Dienstag, 10. November 2015

Helmut Schmidt ist tot.



Wenn ein weltweit derartig bedeutender Mann wie Helmut Schmidt im Alter von fast 97 Jahren stirbt, ist keine Zeitungsreaktion unvorbereitet.
Die Nachrufe liegen in den Schubladen und erwartungsgemäß ergießt sich nun eine Flut von Laudationes über Deutschland.
Und womit? Mit Recht.
Da dies überall geschieht, erspare ich mir Schmidts Leitungen zu wiederholen und ihn persönlich zu lobpreisen.

In Deutschland betrachte ich drei Menschen als Vorbilder; Egon Bahr, Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt. Ich verwende Präsens, weil alle Publizisten waren und ihre Texte weiter existieren.
Helmut Schmidt lese ich seit 30 Jahren; ich habe eben gezählt; in meiner Bücherwand stehen inzwischen 34 Bücher von ihm.
Da Schmidt in den letzten beiden Dekaden zur Ikone wurde, die auch im 100. Interview damit bestach doch immer wieder etwas Neues und unfassbar Richtiges zu sagen, ist so viel über ihn bekannt, daß es die Moderatoren und Redakteure heute an seinem Todestag schwer haben nicht abgedroschene Formulierungen zu finden.

Nach erster Sicht der Texte möchte ich einige wenige Punkte ergänzen.
Schmidt war auch gegenüber Deutschlands engsten Freunden stets ehrlich und sachlich. Pragmatischer als man es in Israel oder Amerika hören mochte.
Noch heute wird ihm das übel genommen, wie man aus dem Nachruf der NEW YORK TIMES entnehmen kann:

Moreover, his intemperate criticism of Washington promoted neutralist, anti-American tendencies in his Social Democratic Party, which only helped undermine his chancellorship. [….] “I have always regarded myself as a reliable friend of the United States, but never have I misunderstood an alliance to be a system of control and command,” he said in a 1984 interview with The New York Times. “It’s rather a system of advice and consent, if I may borrow a phrase from your Constitution.”

Jimmy Carter ist noch heute stinksauer auf Helmut Schmidt, weil er sich von ihm nicht angemessen bewundert fühlte.
Während Schmidt also in Deutschland als absoluter Atlantiker wahrgenommen wird, beschwert man sich in Amerika noch heute über seine mangelnde politische Folgsamkeit.
Ein Problem, das Washington mit Kohl und Merkel nie hatte, das aber bekanntlich unter Schröder 2002/2003 wieder virulent wurde.

Schmidt war der Gegenentwurf zu den sehr national denkenden Außenpolitikern der USA; er war tatsächlich ein Weltbürger.

Jahrzehnte saß Schmidt dem von ihm und dem ehemaligen japanischen Premierminister Takeo Fukuda erdachten Interaction Council vor, dem nur ehemalige Staats- und Regierungschefs angehören und mit ihrer Erfahrung zur Lösung der Weltprobleme beitragen sollen.

The InterAction Council was established in 1983 as an independent international organization to mobilize the experience, energy and international contacts of a group of statesmen who have held the highest office in their own countries. Council members jointly develop recommendations and practical solutions for the political, economic and social problems confronting humanity.

The Council is unique in bringing together on a regular basis, and in an informal setting, more than thirty former heads of state or government. Serving in their individual capacities, the Council aims at fostering international co-operation and action in three priority areas:

    Peace and security
    World economic revitalization
    Universal ethical standards

The Council selects specific issues and develops proposals for action from these areas and communicates these proposals directly to government leaders, other national decision-makers, heads of international organizations and influential individuals around the world.

Eine bedeutende Tat des IAC ist die 1997 vorgeschlagene „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ als Ergänzung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor.
Es ist natürlich undenkbar, daß anti-intellektuelle Menschen wie Kohl oder Merkel in dieser Runde eine Rolle spielen könnten, oder gar zum Vorsitzenden aufsteigen könnten. Mal ganz abgesehen von sonstigen Regierungsblitzbirnen wie Berlusconi, Sarkozy oder gar George W. Bush.

Der deutsche Michel weiß über Helmut Schmidt, daß er frei von Pathos und völlig unprätentiös lebte. Während Typen wie Kohl oder Westerwelle auf ihre Privilegien und Titel pochen, ist Schmidt derartige Selbsterhöhung völlig fremd. Er lebte immer nur in seinem kleinen Langhorner Reihenhaus und ließ sich mit „Herr Schmidt“ anreden.
Während der RAF-Zeit setzten Loki und Helmut Schmidt Briefe auf, die für den Fall ihrer Entführung die klare Anweisung gaben nicht mit Entführern zu verhandeln. Sie waren bereit zu sterben.
Wir wissen alle, er war ein Macher, ein Erklärer, ein historisch versierter Mensch, der als „Weltökonom“ einer der wenigen Menschen war, der die globalen Finanz- und Wirtschaftsströme verstand.

Nicht ganz so ins Bewußtsein gedrungen ist, daß Schmidt auch ein richtiger Intellektueller war; ich würde sogar so weit gehen ihn als „Universalgelehrten“ zu bezeichnen; wohlwissend, daß der Begriff nach Leibniz eigentlich abgeschafft wurde. Er gründete nach seinem Ausscheiden aus dem Amt die geniale Freitagsgesellschaft und war bis zum Schluß auf alles neugierig; stellte den Menschen, die er traf kontinuierlich Fragen, sog Wissen jeder Art wie ein Schwamm auf.
Er war ein hochgebildeter Philosoph, in geradezu unheimlicher Weise belesen und dazu Kenner von Musik und Kunst, selbst ein guter Pianist.
Kaum einem bleibt es vergönnt über 96 Jahre bei klarem Verstand zu sein. Wenn man dazu noch hochintelligent ist und nichts vergisst, bildet sich ein Wissensschatz, den wir heute für immer verloren haben.
Das ist die Tragik.

Heute ärgere ich mich aber auch.

Ich ärgere mich über all die vielen „R.I.P.“-Postings in den sozialen Netzwerken, all das Ruhe in Frieden“ und „nun ist er mit seiner Loki wiedervereint“-Geplapper.
Helmut Schmidt war nicht religiös, glaubte ausdrücklich nicht an ein Leben nach dem Tod oder sonstige transzendentalen Schnickschnack.
Dazu war er viel zu intelligent und vertrat diese Auffassung vehement. Zuletzt vor genau einem Jahr, als sein atheistischer Freund Siegfried Lenz starb und Pfaffen bei dem Trauerakt auftrumpfen wollten.

Die Frechheit [Hauptpastor] Röders sogar trotz des Widerwillens der Witwe Psalmen zu verwenden, nach denen Gott für das Lenzsche Talent verantwortlich war, muß man erst einmal haben.
Wer Lenz‘ Bücher auch nur ein bißchen kennt, dem biegen sich bei der Predigt die Fußnägel hoch.
Scheinbar ist es so bei dieser Art Großbeerdigungen, daß es aber auch immer einen gibt, der die richtigen Worte findet.
Vorgestern war es wieder Helmut Schmidt, der seinen toten Freund tapfer gegen den Pfaff verteidigte.

Es war aber ebenfalls Helmut Schmidt, der sich einer wohlüberlegten Spitze gegen das christliche Zeremoniell in Hamburgs schöner Hauptkirche nicht enthalten konnte. Michel-Pastor Alexander Röder hatte einleitend von "wir Christen" gesprochen und eine nicht ganz passende Bibelstelle zum Zentrum seiner Rede gemacht: ein Gleichnis über fünf Zentner Silber, deren selbstlose Vermehrung durch uns "Knechte" mit der freudigen Einkehr beim Herrn belohnt werde.
Dieser Eingemeindung von Lenz ins Christliche musste Schmidt im Geiste der Aufrichtigkeit, die er als Kern ihrer Freundschaft beschrieb, widersprechen: Er und "Siggi", wie er Lenz konsequent nannte, seien sich immer darüber im Klaren gewesen, dass sie "keinen metaphysischen Trost erhoffen dürfen, der uns über die Vergänglichkeit hinweghelfen könne".
Keine andere Rede reichte an diese Mischung aus tiefer Betroffenheit und Reserve gegen falsche Trostworte heran. […]

Sehr erfreulich, wenn ein Mann in einer Kirche das Wort ergreift und den Pastor verbal auskontert.

Ich ärgere mich ebenfalls über die unzähligen diminuierenden Charakterisierungen Schmidts als „Raucher.“ Das Überhöhen dieser nun wirklich unwichtigen Eigenschaft Schmidts. Es gäbe 1000 wichtigere Aspekte zu nennen.
Das ist eine Primitivierung im Sinne der Assoziationswitze aus der untersten Schublade, die Pointen nach dem Muster, Calmund-dick, Inge Meysel-alt, Papst-katholisch, funktionieren.

Ich ärgere mich am meisten über selbstherrliche Jugendliche, Studenten und Jung-Redakteure, die sich auf Erika-Steinbach-Niveau begeben und sich aufgrund eines einzigen aus dem Zusammenhang gerissenen Satzes vor 35 Jahren anmaßen Schmidt verurteilen zu können.
Das sind Menschen, die offensichtlich viel zu ungebildet sind, um auch nur ein oder zwei Bücher Helmut Schmidts gelesen zu haben, die selbst noch nie irgendwo Verantwortung trugen, nie ein politisches Amt innehatten und aufgrund ihrer extrem eingeschränkten Weltsicht meinen sich Urteile erlauben zu können.
Nur wer nichts weiß, denkt er weiß genug, um zu beurteilen.
Helmut Schmidt tat das bis zum Schluß nie. Dinge, die er nicht beurteilen konnte, kommentierte er nicht, sagte sehr oft „Das weiß ich nicht!“.
Die Küken, die heute in unerträglicher Altklugheit auf Schmidt-kritisch machen unterliegen dem fatalem Irrtum Schmidt wäre ein Gott, den sie als einzige enttarnt hätten, weil er einmal etwas gesagt hat, das unter heutigem Licht merkwürdig wirkt.
Was für eine Albernheit.
Helmut Schmidt publizierte 70 Jahre lang, produzierte Millionen O-Töne, fällte Myriaden Entscheidungen. Entscheidungen, die oft nur eine Wahl zwischen „sehr schlecht“ und „besonders schlecht“ sein konnten, wie man es von der Schleyer-Entführung kennt.
Sich auf einen einzigen unglücklichen Satz zu kaprizieren, bedeutet im Umkehrschluss man erwarte von einem Menschen, der derartig viel geschrieben und geredet hat, sich niemals geirrt zu haben.
Was für eine Absurdität. Selbstverständlich hat Schmidt auch Fehler gemacht, manchmal Dinge falsch eingeschätzt (so wie beispielsweise den Erfolg der Grünen) und unter dem ungeheuerlichen Druck und Stress, unter dem er stand auch mal über das Ziel hinausgeschossen.
Da Schmidt aber klug war, hat er sich selbst auch nie als unfehlbar eingeschätzt und irgendwann doch anerkennend mit Joschka Fischer gesprochen.
Überhaupt auf die Idee zu kommen, daß ein großer Politiker über 96 Jahre hinweg vollkommen unfehlbar sein soll und nicht ein einziges mal missverständlich formuliert hat, ist bemerkenswert dämlich. Insbesondere wenn es von Mitzwanzigern kommt, die nie auch nur annähernd solche Probleme wie Schmidt zu lösen hatten und immer wieder selbst mit unsäglichen Fehlurteilen glänzen.
Nein, niemand ist unfehlbar und niemand macht immer alles richtig.

Aber Helmut Schmidt kam dem schon verdammt nahe.