Freitag, 31. Mai 2019

Talking Points


Früher warf man den Regierenden gern die umständlichen, ungebräuchlichen langen Namen der Gesetze vor.
Es störe das deutsche Rechtsempfinden, wenn man die Bandwurmbezeichnungen nicht verstehe.
Alternative Investment Fund Manager – Umsetzungsgesetz, Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Umsatzsteuerschlüsselzahlenfestsetzungsverordnung, Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz,  "Gesetz zur Neuregelung des Verbots der Vereinbarung von Erfolgshonoraren" oder Finanzmarktstabilisierungsfortentwicklungsgesetz. Das zeige doch nur die Abgehobenheit der Politiker, wenn die sich solche Wortungetüme ausdenken.

Als Hippopotomonstrosesquippedaliophilist, abgekürzt  Sesquipedalianist, also jemand, der lange Worte mag und der Chemie studiert hat, ein Fach, in dem die Nomenklatur organischer Verbindungen ein eigenes großes Forschungsgebiet ist, können mich die Juristen kaum ins Bockshorn jagen.
Jahrelang wurde ich in jedem Kolloquium nach den korrekten IUPAC-Bezeichnungen (International Union of Pure and Applied Chemistry) komplizierter Moleküle ausgequetscht und muss zugeben, daß ich als einer der wenigen so pervers bin echten Gefallen an den Feinheiten der IUPAC-Bezeichnungen zu finden. Histidin ist für mich immer noch (S)-2-Amino-3-(1H-imidazol-4-yl) propansäure.

Seit einigen Jahren bemüht sich die SPD-Bundestagsfraktion darum absurd komplizierte Substantiv-Aneinanderreihungen bei Gesetzen zu vermeiden und ihnen Namen zu verpassen, die jeder versteht. Endlich Transparenz und Bürgernähe.
Daher gibt es nun das "Gute-Kita-Gesetz" oder das "Starke-Familie-Gesetz" aus dem Hause Giffey.

Selbstverständlich wird das den Sozis nicht gedankt, sondern erst Recht als „Volksverarsche“ diffamiert.
„Die Politiker“ nähmen die Bevölkerung nicht mehr ernst, ätzt insbesondere die von Juristen durchsetzte FDP.

[….] FDP-Haushälter Otto Fricke kritisierte diese Haltung. Die Empfehlungen im entsprechenden Handbuch des Bundesjustizministeriums sähen vor, dass die Überschriften von Gesetzen und Rechtsvorschriften "redlich" und damit sachlich zu formulieren seien, erklärte der Jurist in der "NOZ". "Durch die vom tatsächlichen Namen abweichende und in der Bezeichnung enthaltende normative Wertung unterläuft die Bundesregierung diesen Grundsatz", kritisierte FDP-Vorstand Fricke, der auch Rechtsanwalt ist.
"Die Strategie der Bundesregierung, die Bewertung eines Gesetzes gleich in dessen Vermarktungsnamen mitzuliefern, ist für eine Demokratie sehr gefährlich", fügte Fricke hinzu. "Sie sorgt dafür, dass man beim Gute-Kita- oder Starke-Familien-Gesetz automatisch den Vorwurf bekommt, man sei gegen das Ziel des Gesetzes, also gute Kitas oder starke Familien, wenn man eigentlich nur die konkreten Gesetzesinhalte hinterfragt." Das erschwere eine offene und faire Debatte, so der Abgeordnete. [….]

Während die FDP politisch und kleinkariert argumentiert, ist der schwerere Vorwurf soziologischer Art: Die SPD betreibe „framing.“
Da wird man schon eher hellhörig, denn kaum ein neuer Begriff wird so negativ konnotiert wie „framing“ – da assoziiert man sofort üble Propaganda, Goebbels und Riefenstahl-artige Manipulationen. Damit könne man hinterhältig den Menschen üble Dinge schmackhaft machen.



Wenn man von “Asylantenflut” oder “Flüchtlingswelle” oder „Migrationskatastrophe“ spricht, assoziieren die Zuhörer ganz anders, als wenn man von „Hilfesuchenden“ oder „Heimatvertriebenen“ spricht – obwohl faktisch dasselbe gemeint ist.

Die Hoffnung der SPD ist es durch einfachere „talking points“ wie „Gute-Kita-Gesetz“ effektiver als bisher „Agenda-Setting“ zu betreiben.
Viele englische, bzw denglishe Begriffe.
Gemeint ist, daß man andere Themen in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken möchte.
Tatsächlich gab es 2015-2018 viele andere wichtige politische Probleme, die aber insbesondere in der veröffentlichten Meinung kaum vorkamen, da das Megathema „Flüchtlinge“ zwei von drei Talkshows dominierte.
Offenkundig verstehen die Groko-Parteien CDU und SPD nicht die Mechanismen des Agendasettings. Die populistischere CSU ist fähiger, nutzt ihre Möglichkeiten aber nur negativ.
Versteht man es gute Talking Points zu kreieren, kann man wie im Europawahlkampf 2019 Klimaschutz und Digitalisierung zu Megathemen zu machen, die den Grünen zu einem Rekordwahlergebnis verhalfen.
Das Grüne Agendasetting war diesmal sogar besser als das Braune. Die AfD blieb hinter ihren Erwartungen zurück, konnte nicht mehr so effektiv wie vor zwei Jahren Xenophobie, Panik und Antiislamismus schüren.
Es ist erfreulich, wenn Grüne es schaffen ihre Themen zu pushen, aber man reibt sich auch die Augen, wenn Sozis wie begossene Pudel dastehen und beklagen, sie wären „mit ihren Themen nicht durchgedrungen.“
Es stimmt auch; soziale Gerechtigkeit, Respektrente, Altersarmut waren für die meisten Wähler offenbar nicht wichtig genug.

Generell sind Rechte und Rechtsextreme mit Hilfe ihrer Skrupellosigkeit oft Erfinder besonders mächtiger Talkingpoints.
„Bevölkerungsaustausch“ und „Islamisierung“ erregen Aufmerksamkeit.
Meister dieses Fachs sind natürlich die US-Republikaner, die es vermochten das Wort „tax“ so zu verdammen, daß sich kein Politiker mehr daran traut und das Dummvolk begeistert dafür stimmt die 1% der Superreichen von allen Steuern zu befreien.
„Socialism“ ist auch so ein Todschlagtalking-point, mit dem Teebeutler und GOPer es schafften dem Volk einzureden, eine allgemeine Krankenversicherung sei Teufelszeug.
Mit ihren Talkingpoints schaffen sie es sogar gleichzeitig für extrem strenge Regulierungen (Abtreibung, Gaymarriage) und das Gegenteil davon (Waffenrecht, Umweltschutz) zu argumentieren.

Ein Geniestreich ist der Slogan „pro-Life“ in der Debatte um legale Schwangerschaftsunterbrechungen, weil damit immer suggeriert wird, die anderen wären gegen das Leben an sich.

Bill Maher beklagt schon lange, daß seine Demokraten bei Vorwürfen aus dem rechten Spektrum sofort in den Hühnerhaufenmodus verfallen, statt sich mal unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu treffen und sich ihrerseits gute Talking Points auszudenken, die dann von allen demokratischen Politikern verwendet werden.


So wäre es an der Zeit Trumps Einfuhrzoll-Wahn nicht mehr mit der Unwirksamkeit der „TARIFFS“ zu kontern, sondern knallhart ausschließlich von „new Trump-Taxes“ zu sprechen.
Schließlich hassen GOPer nichts so sehr wie neue Steuern.
Ich halte so ein Agendasetting für möglich und wirksam.
Das würde dem Weißen Haus gar nicht gefallen, wenn bis zum November pausenlos von „Trump-Taxes“ gesprochen würde.
Leider sind aber die Demokraten ganz mies in der Kunst des Generierens von „Talking Points“.
Dabei bietet Trump so viel Angriffsfläche.

[….]  Trotzdem versucht Trump seit Monaten, die Zahl der Zuwanderer zu drosseln, um seiner nationalistischen Basis zu gefallen. Nichts aber zog bisher, weder Kinderhaft noch Mauerbau. Nun schwingt Trump seine härteste Keule: Strafzölle.
Bis jede illegale Einwanderung "gestoppt" sei, donnerte Trump, werde er alle Importe aus dem Durchgangsland Mexiko mit Zöllen belegen: Ab 10. Juni fünf Prozent, dann, ab 1. Juli, je fünf weitere Prozent pro Monat - bis im Oktober 25 Prozent erreicht wären. "Die USA sind ein tolles Land", begründete Trump die brachiale Drohung gegen den südlichen Nachbarn und engen Partner, "das sich nicht länger ausnutzen lässt".
Klartext: Trump macht Mexiko dafür haftbar, ein vertracktes Problem zu lösen, das die USA selbst in ihrer gesamten Geschichte noch nie lösen konnten.
Beiderseits der Grenze löste Trumps drastische Drohung Kopfschütteln, Befremden, sogar Panik aus. Was genau will Trump von Mexiko? Und was haben Zölle mit Migranten zu tun - zumal die dadurch entstehenden Mehrkosten bei den verzollten Waren dann von den Amerikanern getragen würden? [….] Die "New York Times" fasste die Irritation in einem Leitartikel zusammen: "Also besteuern wir die Amerikaner, bis Mexiko nicht länger zulässt, dass Menschen aus Zentralamerika von ihrem Recht Gebrauch machen, Zutritt zu den USA zu suchen?"
[….] Wie auch im Handelskrieg gegen China wäre das eine verheerende Entwicklung. Mexiko ist einer der wichtigsten US-Handelspartner, letztes Jahr flossen Waren im Wert von 671 Milliarden Dollar über die Grenze, davon mehr als die Hälfte Importe - Autos und Autoteile, Maschinen, Brennstoffe, medizinische Instrumente. Auch viele internationale Fertigungsketten kreuzen diese Grenze, vor allem in der Kfz-Branche. Kein Land exportiert außerdem mehr Agrarprodukte in die USA als Mexiko. [….]