem der deutschen Politik heißt Nazi-Ignoranz
Im Internet kursieren Todeslisten gewalttätiger Nazis - und oft bekommen die aufgeführten Personen keine angemessene Hilfe durch die Behörden. Dabei können selbst vermeintlich dilettantische Listen gefährlich werden. […..]