Meine Mutter, die 26 Jahre nach ihrer ältesten Schwester geboren wurde und daher als Kind lauter Erwachsene um sicher herum hatte, war eins dieser „Kriegskinder“. Vor dem Beginn des zweiten Weltkriegs geboren, erlebte sie, wie alle um sie herum extrem mit dem Überleben beschäftigt waren, schon ihre eigenen Familien hatten und kaum Zeit blieb, sich mit der ganz Kleinen zu beschäftigen. Möglicherweise hatte sie irgendeine Form des „Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms“, aber den Begriff gab es damals natürlich noch nicht. In der Schule galt sie als schwierig, wurde regelmäßig geschlagen. Einmal erschien meine Oma sogar an der Schule, weil der Klassenlehrer meine Mutter bewußtlos geschlagen hatte und sie reglos unter seinen Ohrfeigen zusammengesackt war.
Natürlich, sie war „ungezogen“, hatte dem Lehrer frech widersprochen. Daß ein Mädchen dafür verprügelt gehörte, wurde damals nicht in Frage gestellt, aber meine Oma war entschieden dagegen, ihre Jüngste bis in die Ohnmacht zu schlagen.
Meine Großeltern waren für ihre Zeit relativ liberal, ließen ihren Kindern viel Freiheiten, aber vor 100 Jahren war schwarze Pädagogik üblich. Es dauerte noch viele Jahrzehnte, bevor sich allmählich in der christlich geprägten Gesellschaft die Erkenntnis herausbildete, daß Kinder nicht verprügelt werden müssen, Frauen nicht ihren Ehemännern unterstellt sind, keine Erlaubnis brauchen, um ein Bankkonto zu eröffnen, oder einen Job anzunehmen. Ein gewisser Bundeskanzler stimmte noch im Jahr 1997 gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. Merz ist übrigens deutlich jünger als meine Eltern, die ihm aber beide um Jahrzehnte in der gesellschaftlichen Entwicklung voraus waren. Der erzkonservative Sauerländer ist schließlich bekannt dafür, vieles erst als Allerletzter zu begreifen.
Bald nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, wurde meine Mutter auf ein Mädcheninternat in der Schweiz geschickt. Eine naheliegende Entscheidung. Opa hatte geschäftliche Verbindungen in die Schweiz, war vor dem Krieg viel dort hingereist; in der Wiederaufbauzeit, hatte man zu Hause noch weniger Zeit und Muße für eine aufmüpfige Teenagerin und da sie als etwas undiszipliniert galt, würde es ihr gut tun, mehr Strenge zu erleben. Nähen und Kochen zu lernen; was man eben so brauchte, um eine gute Ehefrau zu werden.
Das mit der Zukunft als treusorgende, devote Ehefrau, die ihre Erfüllung als Hausfrau findet, klappte nicht so. Der Widerspruchsgeist wurde nie ausgetrieben. Wenn meine Mutter ihren Vater oder die älteren Brüder so richtig zur Weißglut bringen wollte, weil die sich über ihre mangelnde Disziplin beklagten, sagte sie „ich kann nichts dafür; ich bin von Natur aus faul“.
Ich sehe es noch vor mir, wie mein Onkel nach Luft schnappte, ihm kleine Rauchwölkchen aus den Ohren schossen. „Wie kannst du sowas sagen!? Du versündigst dich!“
Es war die ultimative Schande, die jedem deutschen und insbesondere hamburgischen Selbstverständnis widerspricht. Fleiß ist die höchste Tugend, die jedem Kind schon in Poesiealben eingetrichtert wird. Faulheit ist eine biblische Todsünde, die sich bis heute als extrem negativ konnotiert gehalten hat. Mit Unkeuschheit kann man heute regelrecht prahlen; ein reiches Sexualleben wird bewundert. Faulheit niemals.
Erst Jahre nach dem Tod meiner Mutter, erinnerte ich mich an ihren Trigger-Spruch und begann ihn mit wachsender Lust selbst zu verwenden. Schon als soziales Experiment. Wenn ich nebenher auf die Frage, was ich heute gemacht hätte, beim Bäcker oder an der Käsetheke „gar nichts; ich bin von Natur aus faul“ antworte, halten das alle mir Wohlgesonnenen ganz selbstverständlich für einen Witz. „Nein, SIE sind doch nicht faul!“
Natürlich nicht. Denn ich bin ja nett. Die mögen mich. Wie könnte ich da faul sein?
Die Merze, Linnemanns und Spahns tuten ebenfalls in das faulophobe Horn. Die deutsche Wirtschaft lahmt, weil wir zu faul geworden sind. Es müsse wieder mehr geleistet werden. Mit Viertagewoche und Work-live-Balance, könne man im internationalen Wettbewerb nicht bestehen.
Mal abgesehen davon, daß diese Märchen über die Viertagewoche längst debunked sind, bezieht sich der Vorwurf der Faulheit immer nur auf die finanziell schlechter Gestellten. Wer reich ist und viel Geld verdient, ist nie faul. Nur Arme. Daß unbezahlte Care-Arbeit sehr viel Fleiß und Disziplin erfordert, käme einem Jens Spahn, der freimütig zugibt, er würde seine Eltern sicher nicht selbst pflegen, sondern dafür jemanden engagieren, gar nicht in den Sinn.
Reinigungs- oder Pflegekräfte, Erntehelfer, Lieferanten gehören für die CDUCSU nicht zu den Leistungsträgern. Die kann man outsourcen.
Kein Konservativer hinterfragt den Fleiß der 900.000 Privatiers in Deutschland. Wer sein Geld für sich arbeiten läßt, wird bewundert. Wir sollen am besten alle Aktionäre werden und andere für uns arbeiten lassen.
(….) Zudem halte ich Aktienbesitz für eine Form der Ausbeutung: Reiche werden durch inaktives Rumsitzen noch reicher, während andere die dafür nötige Arbeit erbringen, aber nicht profitieren. Die Shareholder-Value-Mentalität ist eine Ökonomiebremse, weil sie gesunden Unternehmen das Geld entzieht, um ihre Mitarbeiter fair zu bezahlen und zu investieren. (…)
Richtig reich wird man in Deutschland durch Erbschaften.
[….] Im vergangenen Jahr wurde geerbtes oder geschenktes Vermögen in Höhe von insgesamt 121,5 Milliarden Euro registriert. Das ist ein neuer Höchstwert in Deutschland. [….] Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert dieser Vermögensübertragungen um 19,8 Prozent und erreichte damit einen Höchstwert, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. 2022 war er noch um 14 Prozent gesunken.
Im Jahr 2023 wurden demnach Vermögensübertragungen durch Schenkungen in Höhe von 60,3 Milliarden Euro gezählt. "Das waren 44,7 Prozent mehr als im Vorjahr", hieß es vom Bundesamt.
Der Anstieg beruhe vor allem auf dem übertragenen geschenkten Betriebsvermögen von 24,8 Milliarden Euro, das sich damit gegenüber dem Vorjahr verdoppelte (plus 100,7 Prozent). Das übertragene geschenkte Betriebsvermögen über 26 Millionen Euro, sogenannte Großerwerbe, vervierfachte sich fast im Vergleich zum Vorjahr auf 15,7 Milliarden Euro (plus 273,3 Prozent).
Das berücksichtigte Vermögen durch Erbschaften und Vermächtnisse wuchs 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 2,4 Prozent auf 61,2 Milliarden Euro an. Das geerbte Betriebsvermögen stieg ebenfalls - um 22,3 Prozent auf 5 Milliarden Euro. Die Großerwerbe stiegen von 0,6 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 1,4 Milliarden Euro im [….]
Über 120 Milliarden, die durch pure Faulheit „verdient“ werden. Einfach als Bonus für das Glück in der Geburtslotterie. Für die faulen Reichen setzten sich die C-Politiker nur zu gern ein.
[…] Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will die Erbschaftsteuer um 50 Prozent senken - für Todesfälle in Bayern. Da die Steuersätze der Erbschaftsteuer bisher bundesweit einheitlich sind, fordert Söder eine „Regionalisierung“ der Steuer. Söder will das nicht nur politisch in der schwarz-roten Koalition durchsetzen. Parallel läuft auch eine Klage Bayerns beim Bundesverfassungsgericht.
In Deutschland werden pro Jahr Vermögen im Wert von etwa 400 Milliarden Euro vererbt. Ganze zwölf Milliarden Euro werden vom Staat als Erbschaftsteuer abgeschöpft. Geregelt ist dies in einem Bundesgesetz, doch das Steueraufkommen geht vollständig an die Länder, in denen die Verstorbenen ihren Wohnsitz hatten. Bayern nimmt so pro Jahr 2,4 Milliarden Euro ein, Thüringen nur 27 Millionen, weil in den neuen Ländern wenig vererbt werden kann. [….]


Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Feedback an Tammox