Dienstag, 24. Juni 2014

Der Programm- und Struktur-Fehler.



Die Szene habe ich in diesem Blog sicher schon mehrfach beschrieben:
Distrikttreffen (heißt bei anderen Parteien Ortsverein) der SPD 1994 mit Freimut Duve, meinem damaligen Bundestagsabgeordneten.

Einerseits zeigte der Abend weswegen man unbedingt engagiertes Mitglied einer Partei sein sollte. Freimut Duve, 1980 bis 1998 für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Abgeordneter des Deutschen Bundestages, ist einer der Guten. Einer der demokratischen Leuchttürme, auf die man als Parteimitglied sehr stolz sein kann und der andererseits aufgrund seiner geistigen Eigenständigkeit nie bis ganz nach oben in der Regierung gelangte. Duve, der aus einer sehr spannenden Familie stammt und spannende Töchter hat, ist einer dieser hochanerkannten, integren Politiker alter Schule wie Hildegard Hamm-Brücher, die auf der Karriereleiter nie nach ganz oben kommen konnten.
Von 1998 bis Dezember 2003 war Duve in Wien OSZE-Beauftragter für die Freiheit der Medien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Duve, der Intellektuelle konnte höchst interessante Interna aus der SPD-Bundestagsfraktion berichten. Nahm er an so einer Distriktsitzung teil, fühlte man sich wie in der ersten Reihe der Bundespolitik, exklusiv informiert.

Andererseits war die SPD just sehenden Auges dabei die Bundestagswahl 1994 mit dem Kandidaten Scharping zu vergeigen. Das konnte nicht gut gehen und die bisher schon unerträglichen 12 Jahre Bundeskanzler Helmut Kohl drohten noch einmal verlängert zu werden. Wie konnte sowas möglich sein? Kohl? Die bräsige, tumbe Nuss. Der moralisch beliebige Hinterwäldler mit einem geistigen Horizont, der ungefähr ein Prozent des Duve-Intellekts ausmachte.
Die SPD-Basis in Hamburg-Mitte reagierte nach SPD-Art. Man nahm sich das Wahl- und Parteiprogramm vor und begann zu feilen. Könnte es nicht sein, daß auf Seite 97, Absatz 4, Spiegelstrich 3 noch eine Ergänzung hineingehörte?

Ich mochte Duve nicht verärgern, konnte aber andererseits wieder einmal meinen Mund nicht halten und fragte daher höflich in die Runde, ob sie zufällig nicht mehr alle Murmeln beieinander hätten. Kurz vor der Wahl interessierten doch niemand marginale Änderungen in den Wahlprogramm, die ohnehin niemand lese. Das Problem sei Scharping, der dröge wie ein pfälzisches Brötchen daher komme und in den Städten niemand vom Sofa locken könne.
Eieiei, also das kam gar nicht gut an und wurde sofort mit der Frage verbunden, ob ich in der SPD richtig sei.

Gemein, denn eigentlich ist es mein großes Hobby über Wahlprogramme zu sinnieren und politische Konzeptionen durchzudenken.
Ich halte das allerdings für eine Minderheiten-Vorliebe, mit der man keine drohende Wahlniederlage abwenden kann.

Es kann nicht klappen die andere große Partei zu imitieren.
Kohl kam deswegen so lange so gut an, weil er die größte Angst der Deutschen abwehrte, die Furcht davor irgendetwas könne sich ändern. Kohl war die Inkarnation des „bleibt alles wie es ist!“.
Er war die physische Entsprechung des germanischen Phlegmas.
Nicht ohne Grund hatte die CDU schon zuvor mit „keine Experimente“ erfolgreich plakatiert. CDUler möchten den Status Quo erhalten und all den neumodischen Krams – Frauen im Parlament, Verhütungsmittel oder Gespräche mit den bösen Russen – wenn überhaupt, dann nur langsam und in homöopathischen Dosen akzeptieren.
Die potentielle SPD-Wählerschaft der 90er hatte andere Erwartungen. Sie war des Aussitzens müde und wollte endlich Veränderungen.
So erklärt sich auch der fulminante innerparteiliche Machtwechsel von 1995. Lafontaine strahlte aus jeder Pore, daß es ihn zu neuen Ufern drängt, während Scharping als Polit-Tranquilizer fungierte. Also dem Politmodell seines Landes-Kumpels aus Oggersheim.

Bei den großen weltpolitischen Umbrüchen 1989/90 wurde Kohls im Gestern verharrende Ausstrahlung sogar noch wichtiger für die CDU.

Inzwischen schwant dem Volk angesichts der vielen globalen Herausforderungen, daß man nicht alles Neue einfach ablehnen kann. Auch Konservative wollen das Internet benutzen und selbst die rechtslastige Landbevölkerung empfindet Umweltschutz nicht mehr nur als reine grüne Spinnerei.

Und erneut erweist sich eine Unions-Personalie als absoluter Glücksgriff.
Merkel, die als geschiedene protestantische Ost-Frau all das repräsentiert, was bisher in der CDU nicht sein durfte, die aber gleichzeitig nicht die Gefahr ausströmt, daß künftig noch mehr dieser Kebsweiber in der Partei eine Rolle spielen werden.
Merkel ist so schwammig, daß man alles in sie reininterpretieren kann und keine der sich teilweise diametral widersprechenden Deutungen widerlegt werden muß, weil sie letztendlich doch nichts tut.

So eine Nichtführung schätzt der deutsche Urnenpöbel.
Asymmetrische Demobilisierung ist Merkels Wahlkampfschlager. Die schläfert alle Wähler so sehr ein, bis die Opposition so demobilisiert ist, daß Merkels Stammwähler ausreichen für ihre Kanzlerschaft.
Mit dieser apolitischen Politik konnte sie sich nun schon die dritte Kanzlerschaft sichern. Bei ihr ist der deutsche Michel jedenfalls sicher, daß nicht so etwas Schreckliches wie 2003 passiert. Damals ging ein deutscher Regierungschef an das Rednerpult des Bundestags und verkündete, nun werde sich alles ändern, es werde scharfe Einschnitte geben, das bequeme Leben sei vorbei.
Und auch noch elf Jahre später taugt die Agenda 2010 als SPD-Abschreckung. Das will man nicht noch mal erleben: Wählen und anschließend auch noch aus seiner Siesta geweckt werden. Oh Graus.

 Zum Bedauern von SPD und Union verkompliziert sich aber die parteipolitische Lage in Deutschland und Europa. Es fällt schwerer es allen Recht zu machen. Fliehkräfte ziehen enttäuschte Ex-Sozis zu Grünen, Linken und Piraten.
Die CDU konnte das bisher voller Häme beobachten, weil ihren Enttäuschten nur krude Nazi-Parteien als Ausweichmöglichkeit blieben. Auch die CDU schrumpft, aber nicht ganz so schnell wie die anderen. Denn die habituell unzufriedenen Linken schaffen es immer wieder aus Ärger um die eigenen Leute durch Wahlenthaltung oder Kreuze bei Linken und Piraten der CDU die Macht zu sichern, statt das Hirn einzuschalten und das kleinere Übel zu wählen.
In Relation wirkt Merkel massiv und mächtig. Tatsächlich ist das Ende der CDU-Dominanz aber absehbar.
Die urbanen Deutschen wählen ganz anders. In den Städten haben CDU-Kandidaten keine Chance mehr. Personell ist die Union völlig am Ende, es ist weit und beit kein Merkel-Nachfolger in Sicht. Und zu allem Übel hat die noch bräsiger als Kohl agierende CDU-Chefin 15 Jahre lang jede inhaltliche Diskussion so massiv abgewürgt, daß niemand mehr eine Ahnung hat wofür die eigene Partei steht.
Die Jüngeren in der CDU – und alles unter 40 zählt bei der Union noch zu den Küken – werden leicht nervös. Entweder sie setzten sich schon mal ab – wie von Klaeden, Hildegard Müller und Philipp Mißfelder – oder aber sie versuchen hektisch die Weichen so zu stellen, daß die Partei nicht ganz abstirbt.
Das ist das Model Peter Tauber.
Der CDU-General wirbt auf einmal mal mit plebiszitären Elementen in der CDU. Sogar den Kanzlerkandidaten könne man doch per Urwahl bestimmen befand der konservative Glatzkopf am Wochenende.
Soweit wollte Merkel nun nicht gehen und da alle ihre Parteiuntergebenen prinzipiell hodenlos sind, ruderte Tauber auch sofort zurück.
Aber irgendwie anders, womöglich „neu“ sollte die CDU schon werden. Denn die Mitgliedszahlen sehen nicht gut aus.

Im Jahr 1990, dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung, die von dem christdemokratischen Bundeskanzler Helmut Kohl vorangetrieben worden war, hatte die Regierungspartei CDU fast 790.000 Mitglieder. Im Dezember 2013 waren es noch gut 468.000. Der enorme Mitgliederschwund ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Christdemokraten; die große Rivalin SPD stürzte im selben Zeitraum von 943.000 Mitgliedern auf 473.000 ab. Insgesamt nahmen die Mitgliederzahlen der im Bundestag vertretenen Parteien zwischen 1990 und 2013 von 2,3 auf gut 1,2 Millionen ab. Dies rührt an der Substanz dessen, was man in der Politikwissenschaft als Volkspartei bezeichnet.
Die dominierenden Parteien SPD und CDU hatten ursprünglich ein sehr viel schärferes Profil, das sich an ihrer Zielklientel orientierte. Arbeiterfamilien wählten die SPD, weil sie als einzige Massenintegrationspartei ihre Interessen vertrat. Die Wähler der CDU waren dagegen in der Regel politisch konservativ, christlich-religiös und wirtschaftlich besser gestellt. [….]

Seit 2010 hat die CDU rund 50.000 Mitglieder verloren. Das Durchschnittsalter des Rests beträgt 60 Jahre und über 75% sind Männer.
Das gefällt Herrn Tauber nicht und daher ruft er nun im SPIEGEL dazu auf, die CDU müsse "jünger, weiblicher und bunter werden."
Leichter gesagt als getan. Der Parteigeneral weiß in Wahrheit noch nicht mal wie er überhaupt mit seinen Leuten in Kontakt treten soll. Von 2/3 der CDU-Parteimitglieder ist keine Email-Adresse bekannt; Tauber weiß nicht einmal, wie viele Internet nutzen.
Als Sofortmaßnahme zur Mitgliedermotivierung beschloß das CDU-Präsidium (Achtung kein Witz!) nun eine Kommission zu gründen.
Unter Taubers Vorsitz soll die Frage erörtert werden „was bringt es mir in die CDU einzutreten?“ (Wieder kein Witz!).
Als „Seele der CDU“, also der Ellenbogen-Partei mit der Tendenz die Zukunft zu ruinieren, gibt Tauber ernsthaft das Motto „Liebe zur Heimat und Bereitschaft unserem Land zu dienen“ aus.
Ich nenne das „totale inhaltliche Kapitulation“.
Das Heimatliebe-Gewäsch kommt immer dann, wenn konkrete Aussagen vermieden werden sollen. Denn längst sind alle CDU-Gewissheiten wie Ja zur Atomkraft und Wehrpflicht, Nein zur Homoehe, Türkenintegration und Mindestlohn, geschliffen worden.

Sicher, die SPD ist programmatisch auch nicht gerade bahnbrechend aufgestellt; für das Wahlprogramm von 2013 gab es 25% Wählerzuspruch.
Aber die Sozen sind wenigstens keine elitäre Anti-Minderheiten-Partei, die sich immer wieder als Antagonist zu Europa, den Einwanderern, den Schwulen und Lesben, den Alleinerziehenden, den Umweltschützern und Friedensliebenden inszeniert.
Daher zieht die SPD auch nach wie vor das bessere Personal an.
SPD-Kandidaten sind einfach nicht solche Arschlöcher wie die CDU-Leute. (Frei zitiert nach Regine Hildebrandt)

Man muß sich nur den letzten CDU-Granden, der gerade ein Regierungsamt räumen mußte, ansehen.

Rülpser der Arroganz
Dirk Elbers führte Wahlkampf, als ginge er nur ihn etwas an, jetzt ist seine Partei sauer auf ihn. Dass der CDU-Politiker die Oberbürgermeister-Wahl in Düsseldorf verloren hat, liegt nicht zuletzt an seinem selbstherrlichen Stil.
Er ist dann wirklich durch die kalte Küche geflohen vor seiner Stadt. Vor der fehlenden Zuneigung und auch vor dem Hass. Dirk Elbers war sechs Jahre lang Oberbürgermeister von Düsseldorf, einer Stadt, der es so gut geht wie keiner anderen in Deutschland: reich und schön, so sah man sich selbst und zeigte es auch gerne her. Allen voran der Oberbürgermeister, der so auftrat, als sei das alles sein Verdienst gewesen. […]
Dirk Elbers hatte ein unglaubliches Selbstbewusstsein, von dem nie ganz klar wurde, worauf es sich gründete. Wäre er so schlau gewesen, für wie er sich selbst hielt, dann wäre es vielleicht anders gekommen. Dann hätten ihn die Bürger am Sonntag nicht aus der Stadt gejagt: Nur 40,8 Prozent der Stimmen hat Elbers bekommen bei der Stichwahl, sein Gegner Thomas Geisel von der SPD erreichte fast 60 Prozent. Elbers verließ die Wahlparty im Rathaus über die Küche der Kantine.
[…] Elbers galt zuletzt als führend in der Pannenstatistik - über das Ruhrgebiet sagte er, dort wolle er "nicht tot über dem Zaun hängen".
[…] Er sprach von sich in der dritten Person, seine Wortmeldungen waren meist Rülpser der Arroganz. "Bei der Stichwahl werden wir sehen, wo Thomas Geisel ist - dann ist er weg", sagte Elbers. Jetzt ist der selbst Geschichte. […]

Elbers steht seinem Landeschef, dem arroganten Röttgen, der ganz NRW spektakulär an die Sozis verlor, in nichts nach.
Solche Typen will man nicht wählen – es sei denn man befindet sich in einem der beiden Freistaaten. Man muß an die unsäglichen pyknisch-peinlichen Protzverliebten des Schlages Stefan Mappus und Christoph Ahlhaus denken, die ihre beiden vorher mit riesigen CDU-Mehrheiten ausgestatteten Bundesländer verloren. Solche Typen will niemand, noch nicht mal die potentiellen CDU-Wähler.
Aber es ist eben auch nur die CDU, bzw CSU, deren Parteistrukturen solche Fettnapf-Affinen überhaupt in Spitzenämter befördert.
Bundesgesundheitsminister Gröhe? Verkehrsminister Dobrindt? Hier verbinden sich fachliche Inkompetenz, menschliche Abgründe und abstoßende Physionomie zu einem Konglomerat, das nur in der Union auf einen Ministersessel führt.
Auf dem Land mag das noch gut ankommen, gelegentlich.
Aber nicht mehr in der bunter werdenden urbanen Welt.

[….]  Doch ein Patentrezept für die CDU wird es kaum geben können. Schon deshalb nicht, weil die Klientel sich in Stadt und Land erheblich unterscheidet. Die CDU leidet auch deshalb unter einer "urbanen Schwäche", weil sich das Kernprofil der Partei ungeachtet aller Modernisierungsbemühungen der Kanzlerin weiter an herkömmlichen Familienmodellen orientiert. Jeder dritte Deutsche lebt inzwischen in einer Großstadt – und in diesen Städten gibt es immer mehr Singles und Alleinerziehende mit speziellen Bedürfnissen und Interessen. Moderne Stadtpolitik und der Kampf für günstige Mieten werden eher der SPD oder den Grünen zugute gehalten. [….] 

Der CDU fehlen eindeutig die Köpfe.
Denn Köpfe sind allemal wahlentscheidender als Programme.
Aber welcher kluge Kopf sollte in eine Partei der Schrumpfköpfe eintreten, bzw für die Partei der Schrumpfköpfe antreten? Da kann General Tauber lange an den Strukturen feilen.

Natürlich erfüllt die Reform der CDU jedes Klischee für hilflosen Aktionismus. Natürlich richtet Generalsekretär Peter Tauber nun Kommissionen ein, auf die gefahrlos die alte Weisheit gedichtet werden kann: Wenn einer nicht mehr weiter weiß, gründet er ’nen Arbeitskreis. […]  Volksabstimmungen allein machen noch keine Politik. Dazu braucht es auch künftig Politiker. […]
(Nico Fried, SZ vom 24.06.2014)