Donnerstag, 2. Oktober 2014

Evaluation



Jeder deutsche Bundespolitiker, der etwas auf sich hält übt so lange das Wort „Evaluationsprozess“ auszusprechen, bis es ihm in jedem zweiten Satz flüssig über die Lippen kommt.
Wer von Evaluierung spricht, erweckt den Eindruck sich im Dschungel der Zuständigkeiten auszukennen und zudem das Fach „politische Theorie“ belegt zu haben.
Mit so einem schönen Begriff im Wortschatz klingen selbst unterbelichtete Blitzbirnen wie Alexander Dobrindt fast intelligent.
Der Zungenbrecher „Evaluationsprozess“ wirkt zudem latent ehrfurchteinflößend und erstickt damit die Frage danach, was das eigentlich bedeutet im Keim.


Evaluation oder Evaluierung (aus lateinisch valere „stark, wert sein“) bedeutet im politischen Sinne einfach nur, daß man beispielsweise ein Gesetz auf seine Wirksamkeit überprüft.
Viele Steuern und Verordnungen sollen ein bestimmtes Verhalten der Bürger fördern.
Das ist manchmal stark unterkomplex wie bei der Herdprämie, die angeblich nur eine „Gerechtigkeitslücke“ schließen sollte, indem auch Eltern, die ihre Kinder nicht in eine KITA bringen staatliche Leistungen kassieren können.
Es erforderte allerdings nur wenige Hirnzellen zu prophezeien, daß dieses Projekt eine Bauchlandung sein würde. Für wohlsituierte Akademikerfamilien ist die Herdprämie zu gering, um ein Anreiz zu sein, während die Armen und Doofen reihenweise ihre Brut bei der Kita abmelden, um sie von jeder frühkindlicher Bildung fernzuhalten.

Manchmal weiß man auch nicht genau, wie sich eine Regelung auswirkt.
Geht durch die Einführung von Karenztagen der Krankenstand signifikant zurück?
Führen Lockerungen beim Kündigungsschutz tatsächlich dazu, daß die Arbeitgeber deutlich mehr Stellen schaffen?
Gehen durch die allgemeinen Mindestlohn Arbeitsplätze verloren, oder aber ermöglicht er mehr Firmen konkurrenzfähig zu sein und kurbelt durch die ansteigende Nachfrage die Wirtschaft an?

Sind Gesetzesvorhaben extrem komplex – man denke an Peer Steinbrücks gigantische Konjunkturpakete I und II oder die Hartz-Reformen – streitet man sich vorher und nachher darüber, ob die Maßnahmen sinnvoll waren.
Eine genaue Evaluierung ist in diesen Fällen dringend geboten und partielle Nachbesserungen (oder im Politsprech: „Nachjustierungen“) sind keine Schande!

Steinbrücks Konjunkturpakete, also die klassisch Keynesianische Nachfragebelebung mit Abwrackprämie und ähnlichen würde übrigens heute kein Menschen mit Verstand mehr ablehnen.
Zu offensichtlich ist der Erfolg dieser SPD-Politik, die interessanterweise von einer Kanzlerin mitgetragen wurde, die als Krisenrezept für alle anderen EU-Staaten genau das Gegenteil empfiehlt: Statt staatliches Geld in die Konjunktur zu pumpen, will Merkel, daß staatliche Gelder abgezogen werden. Kürzen, sparen, schrumpfen lautet ihr offensichtlich fehlschlagendes Austeritätsmantra.

Die große Mehrheit der Experten sieht auch die Hartz-Gesetze als Erfolgsgeschichte. Für ganz Linke ist es allerdings zu einer Religion geworden Hartz IV zu verdammen.
Dabei gibt es keinen Grund für eine dieser Extrempositionen zu entscheiden.
Die guten Seiten der Hartz-Gesetze sollte man ausbauen und die offensichtlichen Ungerechtigkeiten und überflüssigen Komplikationen abschaffen.
Hartz ist so groß und gewaltig, daß es kontinuierlich evaluiert und nachjustiert werden muß.
So ein „Evaluationsprozess“ kann einen erheblichen empirischen Beobachtungsaufwand bedeuten.
Mit einem Blick in die Zeitung ist das nicht getan – daher ist eine echte Evaluations-Branche entstanden.

Die deutsche DeGEval - Gesellschaft für Evaluation - hat zahlreiche methodische und sektorale Arbeitskreise. Sie hat Standards, Empfehlungen und Handreichungen zur Planung und Durchführung von Evaluationen herausgegeben. Ihre Mitglieder stammen überwiegend aus Deutschland und Österreich.
Im internationalen Bereich haben Organisationen wie UN, EU, OECD, IWF, GIZ etc. eigene Evaluations-Abteilungen, welche jeweils neben der Bearbeitung konkreter Fragestellungen auch allgemeine Standards und Methoden sammeln, entwickeln und aufbereiten.
(Wikipedia)

Der technische Cousin des „Evaluationsprozesses“ heißt „Technologiefolgenabschätzung“ und ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft.
Daß es irgendwelche Folgen haben könnte, wenn man beim Goldschürfen die Flüsse mit Zyanidlauge vergiftet, Wälder abhackt, Tierarten ausrottet oder aber überall auf der Welt Kohle und Öl verbrennt, fiel der Gattung Homo Sapiens über Jahrhunderte nicht ein.
Aber auch im Jahr 2014 stolpern wir immer noch erstaunlich naiv in neue Techniken wie Fracking oder genetisch manipuliertes Saatgut, ohne uns vorher über Risiken oder Chancen Gedanken zu machen.

Das Paradebeispiel ist die Nutzung der Kernspaltung zur Stromgewinnung.
Obwohl bis heute niemand auf diesem Planeten irgendeine Idee hat, was man mit dem supertoxischen und karzinogenen Strahlenmüll in den nächsten paar Myriaden Jahren passieren soll, produzieren wir fleißig weiter Atommüll.

Als ich vor endloser Zeit meine Nuklearchemie-Vorlesungen begann und der Professor uns zu bestimmten Zerfallsarten erklärte, wie krebserregend das auf Menschen wirkt, fragte ich ihn, wieso man da eigentlich so genaue auf Menschen bezogene Daten hätte; üblicherweise würde so etwas doch eher mit Tieren versucht.
Es gibt aber genaue Datensätze aus Palästina in den 1960er Jahren.
Damals war es üblich Kindern mit Kopfläusen eine  Radiumstrahlenquelle auf die Birne zu halten. Zur Sicherheit auch gleich seiner ganzen Schulklasse. Dann fielen anschließend alle Haare aus und man ersparte sich das lästige Rasieren.

20 Jahren später konnte man dann wissenschaftlich auswerten wie schnell sich Hirntumore entwickelten. Unschätzbare Informationen für Wissenschaftler.

Es fasziniert mich bis heute, daß niemand schon damals auf die Idee kam, daß solche Radioaktivität irgendwie ungesund sein könnte – immerhin war der sofort einsetzende Haarausfall doch ein auch für Laien deutliches Zeichen.

Menschen….

Ich träume davon „Evaluationsprozesse“, bzw „Technologiefolgenabschätzung“ auch für andere Wissenschaften zu entdecken.

Kein Religionsunterricht in der Schule dürfte ohne Folgenanalyse stattfinden.
Welche Auswirkungen soziologischer, kultureller und medizinischer Art hat das Ausbreiten von Religion?
Man erinnere sich nur an die Ausbreitung von Seuchen, die von dem Kampf der Kirchen wider die Hygiene begünstigt wurden.
Auto Dafés, Pogrome, Kreuzzüge, Missionierungsfeldzüge, Inquisition, Hexenverbrennung, Wissenschaftszensur, Unterdrückung der Naturwissenschaft – all das sind enorme Einflüsse der Religion.

Vermutlich hätten wir schon seit hundert Jahren den Mars besiedelt, wenn die Menschheit zumindest in Europa nicht tausend Jahre durch die Kirchen Wissenschaft behindert und weitgehend verboten hätte.
Wie sollten sich auch erkenntnistheoretische Neugier und Forschergeist entwickeln, wenn man immer gleich auf den Scheiterhaufen kam, sobald man eine Entdeckung gemacht hatte?

Es wäre doch schön belastbares Zahlenmaterial darüber zu haben wie viele Menschenleben, Seuchen, Kriege und Genozide durch Religionen verursacht wurden.

Hier ist Evaluierung dringend geboten.