In einer Demokratie, die immer noch zwar eine schlechte, aber doch bessere als alle anderen Regierungsformen ist, muss man letztlich die Machtverteilung von „denen da unten“ bestimmen lassen. Im positivsten Framing nennt man sie „der Souverän“, ein magisches Gebilde, welches durch Schwarmwissen weise Entscheidungen trifft.
Negativ geframt, handelt es sich um eine „Diktatur der Inkompentenz“; diejenigen mit dem geringsten Fachwissen entscheiden.
Ich neige zur zweiten Sichtweise.
Schon bei einer Bundestagswahl verlagert man die Entscheidungsgewalt aus der Gruppe von einer Millionen halbwegs Interessierten und Informierten [den Parteimitgliedern], in die größere und doofere Gruppe, die intellektuell mit einer solchen Wahl überfordert ist. Sie haben keinerlei politische Qualifikation, verstehen das aber aufgrund eines übergeordneten internationalen Dunning-Krueger-Effekts nicht nur nicht, sondern halten sich selbst aufgrund ihres „gesunden Menschenverstandes“ sogar für besser qualifiziert, als Profipolitiker.
Das ist nichts anderes, als eine besonders idiotisch völkisch verbrämte Null-Aussage.
"Der gesunde Menschenverstand ist nur eine Anhäufung von Vorurteilen, die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat."
- Albert Einstein
Daher sollte man plebiszitäre Entscheidungen auf ein Minimum beschränken und möglichst die qualifizierteren Volksvertreter entscheiden lassen. Als abschreckendes Beispiel wird immer gern die Todesstrafe genannt, die im Parlament glücklicherweise nicht durchsetzbar ist in einer Volksabstimmung nach einer Hetzkampagne und einigen ausgewalzten grausamen Verbrechen, vermutlich locker durchginge.
Idealerweise helfen die Parteien dem verwirrten Urnenpöbel zu erkennen, was vernünftig und notwendig ist.
[….] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 21
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien. [….]
In der deutschen Verfassung klingt das sehr vernünftig. Aber als das vor 80 Jahren niedergeschrieben wurde, erahnte niemand die Rolle des Internets, der Demoskopie. Geschweige denn Social Media.
Die „Willensbildung des Volkes“ wird 2025 kaum noch von den Parteien mitgewirkt, sondern von Bots, Algorithmen und Umfragen gesteuert.
Die Flut der Fehlinformationen führt zu einer ganzen Reihe kapitaler Irrglauben im Volk:
Atomkraft sollte weiter eingesetzt werden, die AKWs wurden von den Grünen abgeschaltet, die CDU hat die größte Wirtschaftskompetenz, die Deutschen sind fleißiger als Südeuropäer, die Kriminalität steigt ständig an, die Kirchen finanzieren ihre Kitas und Altenheime, aus den Kirchensteuern werden die Bischöfe finanziert, die Grünen wollen die Currywurst verbieten, wir sind mit weniger Ausländern besser dran.
Das ist alles hanebüchener Unsinn.
In einer idealeren Welt, würden die Parlamentsparteien gemeinsam das Wahlvolk aufklären und verdeutlichen, was Fakten und was Phantasie ist. Die Kriminalität ist auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren, unter CDU-Führung wurden 11 der 14 deutschen AKWs abgeschaltet, etc.
Die meisten Politiker stemmen sich aber nicht gegen die schwachsinnigen Mehrheitsansichten im Volk, sondern befördern den Irrglauben sogar noch, weil sie von der resultierenden Wut an der Wahlurne profitieren wollen. Es hilft der CDU, CSU und AfD, wenn das Volk glaubt, die vielen Migranten in Deutschland zögen mordend und brandschatzend durch die friedlichen deutschen Vorstädte. Die wahre Kriminalitätsstatistik schadet nur.
Natürlich bedaure ich, daß Linke, Grüne und SPD in der Migrationsfrage nicht viel deutlicher Position beziehen. Offenbar haben sie es aufgegeben, gegen den rechtsextrem Schundmedienblock zu bestehen und wollen lieber ebenfalls von der xenophoben Volksstimmung profitieren. Sie trauen sich nicht, gegen die geballte Unkenntnis zu agieren, fürchten Shitstorms und Abstrafung an der Wahlurne.
Kurioserweise gibt es aber auch eine Reihe von Themen, bei denen „Volkes Meinung“ mit enormen Mehrheiten ganz richtig liegt, die aber im Parlament nicht die geringste Chance haben, weil die Parteien fest im Griff mächtiger Lobbygruppen sind.
Würde das Volk direkt gefragt, gäbe es Silvester ein Böllerverbot, auf den Autobahnen herrschte Tempolimit, die Sterbehilfe wäre legal, die Kirchensubventionierung vom Tisch, wir hätten eine Millionärssteuer, die 900.000 nicht arbeitenden Privatiers in Deutschland zahlten Spitzensteuersatz, Abtreibung wäre straffrei, Beamte und Selbstständige müssten in die Rentenkasse einzahlen und sicher gäbe es keine privilegierten Privatpatienten in einer Zweiklassenmedizin.
Es ist verblüffend, wie rückgratlos die Parteien bei einigen Themen vor dem Volk kuschen und lieber völlig falsche Dinge umsetzen, statt den Wählern bittere Wahrheiten zuzumuten. Wie sie aber andererseits eisenhart die überwältigende Mehrheit des Volkes ignorieren. Parlamentarier sind also an den falschen Stellen hasenfüßig und an den falschen Stellen mutig. Sie sollten es aber immer besser wissen und dem Volk zuhören, wenn es richtig liegt. Sie müssen aber auch dann für ihre Überzeugungen und das Notwendige werben, wenn das Volk falsch liegt und etwas völlig Irrsinniges will.
Im letzten ARD-Presseclub ging es um den kommenden Zusammenbruch des Rentensystems.
Wirklich kein sexy Thema, mit dem man sich gern leidenschaftlich beschäftigt.
Aber die Zukunft der Rente ist ein Paradebeispiel für die Unfähigkeit der Politik, dem Volk reinen Wein einzuschenken.
Alle Probleme hatte Schröder schon 1998 auf dem Tisch und richtig analysiert. Wir kennen alle die Demographie und können bei dem Thema wunderbar in die Zukunft blicken, weil man anhand der Geburtenzahlen ausrechnen kann, wann wie viele Menschen wie alt sein werden. Aber wer blickt schon gern in die fernere Zukunft, wenn jetzt Wahlen vor der Tür stehen?
Als ich Ende der 1970er auf das Gymnasium kam, war die Enttäuschung zunächst einmal groß, weil auch in der Vorzeigeschule, in der die Kinder des Bürgermeisters ihr Abi machten, eklatanter Lehrermange herrschte, viele Stunden ausfielen. In der Pausenhalle hing damals eine Karikatur, in der ein einzelner Lehrer vor Myriaden Schülern steht und sagt „Hallo, seid ihr der Pillenknick? Ich bin die Lehrerschwemme.“
Wir wissen ganz genau, was uns demographisch blüht: Extreme Altersarmut und Zusammenbruch des Pflegesystems.
Und seit 27 Jahren sind wir nicht einen Schritt weiter. Keiner traut sich an eine richtige Reform.
Obwohl andere Länder das durchaus hinbekommen. Insbesondere in Skandinavien und Benelux.
Wir drehen immer nur minimal an Stellschrauben, verschieben die Finanzierung auf die Zukunft. Mit der Gießkanne werden Wohltaten ausgegossen an ALLE Rentner, also auch an die Superreichen, statt sich auf die Bedürftigen zu konzentrieren.
Die konservative Ursula Weidenfeld, die ich nicht ausstehen kann, sagte aber etwas Richtiges zur demographischen Entwicklung:
Daß sie den Menschen nicht vorschreiben wolle, wie lange sie arbeiten müssen, oder wie viele Kinder sie bekommen.
Es gäbe aber nur drei Möglichkeiten, das demographische Problem, daß also immer weniger Einzahler für immer mehr Rentner, die auch immer länger leben, abzuwenden:
1.) Die Menschen müssten sehr viel mehr Kinder bekommen.
Das ist aber ganz offensichtlich nicht gewollt. Die Geburtenrate ist seit 40 Jahren stabil viel zu niedrig.
2.) Die Menschen müssten viel länger arbeiten.
Auch das wird ganz offensichtlich nicht gewollt. Im Gegenteil, die meisten gehen mit Abschlägen, sogar vor dem offiziellen Renteneintrittsalter in Pension.
3.) Massive Migration nach Deutschland.
Das ist aber erst recht nicht gewollt, wie alle Umfragen und die Wahlergebnisse zeigen.
Wenn man aber als Liberaler die Menschen nicht zu diesen drei Punkten zwingen will, müsse man das eben als Volkswillen akzeptieren.
Dann lautet die Konsequenz eben massive Altersarmut. Der Staat kann dann keine auskömmlichen Mindestrenten und Grundsicherung anbieten. Also müssen wir damit leben, in Zukunft jede Menge bettelnde Alte obdachlos auf der Straße zu sehen.
Politische Ehrlichkeit erfordert es, genau diese Alternativen dem Souverän klar zu machen. Wer CDUCSUAFD wählt, sich an den scharfen Grenzkontrollen ergötzt und keine Migration will, soll sich darauf einstellen als Rentner, sofern er nicht zufällig reicher Erbe ist, in einem Pappkarton unter einer Brücke zu leben und ganz sicher niemanden zu finden, der ihn wäscht, windelt und bekocht.
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