Samstag, 31. August 2019

Geld oder berufliches Ansehen?


Wie lange wird Deutschland schon von Kabarettisten als PISA-Krüppel ausgelacht?

Fast zwanzig Jahre liegt der Pisa-Schock zurück. Seither wird analysiert was an Deutschlands Schulen schief geht.
70.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr ohne Abschluss die Schule, es gibt fast 10% funktionale Analphabeten, unsere Universitäten sind international völlig abgehängt, 50.000 Lehrer-Stellen sind nicht besetzt und zudem sinkt das Niveau der Abschlüsse so stark, daß viele Chefs sich gezwungen sehen ein Abitur statt Realschulabschluss zu verlangen, weil ihr Azubis sonst nicht rechnen können.
Es ist ein Elend. Ein deutsches Elend. Ein Merkel-Elend. Denn nach wie vor scheint niemand in der CDU dem Thema Priorität einzuräumen. Merkel setzt Bildungsminister völlig ohne Kompetenzen ein. Die aktuelle Bundesbildungsministerin war so ahnungslos, daß sie erst einmal ein Jahr abtauchte, um sich in das Thema einzuarbeiten. Mittlerweile ist sie in Vergessenheit geraten.
50.000 qualifizierte Lehrer stehen ja nicht auf der Straße, deswegen könne man nicht einfach genügend von ihnen einstellen, hieß es vor 20 Jahren. Die müssten erst mal ausgebildet werden.
Aber wir haben 2019. Wie lange dauert so ein Lehramtsstudium? Länger als von 2000 bis 2019?
Es tut sich nichts. Das Studium ist offenbar immer noch eine Katastrophe. Erst nach den akademischen Abschlüssen kommt das Referendariat.
Ein Wahnsinn; das sollte doch besser zu Beginn oder besser schon vor dem Studium getestet werden, ob sich jemand praktisch dafür eignet vor Schülern zu stehen, genügend Respekt und Vertrauen auszuströmen.

Unzählige Analysen und Reportagen haben sich mit den PISA-Siegern beschäftigt. Was läuft da besser? Das Skandinavische offensichtlich weit überlegene System kann Deutschland nicht übernehmen, da es weitgehend aus Gesamtschulen besteht, die in Deutschland wegen der völligen ideologischen Verbohrtheit nicht gewollt werden. Wir leisten uns weiterhin ein Dreiklassen-Schulsystem in dem Kinder schon mit acht oder neun oder zehn Jahren eingeteilt werden in „wird nie was“ und „gibt noch Hoffnung“.

Abgesehen von dem maroden System mangelt es an guten Lehrern, weil der Lehrerberuf nicht mehr attraktiv ist.
Wer sollte das auch noch machen wollen, in einem System, das nur die Gymnasiallehrer gut bezahlt und je jünger die Kinder sind und je prekärer die Verhältnisse, auch die Lehrer umso schlechter bezahlt. Dabei wird umgekehrt ein Schuh draus: Gerade in Brennpunkt-Kitas und Hauptschulen müssen die allerbesten Pädagogen sitzen.
Auch das ist lange bekannt und kann aus ideologischer Verbohrtheit nicht geändert werden.

(….) Es dürfte sogar noch viel schlimmer werden, wenn die asozialen und desintegrierten gegenwärtigen Klein-Bälger erwachsen werden.
Lehrer berichten von unfassbaren Zuständen an den Schulen.

„Pinsel und Malutensilien werden verteilt – und die Klopperei beginnt! Es wird laut, Kinder müssen ihrem Nachbarn ins Gesicht schreien, dass sein Bild doof (das Wort war ein anderes) ist.“
„Einige werden maulig, geben unpassende Kommentare ab und antworten auf Fragen von Frau G. mit Fäkalsprache.“
„Wir malen noch einmal auf dem Fußboden der Sammlung – eigentlich eine tolle Erfahrung für Kinder. Freud- und anstrengungslose Versuche vieler Kinder, Striche aufs Papier zu bringen.“   „Endlich stehen alle, da trampeln Kinder mit dreckigen Schuhen über die Bilder! Absichtlich! Am nächsten Tag wird mir ein Kind erklären, dass ihm langweilig war – und dass es dann ja wohl klar ist, dass es das tun kann.“  „Ältere Herrschaften steigen über Butterbrotpapiere, Rucksäcke und Kinder. Den Kindern kommt das nicht einmal komisch vor. Als ich sie auffordere, Platz zu machen, schauen sie mich verständnislos an – und essen in Ruhe weiter!“
„Die Mitschüler werden angeschrien, geboxt, getreten und Rucksäcke umhergeschleudert. Ein älterer Herr bekommt auch einen ab. Eine Entschuldigung ist nicht zu erwarten.“
„Kinder lassen die Hälfte ihrer Sachen liegen in der Erwartung, dass es ihnen schon jemand hinterhertragen wird.“
„Es ist für die Kinder nicht einsehbar, dass wir in dem wuseligen Hauptbahnhof dicht zusammenbleiben müssen. Ich komme mir vor wie ein Schweinetreiber.“
„In der Bahn plötzlich vertraute Geräusche. Rülpsen! Kein Versehen, sondern volle Absicht. Wer kann es am lautesten? Sie denken: Die redet sicher von meinem Nachbarn? Falsch: Gehen Sie davon aus, dass ich auch von Ihrem Kind spreche – es gibt nur sehr wenige Ausnahmen!“
[…]   „Kinder kommen bereits um 8 Uhr früh gut gefüllt mit einer Stunde Super RTL, gewalttätigen und blutrünstigen Gameboy-Spielen und einem beachtlichen Blutzuckerspiegel in die Schule.“
„Sie springen mit erhobenen Fäusten wie Ninjakämpfer in die Klasse, semmeln erstmal drei Mitschüler über den Haufen und merken es nicht einmal.“

Und wenn man Philipp Möllers brillantes und lehrreiches Buch „Isch geh Schulhof“ gelesen hat, möchte man sich bei dem Gedanken an die Zukunft gleich erschießen.
Dabei ist das Unfassbare, daß wir sehenden Auges in die Katastrohe schlittern. Wir wissen wie man es besser machen kann; Möller hat das in seinem Buch alles dargelegt. Wir wissen auch aus den PISA-Spitzenländern, warum ihre Schulen so viel besser als die Deutschen sind. Aber Kleinstaaterei, Phlegma und Ideologie verhindert, daß Deutschland endlich was ändert.

Dabei wäre es viel zu simpel „der Politik“ dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Denn der Stillstand ist vom Volk gewollt. (….)

Schlecht ausgestattete Schulen und mies bezahlten Quereinsteiger-Lehrer ohne Festanstellung sind das Eine.
Es werden aber auch bei leidlich besserer Bezahlung kaum genügend hochqualifizierte Grund- und Hauptschullehrer oder Kindergärtner zu finden sein, so lange diese Berufe einen so niedrigen sozialen Status haben.
Wer will in dem Wissen auf Lehramt studieren, später einmal dafür bedauert zu werden nur Lehrer, oder gar nur Grundschullehrer zu sein?

Das ist der Schlüssel des Erfolges in Finnland und Norwegen. Dort haben Kinderbetreuer ein sehr hohes soziales Ansehen. Das sind respektierte Berufe, die bewundert werden.

Etwas ganz Ähnliches hörte ich kürzlich von der weißrussischen Pflegerin Natasja.

(….)  Zum Abschied des alten Herren habe ich mich noch einmal länger mit der sibirischen Pflegerin des ambulanten Dienstes unterhalten.
Natasja hat Nerven aus Stahl, ist immer geduldig und freundlich.
Sie arbeitet bei der evangelischen Kirche; in dem Fall der Diakonie.
Den Job macht sie seit 1995, ist ausgebildete Krankenschwester und Altenpflegerin. Pro Tag hat sie 20 Patienten, für die sie jeden Tag – egal ob Sonntag oder Feiertag – kreuz und quer durch den alptraumhaften Hamburger Innenstadtverkehr rasen muss.
Einige Patienten sind schwerstpflegebedürftig, müssen im Bett gewaschen und mit Spritzen versorgt werden. Der Herr nach uns auf ihrer Tour ist ein ehemaliger Seniorpartner einer Rechtsanwaltskanzlei. Steinreich, lebt in einer großen Villa, sagt weder Bitte, noch Danke, begrüßt sie nicht. Sie muss ihm die Beine bandagieren und Thrombosespritzen geben.
Sofort beginnen kann sie aber nicht, weil er sie gern anherrscht „Du siehst doch, daß ich gerade ein Glas Rotwein trinke, in 15 Minuten habe ich Zeit!“
1.400,- bringt Natasja im Monat nach Hause.
Ihr weißrussischer Mann ist Kindergärtner in Norderstedt (nördlich von Hamburg) in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Kinder. 15 von ihnen betreut er tagsüber allein und verdient ungefähr das Gleiche wie seine Frau im Monat.
Familienleben gibt es aufgrund des Schichtdienstes wenig, die beiden Kinder sind 9 und 11 Jahre alt. Es erfordert viel Koordination und Planung bei zwei berufstätigen Eltern die Kinder aufzuziehen.
Die Vier wohnen in Reinbek, östlich von Hamburg. Natürlich nicht in Hamburg, weil es mit normalen Gehältern unmöglich ist zentral eine Wohnung für vier Personen zu finanzieren.
Abends sitzen sie zusammen und studieren Sonderangebote, fahren gezielt Discounter ab, um immer das Billigste zu erwischen. (…..)

Mehr Geld wäre natürlich schön, aber vor allem wünscht sie sich besser behandelt zu werden und für ihren Beruf respektiert zu werden.
Kein Wunder, daß es Millionär Jens Spahn nicht schafft mehr Pflegepersonal zu rekrutieren.

(Jens Spahn, Mathe-Genie)
Und eins muss man sagen, Spahn schafft was weg (Merkel): Ein gutes Jahr nach seiner Ankündigung bundesweit 13.000 zusätzliche Pfleger einzustellen (gebraucht werden mindestens 50.000 Zusätzliche), hat er bundesweit schon fast 300 Neueinstellungen geschafft! Yippie, wenn das in dem Tempo weitergeht, sind die 13.000 Stellen in etwa 43 Jahren, also 2062 besetzt. Die 50.000 benötigten Kräfte wären dann im Jahr 2186 einsatzbereit.

Kluge Unternehmer und insbesondere Familienunternehmer, die ihren Betrieb noch Generationen fortführen möchten, wissen, daß ihre wertvollste Ressource nicht Fabrikhallen, Kundendateien, Patente, Ratings oder Kapitalreserven sind, sondern ihre Mitarbeiter. Erfolgreiche Chefs setzen sich immer und in erster Linie für ihre Mitarbeiter ein. Es genügt nicht diese Mitarbeiter zu „haben“, sondern sie müssen zufrieden sein. Sie müssen motiviert sein, sollten möglichst gern arbeiten und sich mit ihrer Firma identifizieren.
Beraterarmeen, Controlling, Rationalisierungen, Shareholder Value-Denken führen aber dazu, daß sich immer mehr Angestellte in „innerer Emigration“ befinden, nur das Nötigste tun.
Unzufriedene Angestellte führen zu Fehlern führen zu schlechter Stimmung führen zu unzufriedenen Kunden.

Viele Manager wären froh vor der Wahl zu stehen ihre Mitarbeiter gut oder schlecht zu behandeln.
Sie haben viel zu wenig Personal, müssen daher die Produktion drosseln. Aufträge ablehnen oder gar Niederlassungen schließen.

Als Sozialdemokrat verstehe ich die Kurzsichtigkeit solcher Unternehmer nicht.
Wie ist es möglich, daß bei der allgemein bekannten Personalnot über die Hälfte der deutschen Krankhäuser überhaupt keine Menschen ausbilden?
Wie kann man so borniert sein sich Geld und Mühe und Zeit für die Ausbildung von Pflegern und Ärzten zu sparen und sich anschließend wundern, wenn keine frisch ausgebildeten Kräfte an der Tür klopfen, die für einen arbeiten wollen?

Der geringe soziale Status von KITA-Betreuern, Hauptschullehrern oder Altenpflegern trifft auch auf andere Branchen zu.
In Hamburg schließen Geschäfte, weil es ihnen unmöglich ist genügend Verkäufer zu finden. Offenbar möchte niemand mehr Verkäufer werden, weil es anstrengend ist, mies bezahlt wird und auch noch ein schlechtes Image hat.
Allein im Hamburger Einzelhandel sind im Jahr 2019 den Arbeitsagenturen 2.500 Verkäuferstellen gemeldet worden. Über die Hälfte konnte nicht besetzt werden.

[….] Kerstin Horbach hat alles getan, was man tun kann, wenn man als Geschäftsinhaberin auf der Suche nach Verstärkung beim Verkaufspersonal ist: Plakate im Schaufenster, Stellenausschreibungen über die Arbeitsagentur und Jobportale im Internet, Hilferufe in den sozialen Medien. „Es hat alles nichts gebracht“, sagt die 41-Jährigen, die vor knapp zehn Jahren ihren ersten Laden in Hamburg eröffnete. In dem Geschäft namens Elbprinz und Alstergöre an der Großen Brunnenstraße in Ottensen verkauft sie seitdem schicke Kleidung für kleine Kinder. Vier Jahre später kam das zweite gleichnamige Geschäft dazu. [….] „Es läuft ganz gut“, sagt sie. Trotzdem hat sie einen weitreichenden Entschluss gefasst: Der zweite Laden wird wieder geschlossen. „Der einzige Grund ist, dass ich einfach nicht genug geeignetes Personal finde.“ [….]

Das lehrt uns wie die Beispiele Schule, Handwerk und Pflege, wie grundsätzlich unsere Gesellschaft in Schieflage geraten ist, wenn dringend benötigte Berufe nicht mehr ausgeübt werden wollen.
Derzeit sind die Hamburger Zeitungen voller Klagen über das Baustellenchaos. Besonders schlimm trifft es gerade meinen Stadtteil. Die CDU versucht sich krampfhaft gegen den rotgrünen Senats damit zu profilieren, fordert Mehrschichtenbetrieb, Wochenend- und Nachtarbeit.
Sehr witzig, antworten die Bauunternehmer. Das würden sie gern tun, wenn sie dafür genügend Bauarbeiter hätten. Schon jetzt müssen sie laufend Aufträge ablehnen.

Deutschland braucht also selbstverständlich:

1.) Mehr Zuwanderung
2.) Verantwortungsvolleres Management
3.) deutliche höhere Löhne
4.) ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, damit solche Berufe höher geachtet werden.

Klar ist, mit der Wahl von CDU, CSU, FDP oder AfD wird das nie klappen.

Und bitte alles in mutigen Schritten.
Ein paar Euro mehr, damit man nach 40 Berufsjahren mit 900 Euro Altersrente da sitzt, reichen nicht.

[…..]  Geschäftsaufgabe nicht wegen Kunden-, sondern wegen Personalmangels – das ist in Hamburg keine Ausnahme mehr. „Es sind vor allem kleinere Geschäfte, die aus diesem Grund für ein oder zwei Tage in der Woche schließen. Oder komplett aufgeben“, sagt Brigitte Nolte, Geschäftsführerin des Handelsverbands Nord in Hamburg. […..]  Es gibt kaum Aussicht, dass der Verkäufermangel bald beendet sein wird. Denn auch viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Nach Angaben des Handelsverbands Deutschland waren zu Beginn des Ausbildungsjahres Anfang August von den bundesweit 35.000 Lehrstellen für Einzelhandelskaufleute 16.000 noch zu vergeben. Von den 21.000 Verkäuferlehrstellen waren es mit 11.500 sogar mehr als die Hälfte. […..]  im Juli seien die Gehälter um drei Prozent gestiegen – obwohl der Einzelhandel nur zwei Prozent Umsatzwachstum erwarte. Zudem werde im Wettbewerb um Mitarbeiter teils mehr als der Tariflohn gezahlt.
Heike Lattekamp, die bei der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di in Hamburg für den Einzelhandel zuständige Fachbereichsleiterin, verweist dagegen auf die Arbeitsbedingungen der gut 70.000 festangestellten Verkäuferinnen und Verkäufer in der Stadt. […..]  Und in der Lohntabelle des Tarifvertrags sei bei 2656 Euro brutto im Monat Schluss – für eine Vollzeitstelle mit 37,5 Stunden pro Woche. Von den Arbeitgebern angeboten würden aber häufig Teilzeitstellen, etwa für 30 Wochenstunden. „Wenn man dann noch eine ungünstige Steuerklasse hat, bleibt nicht viel übrig“, sagt Lattekamp. […..]  Lattekamp sieht aber selbst Vollzeit-Verkäufer auf dem Weg in die Altersarmut: „Wer 40 Jahre lang gearbeitet hat, bekommt gerade mal um die 900 Euro Monatsrente. […..]  (Abendblatt, 31.08.2019)