Mittwoch, 25. November 2015

Chancen vergeben

Das ist schon eine richtig komplizierte Gemengelage im Nahen Osten.

Perser, Araber, Sunniten, Schiiten, Öl, Kolonialvergangenheit, extremer Reichtum und extreme Armut, geopolitische Interessen, Israel, Arabellion.
Seit über 100 Jahren greift „der Westen“ immer wieder massiv geostrategisch und militärisch im Nahen Osten ein, verändert willkürlich Grenzen und wechselt scheinbar völlig planlos seine Ziele und Allianzen.

Beispiel Iran:
Im August 1953 fegen die Briten und Amerikaner im Interesse westlicher Ölkonzerne, die weiter ganz allein die Profite mit Iranischem Öl einstreichen wollten, die demokratische Regierung Mossadegh weg.
Statt dessen unterstützten sie Schah Reza Pahlevi, der Folter einführte, eine extrem brutale Geheimdienstkrake installierte, Menschenrechte und Demokratie mit Füßen trat und diktatorisch die völlige Verwestlichung des Irans durchsetzte.
Die islamistische Volks-Revolution von 1979 mußte ja kommen. 
Anschließend betrachtete „der Westen“ Ajatollah Chomeini als Erzfeind, rüstete Irans Nachbarn Irak auf und drängte Saddam Hussein 1980 in den Iran-Irak-Krieg, der 800.000 Männer und Jungen aus dem Iran das Leben kostete.
Dieselben amerikanischen Leute, die wie Donald Rumsfeld Saddam hochgerüstet hatten, bekriegten anschließend den Irak und Afghanistan – also die beiden Nationen, die den vorherigen Erzfeind Iran im Osten und Westen begrenzten.
Inzwischen beliefern EU und USA den Hauptfinanzier des IS, nämlich Saudi-Arabien mit Waffen, um eben jenen IS gleichzeitig nebenan zusammen mit Saudi-Arabiens Erzfeind Iran zu bekämpfen.

Ähnlich schwachsinnige Volten schlug und schlägt der Westen in anderen Ländern der Region.
So wurden auch die Mudschaheddin in Afghanistan zunächst von der USA bewaffnet und angetrieben und anschließend bis aufs Blut bekämpft.

Schlau ist das alles nicht und führt dazu, daß „die Muslime“ allen Grund haben „dem Westen“ generell zu misstrauen.
Sie sind über Jahrhunderte von uns betrogen und ausgebeutet worden.

Klar, Araber und Perser sind auch nicht alle altruistische Friedensengel und haben einen Anteil Schuld an der Mega-Katastrophe, die wir jetzt vor Augen haben.
Doch diese Schuldzuweisungen sind irrelevant.

Ja, es hat schon Stammeskriege in Arabien gegeben, bevor der Westen seine willkürlichen Linien in den Sand gezogen hat. Es ist daher keineswegs sicher, dass im leicht entzündlichen Mittleren Osten alles besser wird, sobald der Westen es besser macht. Man kann auch lange darüber streiten, wie hoch der muslimische und wie hoch der westliche Anteil an der Misere ist, 60/40 oder 40/60? Aber was soll das bringen?
Fest steht zweierlei: Zum einen können wir eher unser Verhalten ändern als das der anderen. Zum Zweiten: Wenn ohnehin schon so viel Gift in Arabien und Persien steckt, kann niemals etwas daraus werden, wenn wir unser Gift auch noch weiter mit hineinspritzen. Und das haben wir in den letzten 100, 50, 20 und zwei Jahren getan.

Im Jahr 2015 wird das Elend des Nahen Ostens sichtbarer für uns, da es dermaßen elend wird, daß die Menschen bis zu uns fliehen.
Man staunt gewaltig.
Da’esh und andere Massenmörder sind doch nicht nur virtuell, sondern real.
Dagegen tun können wir nichts.
Militärisch ist der „IS“ nicht zu besiegen und der Verhandlungsweg steht de facto nicht offen, weil das grundsätzliche Vertrauen zwischen „Westen und Islam“ fehlt.
Wir halten sie ohnehin alle für Extremisten, die uns hassen und sie wissen um unsere Heuchelei; haben über ein Jahrhundert gelernt, daß wir ihnen immer wieder in den Rücken fallen.

Reflexhaft, feige und dumm versuchen sich nun Europäer und Amerikaner abzuschotten.
Diese Leute wollen wir nicht bei uns haben.
Profitieren von ihnen schon; indem wir dorthin Waffen exportieren und Öl kaufen; aber für das angerichtete Elend fühlen wir uns nicht zuständig.

Dabei sind die Flüchtlinge, die zu uns kommen ein Glücksfall für die europäische Ökonomie und Demographie.

Sie könnten aber auch in anderer Hinsicht ein Glückfall sein, indem sie nämlich das erste mal seit 100 Jahren wieder ein positives Bild des Westens erfahren und dies in ihre Heimat tragen.

Also muss man diese ungeheure Chance nutzen, um die Muslime und den Westen zu versöhnen. Endlich werden Araber in großer Zahl von Europäern, von Christen besser behandelt als von ihresgleichen. [Klar - die Majorität der Konfessionsfreien wird natürlich nicht erwähnt - T.] Darin liegt der politische Kern der Willkommenskultur: Was wir hier mit den Arabern machen, wird das Bild, das sie in der Region von uns haben, prägen. Das ist eine heikle Aufgabe und eine riesige Chance. Die braucht übrigens Zeit. Dass drei Länder in Europa seit drei Monaten Flüchtlingen mit einem freundlichen Gesicht und warmen Kleidern begegnen, verändert noch nicht die Welt. Es ist ein Anfang, ein fragiler dazu.
Wegen dieser historischen Aussichten wäre es äußerst kurzsichtig, nun zu versuchen, das leidlich freundliche Willkommen wieder in eine Abschreckungskultur zu verwandeln. Sollte diese Chance zur Versöhnung verspielt werden, entsteht so viel neue Wut, dass wir sie militärisch und geheimdienstlich nicht wieder einfangen können.

Bernd Ulrich erinnert in seiner langen Lagebeschreibung an die Folgen der Abkommen, die Helmut Schmidt und Willy Brandt mit den damals verhassten Osteuropäern trafen. Reisefreiheit.
Über die Jahre besuchten Millionen Westdeutsche die DDR und brachen damit automatisch tiefsitzendes Misstrauen auf.

Eine ähnliche Funktion dürften die Millionen Araber haben, die jetzt hierher kommen. Sie erzählen ihren Freunden und Verwandten daheim, wie das Leben auch sein kann, wie man ohne Bestechung eine Urkunde bekommt, was eine freie Presse ausmacht, wie gut die ärztliche Versorgung ist und wie wenig der Ungläubige dem Bild entspricht, das man sich gern von ihm macht. Auch wie ein toleranter Islam aussieht oder eine entgiftete Männlichkeit wird sich rumsprechen, auch wenn das zunächst nicht allen von ihnen gefallen wird. Zugleich werden die Daheimgebliebenen mit politischen Informationen versorgt, auch mit Geld, ganz dezentral und organisch.
Letztlich ist die Befürchtung fast obskur, dass die Flüchtlinge unsere Kultur islamisieren. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass auf diese graswurzelhafte Art der arabische Raum humanisiert, entgiftet und auf lange Sicht politisch verändert wird.

Unglücklicherweise sind wir aber zu dumm diese gigantische Chance zu erkennen.
Glauben, daß die eine Million Flüchtlinge die 80 Millionen Deutschen islamisieren, statt daß wir darauf vertrauen 80 Millionen Deutsche könnten eine Million Flüchtlinge demokratisieren.
Unser Denken, unsere Presse ist bereits bachmannisiert und verseehofert, wenn wir nur die Gefahren des Einflusses der wenigen auf uns viele sehen und die Chancen des Einflusses der vielen auf die wenigen gar nicht erst in Betracht ziehen.

Nein, es scheint, daß Europa dem Da’esh den Gefallen tun wollte, sich in Antiislamismus hineinziehen zu lassen und damit das beste Rekrutierungsprogramm für den Da’esh bilden.
So wie auch die 2001 und 2003 vom Westen angezettelten Kriege hervorragende Rekrutierungsprogramme für Osama bin Laden waren.

Statt „dem Islam“ unsere guten Seiten zu zeigen, bestätigen wir Vorurteile.
In der mehrheit der westlichen Länder, die ohnehin keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen wollen ist das sowieso das Signal.
Auch die Grenzabschottungen der EU, die Flüchtlinge zum myriadenfachen Tod auf dem Mittelmeer zwingen, bestätigen antidemokratische Vorurteile.
Und selbst in den zweieinhalb Ländern der EU, die etwas großzügiger agierten, zeigen sich die Christen/Demokraten/Kufrs/Westler von ihrer ekelhaften Seite.

In diesem Jahr kam es bis jetzt bereits zu 747 Angriffen auf Flüchtlingsheime – mehr als dreimal so viel wie im gesamten Vorjahr. Dass sich die wenigen ermittelten Täter häufig nur wegen Brandstiftung und nicht wegen versuchten Mordes verantworten müssen, sei ein fatales Signal.