Mittwoch, 14. Mai 2025

Deutsche Trumpisierung

So viel Selbstmitleid muss erlaubt sein. Mit einem US-amerikanischen und einem deutschen Pass, bin ich mit zwei Regierungen hart geschlagen. Trump und Vance, sowie Merz und Dobrindt. Zwar bin ich schon lange Leidenszeiten gewöhnt, aber Angela Merkel, die ich stets hart kritisierte und deren Politik ist für falsch und fatal hielt (und halte), hat mich seelisch nicht so stark abgestoßen. Ich konnte es ertragen, sie in der Tagesschau zu hören, nahm ihre Bilder in Zeitungen achselzuckend wahr. In der Hinsicht war der selbstgefällige Fettnapf-König Kohl schlimmer, aber das war glücklicherweise vor dem Social-Media-Zeitalter, so daß man ihn nicht 24/7 hören und sehen musste.

Söder, Merz, Dobrindt, Bär, Linnemann, Spahn, Trump, Vance, Rubio, RFK, Graham, Johnson, Cruz, MTG, Boebert, Hegseth hingegen, lösen psychosomatische Schäden aus. Wenn ich ihnen länger als ein paar Minuten zuhöre/sehe, setzen bei mir Schwindelanfälle und Kopfschmerzen, sowie schwere Magenverstimmungen ein, deren kein SSRI mehr Herr wird. Dafür braucht es schon Benzodiazipine, aber ich will schließlich nicht in einer Beau Rivage-Badewanne landen; mit dem Zeug muss man vorsichtig sein.

[….] Diese Regierung wird, umrankt von der üblichen Mutprosa, irgendwie so weitermachen wie bisher: In der Migration wird der Kurs noch einmal verschärft, über das hinaus, was die Ampel schon getan hat. Merz hat seine Hauruck- und Grenzen-dicht-Rhetorik etwas heruntergedimmt, man kann ja schlecht MigrantInnen rüde in Nachbarländer zurückweisen und sich gleichzeitig dafür feiern, Europa jetzt richtig voranzubringen.

Merz will ein außenpolitischer Kanzler werden. Sein Weltbild wirkt dafür etwas antiquiert: China taucht als Rivale auf, Trump als Partner, dem der Kanzler mit freundlichen Telefongesprächen den Weg in die westliche Wertewelt heimzuleuchten hofft. Es dauert noch eine Weile, bis Deutschland in der neuen, postwestlichen Weltordnung ankommt. Merz’ Regierungserklärung macht einen Hohlraum sichtbar, diese Regierung der Mitte ist programmatisch leer.  [….]

(Stefan Reinecke, 14.05.2025)

Es hilft ja nichts; als Politjunkie kann ich dem drohenden News-Fatigue nicht durch Vogelstrauß-Methodik entgehen. Und so verfolge ich gruselnd, wie Merzens-Dilettanten-Truppe durch ihre ersten Tage debakuliert.

[….]  Mehr als zwanzig Mal fiel das Wort „Verantwortung“, das es mit dem Zusatz „für Deutschland“ bekanntlich auch in den Titel des Koalitionsvertrags geschafft hat. Wie schwer diese Verantwortung wiegt, bekam Merz gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft zu spüren.   Auf seiner Reise nach Warschau erlebte er, wie schnell sich Misstöne ins hohe Lied der Freundschaft schleichen, wenn die deutsche Migrationswende auf anders gelagerte polnische Interessen stößt. Auch in Brüssel begegnete ihm Skepsis angesichts der deutschen Haltung, Migranten ließen sich an deutschen Grenzen zurückweisen, und das gar europarechtskonform. Der Ruf nach Eurobonds zur gemeinschaftlichen Verteidigungsfinanzierung, die Merz rundweg ablehnt, dürfte ebenfalls nicht verstummen, nur weil der neue Kanzler so gerne den Zusammenhalt in Europa zur Priorität beschwört.  Und dann ist da natürlich noch der Großkonflikt mit Putins neo-imperialistischem Russland. Merz’ Ukraine-Reise zusammen mit seinen Kollegen aus Frankreich, Polen und Großbritannien – mit dem US-Präsidenten am Telefon – war der richtige Auftakt für seine Kanzlerschaft, die einen außenpolitischen Schwerpunkt haben wird; daraus macht er kein Hehl. Dass Moskau sich bislang von diesem Vorstoß allerdings kaum beeindrucken lässt, zeigt deutlich, auf welch unwegsamem Gelände der neue Kanzler außenpolitisch unterwegs sein wird. [….]

(Henrike Roßbach, 14.05.2025)

Am schlimmsten ist es, sich nicht in Ruhe zurücklehnen zu können, um den Absturz der Christdemokratioten zu genießen, sondern man muss dieser Koalition tatsächlich Erfolg wünschen, wenn man sich nicht in naher Zukunft in einer rechtsextremen Autokratie wiederfinden will. Das fällt aber verdammt schwer, wenn man sieht, wie Dobrindt und Co die Vorhaben umsetzen, die man seit Monaten als absoluten Schwachsinn entlarvt hat, aber ganz tief ins sich drin gehofft hatte, die CDUCSUler könnten ja eigentlich nicht wirklich so dumm sein, das wirklich zu versuchen. Sie sind es aber offenkundig doch, wie Dobrindts illegale menschenrechtsantagonistische Pushbackszeigen. Natürlich ist das alles Bullshit, der in der Praxis gar nicht funktionieren kann.

[….] Eklat an der Grenze: Polen verweigert Übernahme von Asylbewerbern aus Deutschland[….] Der Streit um die Abweisung von Asylbewerbern an der Grenze verschärft sich. Schon vergangene Woche hat Polens Ministerpräsident Donald Tusk dem deutschen Kanzler Friedrich Merz beim Antrittsbesuch in Warschau klargemacht, was er vom neuen deutschen Grenzregime hält: nicht viel jedenfalls.

Nun hat sich der polnische Grenzschutz nach SPIEGEL-Informationen am Montagmorgen geweigert, zwei Asylbewerber zurückzunehmen, die von der Bundespolizei zurückgeschickt werden sollten. Die Deutschen verzichteten auf einen weiteren Versuch und leiteten die beiden Afghanen stattdessen in eine Erstaufnahmeeinrichtung weiter.  Damit stellt sich die Frage, ob es sich um einen Einzel- oder Sonderfall handelt. Oder ob Polen – und auch andere Länder wie Österreich und die Schweiz, die das neue deutsche Grenzregime kritisieren – die Praxis von Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) künftig flächendeckend blockieren könnten. Die polnische Regierung steht dabei unter besonderem Druck, weil am 18. Mai im Nachbarland ein neuer Präsident gewählt wird und die Migrationspolitik auch in Polen ein dominierendes Wahlkampfthema ist.

Der Vorfall, der die neue deutsche Grenzpolitik exemplarisch vor die Wand laufen lassen könnte, ereignete sich am Montag um 5.45 Uhr in Guben, Brandenburg. Wie aus einem Bericht der Bundespolizei hervorgeht, hatten Beamte »in unmittelbarer Nähe zur Eisenbahnbrücke«, die dort über die Neiße und die Grenze zu Polen führt, zwei Afghanen im Alter von 20 und 23 Jahren aufgegriffen.  Die beiden Männer hatten keine gültigen Aufenthaltspapiere dabei und gaben an, gerade über die Brücke gekommen zu sein. Kurz danach sagten sie den Polizisten, sie wollten Asyl in Deutschland beantragen. [….] Entsprechend wollten die Bundespolizisten auch die beiden schon eingereisten Afghanen nach Polen zurückschicken, trotz Asylgesuchs. Erfolg hatten sie damit nicht: »Nach schriftlicher Anbietung lehnte der polnische Grenzschutz dies ab«, heißt es in dem Bericht der Bundespolizei. Daraufhin hätten die Beamten die Afghanen zur Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt weitergeschickt. [….]

(Jürgen Dahlkamp, 14.05.2025)

Man möchte Dobrindt die Blamage gönnen. Aber man kann und darf sich eben nicht freuen, wenn die EU geschwächt wird, Deutschland in Brüssel gehasst wird und die Weidel-Nazis wieder Grund haben, zu feixen und höhnen.

[….] Die Opposition ist Kanzler Merz nach dessen Regierungserklärung scharf angegangen. [….] Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge hat der neuen schwarz-roten Regierung zunächst Erfolg gewünscht - "denn dieses Land hat das verdient", sagte sie nach der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz im Bundestag.  Dann warf sie dem neuen Kanzler allerdings vielfaches Versagen vor. "Die Politik, die Sie in den letzten Jahren gemacht haben, war an vielen Stellen eine Politik, die auch verbrannte Erde hinterlassen hat", sagte Dröge. Merz' Wahlkampf habe an zentralen Stellen auf Falschaussagen beruht. Sie erinnerte an die gemeinsame Abstimmung der Unionsfraktion mit der AfD beim Thema Migration.

Oft habe Merz polarisiert, sagte Dröge. Er habe Stimmung gemacht, "gerade gegen diejenigen Menschen in diesem Land, die gesellschaftliche Minderheiten sind, gegen Arbeitslose, gegen Menschen mit Migrationsgeschichte und gegen Geflüchtete".  An den Kanzler gewandt sagte Dröge: "Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Kanzler aller Menschen in diesem Land sind." Sie erwarte von Merz, dass er Brücken baue. "Gerade ein Bundeskanzler muss für alle Menschen da sein, gerade für die Schwächsten in diesem Land. Und daran werden wir Sie messen."

Dröge warf Merz konkret vor, mit schärferen Grenzkontrollen und Zurückweisungen von Asylbewerbern die europäische Kooperation aufzugeben. "Im Kern ist das die Aufkündigung der europäischen Zusammenarbeit in der Asylpolitik." Im Kern sei das eine Politik, "die sagt, Deutschland macht seins und die anderen können mal sehen, wo sie bleiben."

Weder Kanzleramtsminister Thorsten Frei von der CDU noch Vizekanzler Lars Klingbeil von der SPD hätten zudem in der Regierungsbefragung beantworten können, ob Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) plane, "europäisches Recht zu brechen". Dröge warf Dobrindt vor, sich mit den angeordneten Zurückweisungen, "einfach über europäische Verträge hinwegzusetzen".[….]

 (Tagesschau, 14.05.2025)

Dienstag, 13. Mai 2025

Goldig!

 

Ende der 1980er brauchte ich für meine erste eigene Wohnung einen neuen großen Kleiderschrank und bekam über drei Ecken den Tipp „Geh mal nach Domäne hin, die haben gute Sachen und sind billiger als IKEA“.

Das Googlen und Navi-Fahren war noch nicht erfunden, also ließ ich mir genau erklären, wie man in den nächsten Domäne Einrichtungsmarkt GmbH & Co. KG (ab 2008 POCO) und staunte nicht schlecht. Nachdem ich zwei Etagen nur Teppiche gesehen hatte, erreichte ich die Schlafzimmerabteilung und die scheußlichsten Ensembles, die es gibt. Allerbilligste Materialen, alles nur Plastik und Polyester, aber dafür umso reicher mit Gold, Ornamenten und Blumen verziert. Muster, knallige Farben, die Augenkrebs auslösen. Überall Glitzer, Funkeln und Goldfarbe. Natürlich nicht etwa aus Swarowski-Kristallen, sondern tatsächlich aus Plastik und entsprechender Bemalung. Ich konnte es nicht fassen. Das konnte doch niemand freiwillig kaufen. Aber ich bemerkte auch schnell meine eigene Arroganz, denn viele Kunden gingen mit strahlenden Augen durch die Auslagen, bewunderten die satanischen Designs und nickten anerkennend bei den Preisschildern. Mir fiel eine Schulfreundin ein, mit der ich Weihnachten immer ein paar Stunden zu ihren verarmten Großeltern fuhr (sie hatte kein Auto). Im Jahr zuvor hatte sie mir gesteckt, daß die sich zwei neue Kaffeetassen wünschen und als ich nachfragte, (Farbe, Stil), sagte sie ganz sachlich „du kennst doch Oma und Opa, möglichst scheußlich“. Das funktionierte wirklich bei ihnen. Ich suchte die scheußlichsten verziertesten kreisch-orangen Tassen aus, die ich finden konnte und sie waren begeistert. Domäne in den 1980ern wäre ihr Paradies gewesen. Da gab es überbordende Scheußlichkeit im Überfluss. Gleichzeitig verstand ich auch da erst das IKEA-Konzept: Das war der Gegenpol, für alle Menschen mit schmalen Geldbeutel, die NICHT unter schwerer Geschmacksverirrung litten und cleanes, schlichtes Design ohne bunte glitzernde Bordüren wollten. Normalos, die zu Hause genug Gelsenkirchener Barock gesehen hatten.

Mein Vater hatte mir damals den rassistischen Ausdruck „nigger rich“ zugeflüstert. So nannte man in seiner Jugend in den USA abscheulichen Einrichtungsgeschmack der Unterschicht, des White (und sonstigen) Trashs, die es nicht besser wußten und sich auch nichts besseres leisten konnten.

Als US-Amerikaner darf ich sagen, daß schlechter Geschmack nach wie vor eine der unbestrittenen Stärken meiner Landsleute ist. Sicher, das Land ist heterogen und insbesondere an den Küsten gibt es auch Menschen mit ausgezeichneten Geschmack. Aber jeder, der schon mal auf HGTV und Co in US-amerikanische Einrichtungs- und Immobiliendokus gestolpert ist, kennt den Hang zu absolut scheußlichen Klamotten und Möbeln. Insbesondere die Reichen toben sich bei der Deko aus, daß man als Europäer schreiend wegrennen möchte. Gold, Glitzer, Kronleuchter, Kristall, Messing. Ganz schlimm.


Daß Trump raffgierig und korrupt ist, weiß jeder und muss an dieser Stelle nicht extra dargelegt werden. Kriminalität und Bestechung sind die Apotheosen seines gesamten geschäftlichen und politischen Seins. Es geht ihm immer um sich und seine persönliche Bereicherung. Immer noch staunen kann ich aber über seine enorme Plumpheit. Daß er seine Gier und Prahlerei so gar nicht kaschieren kann. 



Daß er es nicht bemerkt, wie alle ihn für seinen grauenvollen Kitsch-Geschmack auslachen. 


Wie sein berühmt-berüchtigtes Apartment im New Yorker Trump-Tower, wie in Mar A Lago, dem Palast der Scheußlichkeit, verwandelte er in 100 Tagen auch das Oval Office in eine groteske Gold-Show der geschmacklichen Primitivität.


So, und nur so, erklärt sich auch die 400 Millionen-Dollar-Bestechung aus Katar. Er nimmt die Boeing 747 als neuen Regierungsflieger an, weil das Ding von innen ebenfalls grotesk mit Gold verziert ist. Die bisherigen Air Force Ones sind nach seinem Geschmack viel zu schlicht. Er mag es goldig.





Und ganz wichtig; nach dem Ende seiner Amtszeit, darf der fliegende Gold-Palast natürlich nicht an seinen Amtsnachfolger übergehen, sondern er wird den Jet privat als seine „Bibliothek“ behalten, um weiter damit fliegen zu können.



Montag, 12. Mai 2025

Gute gute Nachrichten

Vielleicht habe ich auch schon einen inneren Tiktok-Algorithmus in meinem Hirn, der meine Gedanken stets um die empörendsten und negativsten Entwicklungen mäandern lässt. Daran herrscht wahrlich kein Mangel, wenn man zu einem beliebigen Zeitpunkt durch die aktuellen News scrollt.

Ich bin schon so destruktiv, daß gute Nachrichten für mich in schlechten Nachrichten für andere bestehen: Rechtsextreme, die Wahlen verlieren, Rekord-Kirchenaustrittszahlen, abstürzende US-Wirtschaftsdaten und, auch wenn ich keine Namen nennen will, einige spektakuläre plötzliche Todesfälle wären mir durchaus wollkommen.  Aber ich bin schließlich auch ein Ketzer, der ewig in der Hölle schmoren wird; was will man da erwarten?

Als gute Nachricht, empfand ich gestern auch die schlechte Nachricht für Saskia Eskens Karriereplanung. Endlich hat die Jammer-Kampagne, die bösen SPD-Männer gehen nur so schlecht mit mir um, weil ich eine Frau bin, ein Ende.

[….] Saskia Esken kandidiert nicht mehr als SPD-Vorsitzende. Sie sagte am Abend exklusiv dem ARD-Hauptstadtstudio, es sei für sie an der Zeit, der SPD Raum für Erneuerung zu geben. [….]  Sie wolle insbesondere für junge Frauen in der SPD Platz machen. "Das ist ein Weg, den ich für mich so im Laufe der letzten Tage und Wochen entwickelt habe." Esken kündigte aber an, ihr Mandat im Bundestag, in dem sie seit 2013 sitzt, zu behalten.

Auf die Frage, ob sie sich angesichts der Kritik der vergangenen Wochen ungerecht behandelt fühle, sagte Esken: "Ich glaube, dass Frauen in der Politik insgesamt anders beurteilt werden und auch härter und kritischer betrachtet werden als Männer." Frauen müssten "in einem hohen Maße männlich geprägten Rollenklischees" genügen. "Da müssen wir uns als Frauen auch dagegen verwahren." [….] Seit 2019 ist Esken Parteichefin. Sie gehört damit zu den am längsten amtierenden SPD-Vorsitzenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren nur Kurt Schumacher, Willy Brandt und Sigmar Gabriel länger im Amt. [….] In den vergangenen Wochen hatte es parteiintern teils heftige Kritik an Esken gegeben, die in ihrem Wahlkreis Calw als Direktkandidatin nur 12,9 Prozent der Erststimme geholt hatte. [….] (Tagesschau, 11.05.2025)

Es ärgert mich, wie Esken die Frauen-Karte spielt. Natürlich trifft es zweifelsfrei zu; Frauen werden immer noch in Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft und Politik strukturell benachteiligt. Weltweit wird Leo XIV. als neuen Chef von 1,4 Milliarden Katholiken zugejubelt. Dabei wäre der einzig richtige Umgang mit einem Verein, der so systematisch und apodiktisch Frauen ausschließt, seine vollständige Ächtung.

Eskens nur noch homöopathisch messbare Beliebtheit hat aber nichts mit ihrer Weiblichkeit zu tun, sondern mit ihrem unangenehmen Charakter und ihrer mangelhaften Eignung. Wer persönlich mit ihr zusammenarbeiten muss, mag sie nicht und bei öffentlichen Auftritten wirkt sie auf Wähler abschreckend wie Fußpilz und Mundfäule zusammen. Gerecht oder ungerecht, Frau oder Mann: Damit ist frau als Parteichefin ungeeignet.

Nach dieser guten schlechten Nachricht über Esken, trudeln nun aber sogar zwei gute gute Nachrichten von der SPD ein. Bärbel Bas wird die neue Esken und Tim Klüssendorf wird neuer Miersch. Ich bin großer Klüssendorf-Fan.

Oder das Lübecker Nordlicht Tim Klüssendorf (*1991), der für die SPD im Bundestag sitzt.

[….] Nach meinem Abitur 2011 an der Ernestinenschule am Koberg und meinem Bundesfreiwilligendienst beim Lübecker Jugendring von 2011 bis 2012 bin ich zum Studium nach Hamburg gependelt. An der Universität Hamburg habe ich zunächst (2012 bis 2015) einen Bachelorabschluss in Volkswirtschaftslehre und anschließend (2015 bis 2018) einen Masterabschluss in Betriebswirtschaftslehre gemacht. Meine inhaltlichen Schwerpunkte im Studium waren vor allem Mikroökonomie, Verhaltensökonomie, Unternehmensführung, Medien und Marketing.  [….]

(Tim Klüssendorf)

Vor einem dreiviertel Jahr versuchte ich bereits, ihn zum Chef hochzuschreiben.

(….) Notwendig ist ein personeller Neustart, der bedauerlicherweise ausgerechnet bei den noch am meisten lösungsorientierten Grünen anfing. Esken, Klingbeil und Mützenich müssten auch in Rente gehen. Kühnert soll in den Parteivorsitz aufrücken und die Rest-Linken (Reichinnek, Korte, Gürpinar, Pau, Renner) endlich in die SPD aufnehmen. Die neue Bundestagsfraktionsführung sollte aus Jan Dieren, Metin Hakverdi, Tim Klüssendorf (als Vorsitzendem), Helge Lindh, Robin Mesarosch, Rasha Nasr und Gülistan Yüksel bestehen.  (…)

(Probleme, Verursacher, Blockierer, Abhilfe, 27.09.2024)

Wie man sieht; Prognosen sind schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen. Ich wußte im September nichts vom Ampel-Aus, nichts von Kühnerts Ausscheiden aus der Politik und nichts vom enormen Comeback der Linken.

Aber wenigstens bekomme ich ein bißchen was.

[….] Für SPD-pur-Positionen ist ab sofort Tim Klüssendorf zuständig. Der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD ist erst seit 2021 Bundestagsabgeordneter. Er arbeitete für die Fraktion ein Konzept zur gerechteren Besteuerung von großen Vermögen aus und warb früh, unter anderem in der taz, dafür, sehr Reiche stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Auf dem Bundesparteitag im Dezember 2023 überraschte er mit dem Antrag für eine Vermögensabgabe im Leitantrag. Die Delegierten stimmten dafür, obwohl die Führung um Klingbeil und den damaligen Generalsekretär Kevin Kühnert alle Register gezogen hatte, um dies zu verhindern.

„Das hat mir damals schon imponiert, dass jemand in seiner ersten Legislatur sagt, ich habe hier mitzureden“, blickte Klingbeil am Montag zurück. Und wandte bei Klüssendorf jenen Kniff an, mit dem er auch schon Kühnert diszipliniert hatte: Statt ihn kleinzumachen, beförderte er den Rebellen in die Hausleitung.

Ganz unerfahren ist Klüssendorf nicht: Als Mitarbeiter des Lübecker Oberbürgermeisters modernisierte er die Rathausverwaltung mit 4.000 Mitarbeitenden. Ab sofort ist Klüssendorf Chef der SPD-Parteizentrale mit 200 Mitarbeitern, die einer bei der Bundestagswahl schwer gedemütigten Partei mit rund 360.000 Mitgliedern neuen Schwung verleihen soll. Der Lübecker bekannte, er habe „einen riesigen Respekt vor dieser Aufgabe“, an die er mit Demut und Selbstbewusstsein gehe.  [….]

(Anna Lehmann, 12.05.2025)

Klüssendorf wird jetzt als der smarte Linke, der neue Kühnert geframt.

Das Bild erscheint mir etwas schief. Für mich besticht er insbesondere durch Unaufgeregtheit und ökonomische Fachkompetenz. Er ist das Gegenmodell zu den Voodoo-Ökonomen der CDU, die frei von der Realität, frei von Fachkenntnis, frei von Wahrheit Lobbyinteresse bedienen.


(….) Aber zurück zur CDU, die mit einer Klage ihrem Schuldenbremse-Fetisch frönte und damit gleichzeitig die Deutsche Ökonomie in den Abgrund stieß.

Seither piesackt sie die Ampel mit immer kostenintensiveren Ausgabenwünschen, will aber gleichzeitig weniger einnehmen (Steuersenkungen) und keinesfalls Schulden aufnehmen.

Voodoo-economics nach dem Beispiel der Schildbürger. Tim Klüssendorf rechnete aus, wie Merzens Mannen allein in den letzten fünf Wochen 90,5 Milliarden Euro Mehrausgaben verlangten.

Tim Klüssendorf (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, die Meinungen in dieser Debatte sind ausgetauscht.

(Johannes Steiniger [CDU/CSU]: Du sprichst jetzt einfach nur zur Erbschaftsteuer!)

– Ich wollte nicht zur Erbschaftsteuer reden, diesmal nicht, Herr Steiniger. – Der Kollege Schrodi hat auf die verfassungsrechtlichen Bedingungen hingewiesen. Ich glaube, wir sind hier gar nicht so weit auseinander. Das muss man jetzt auch nicht künstlich aufbauschen. Es ist nett, dass Sie den Antrag geschrieben haben, aber nötig gewesen wäre er aus meiner Sicht nicht. Was man aber einmal zum Thema machen könnte – jetzt komme ich nicht zur Erbschaftsteuer, sondern zu anderen steuerpolitischen Vorschlägen –, sind die steuerpolitischen Ideen der Union, die sich in eine Reihe von Anträgen einfügen, die wir im Finanzausschuss und auch hier zu beraten haben. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, sie aufzulisten. Ich rede jetzt nicht über die Anträge, die in den letzten zweieinhalb Jahren hier im Plenum von Ihnen eingebracht worden sind, sondern nur über die letzten fünf Wochen.

Ich fange an mit dem Wirtschaftswendepapier vom 10. April 2024, in dem Sie unter anderem auch die Senkung der Steuern für im Unternehmen verbleibende Gewinne fordern: 14 Milliarden Euro. Natürlich fordern Sie auch die Senkung der Stromsteuer auf ein dauerhaft europäisches Minimum: 8 Milliarden Euro. Jetzt sind wir schon bei 22 Milliarden Euro.

(Johannes Steiniger [CDU/CSU]: Das sind keine 8!)

Sie fordern auch die Halbierung der Netzentgelte: 5,5 Milliarden Euro. Dann sind wir schon bei 27,5 Milliarden Euro. Letzter Punkt in dem Papier ist die Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent des Arbeitslohns. Man weiß nicht genau, wie Sie das kompensieren wollen, ob aus Steuergeldern oder durch Leistungskürzungen. Nehmen wir an, Sie wollen das aus Steuergeldern kompensieren, dann sind das nochmal 15 Milliarden Euro. Dann wären wir schon bei 42,5 Milliarden Euro. Natürlich haben Sie sich nicht lumpen lassen und zwei Wochen später noch die echte Wirtschaftswende gefordert, nicht nur eine Wirtschaftswende, sondern die echte Wirtschaftswende. Dort haben Sie final die Streichung des Solidaritätszuschlages vorgesehen: 13 Milliarden Euro. Nun sind wir schon bei 55,5 Milliarden Euro.

Zwei Wochen später wurde das aber noch durch den Bundesparteitag getoppt, auf dem Sie die Senkung der Einkommensteuer, die Tarifverschiebung nach rechts beschlossen haben: 35 Milliarden Euro. Ich weiß nicht, ob jemand mitgerechnet hat: 90,5 Milliarden Euro in fünf Wochen. Was ich jetzt vernachlässigt habe, ist, dass Sie auch die Beschlusslage herbeigeführt haben, dass der Anteil der Länder und Kommunen an den Gemeinschaftssteuern erhöht werden soll. Sprich: Der Bund bekommt weniger, Länder und Kommunen bekommen mehr. Das ist nicht beziffert, deswegen schwierig, zu berechnen. Sie wollen auch mehr Geld für die Bundeswehr ausgeben und eine Stärkung der Sicherheitsbehörden und der Justiz. Ich frage mich eigentlich, wie Sie Steuerpolitik betreiben. Ist das hier Schrotflintenschießen? Ist das „Wünsch dir was“? Gucken Sie sich den Wunschzettel einmal an! Was soll daraus eigentlich werden? Ich weiß nicht, ob Sie die Regierungsfähigkeit hier komplett verloren haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sie müssen das Wachstum gegenrechnen!)

Mit dem Kompensationsvorschlag Bürgergeld wird das Ganze nicht zu machen sein. Wenn ich mir allein die Differenz zwischen Hartz IV und Bürgergeld anschaue, dann sind das 5 Milliarden Euro.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Kalkulieren Sie doch mal das Wachstum hoch!)

Davon kann man nicht einmal die Hälfte, noch nicht einmal ein Viertel, noch nicht einmal ein Zehntel dessen bezahlen, was Sie hier vorgeschlagen haben. Die richtigen Ideen wären – deswegen trage ich sie der Vollständigkeit halber einmal kurz vor –, endlich die Schuldenbremse zu reformieren, die uns so sehr bremst,

(Beifall bei der SPD)

die unseren Wohlstand zurückhält, endlich die höchsten Erbschaften und Vermögen ordentlich zu besteuern, wovor Sie sich drücken, und die Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener ordentlich zu besteuern. Das stand erst in Ihrem Programm, jetzt steht es nicht mehr drin. Sie waren eigentlich einmal auf dem richtigen Pfad. Jetzt ist nur noch „Wünsch dir was“. Damit wird es nichts. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Bundestagsrede Klüssendorf, 16.05.2024)

Recht hat er, der junge Sozi. (…)

(Schwarzgelbe Voodoo-Finanzvorstellungen, 29.05.2024)

Exakt einen Monat später wissen wir es sicher: Klüssendorf lag richtig, Merz plapperte Unsinn.

Sonntag, 11. Mai 2025

Der Bundeskanzler erstaunt.

Wir wissen vieles über Merz; einiges überrascht aber auch.

Bekanntlich ist der Mann Regierungsazubi, war noch nicht einmal Dorf-Bürgermeister. Gleichzeitig hält er sich selbst aber für so fabelhaft, daß er keine Notwendigkeit empfindet, sich irgendetwas erklären zu lassen. Er rennt einfach mit „Hoppla, jetzt komme ich“-Attitüde los.

[…..] In Warschau empfängt ihn am frühen Mittwochabend Donald Tusk, Polens Ministerpräsident. Der rote Teppich ist ausgerollt, die Ehrenformation ist angetreten, jetzt sollen Merz und Tusk die Reihe der Soldaten abschreiten. Aber Merz weiß nicht so genau, wohin. Er steht ein Stück vor dem roten Teppich.  Tusk gestikuliert, weist ihm den Weg, Merz betritt den Teppich, die beiden gehen ein paar Schritte, dann macht Tusk eine Kehrtwende, Merz zögert, wieder zeigt ihm Tusk, wo es langgeht. Die beiden schreiten die Formation noch einmal ab, dieses Mal in die andere Richtung. Bei Merz sieht das etwas unsicher aus, dann fasst er Tritt. Ist eben alles nicht so einfach. Im Kleinen nicht und im Großen schon gar nicht.  [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

Keine Überraschung stellt ferner die mangelnde Fachkompetenz des Kanzlers dar. Unglücklicherweise gehören viele Journalisten zu den Einfaltspinseln, die aus der Tatsache, daß Merz einst sein Adressbuch verscherbelte, um bei Blackrock Grüßonkel zu werden, fälschlicherweise schließen, er verstünde etwas von Wirtschaft und Finanzen. Dabei ist Merz gerade auf dem Themenfeld völlig ahnungslos, was sich unter anderem daran zeigte, daß er dem Rest der Welt im Wahlkampf weismachen wollte, massive zusätzliche Investitionen und Steuersenkungen könne er ohne Schulden wuppen.

Wir wissen außerdem nur zu genau, daß Merz unter chronischer Chef-Attitüde leidet, sich damit kontinuierlich unbeliebt macht. Untergebene staucht er im Befehlston zusammen, hinterlässt überall Verletzungen. Dieses Verhalten fällt ihm immer mal wieder auf die Füße, wie die 18 Gegenstimmen aus dem ersten Kanzlerwahlgang eindrücklich beweisen. Aber der knapp 70-Jährige ist geistig viel zu unflexibel, um sich noch zu ändern. Wo er hinkommt, zerschlägt er mit unbedachten Äußerungen Porzellan, weil es ihm grundsätzlich an Intelligenz mangelt, um die Folgen seiner Aussagen und seines Tuns strategisch abzuschätzen. In dieser Hinsicht ist er Merkel und Scholz hoffnungslos unterlegen.

[….] Doch in Brüssel trat er betont selbstbewusst, stellenweise breitbeinig auf. Sollte seine Europapolitik so aussehen, wie der Kanzler am Freitag geredet hat, dürfte es nicht lange dauern, bis es in Brüssel kracht. [….] Gleich am ersten Tag nach seiner Amtseinführung leitete Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) eine Verschärfung der Kontrollen an den deutschen Grenzen an, Menschen ohne Anrecht auf Asyl sollen dort gleich zurückgewiesen werden. Die »Welt« berichtete gar, Merz habe eine nationale Notlage ausgerufen. [….] Der Kanzler bekam kurz darauf bei seinem Antrittsbesuch in Warschau zu hören, was Polens Ministerpräsident Donald Tusk davon hält: nichts.   

[….] Den dritten Dämpfer verpasste Merz den anderen Europäern bei der Frage, ob man den aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit einer erneuten gemeinsamen Schuldenaufnahme begegnen sollte, ähnlich wie in der Covidpandemie. Vor allem Frankreich wünscht sich das. Für Merz aber kommt das nicht infrage. [….]  »Da gibt es auch nicht überall einen Konsens zwischen Deutschland und Frankreich.«

Ein solcher fehlt auch bei einem weiteren brisanten Thema, bei dem Merz prompt die Saat für den nächsten Krach legte. Diesmal ging es um das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz, das Unternehmen verpflichten soll, auch bei ihren Zulieferern auf die Einhaltung von Menschenrechten zu achten. [….] »Wir werden in Deutschland das nationale Gesetz aufheben«, sagte er, als er neben von der Leyen stand. »Ich erwarte auch von der Europäischen Union, dass sie diesen Schritt nachvollzieht und diese Richtlinie wirklich aufhebt.« [….] Schon der Ton stieß manchem sauer auf. »So kann Herr Merz mit einem CDU-Kreisverbandsvorsitzenden im Sauerland reden, aber nicht in Brüssel mit der Präsidentin der EU-Kommission«, sagt Grünenparteivize Sven Giegold, der zuvor lange Jahre EU-Abgeordneter war.

Auch von Merz’ sozialdemokratischen Koalitionspartnern kommt Kritik. »Im Wahlkampf ist grobschlächtiges Auftreten Teil des Geschäfts, aber der Wahlkampf ist vorbei«, sagt René Repasi, Chef der SPD-Gruppe im EU-Parlament. »So funktioniert Europapolitik nicht. Man kann seine Wünsche vortragen. Aber kein Land ist groß genug, um in der EU per Ansage Dinge durchzusetzen.«  [….] Merz aber insistierte schon bei seinem Auftritt mit Ratspräsident Costa, dass eine bloße Verschiebung »keine Antwort« sei, sondern nur »eine vorläufige Lösung des Problems«. Denn: »Die dauerhafte Lösung des Problems muss darin bestehen, diese Richtlinie schlicht aufzuheben.«

Die Pressekonferenz beendete Merz dann kurzerhand selbst, ganz so, als sei er der Gastgeber: »So, vielen Dank und auf manches Wiedersehen.« Der düpierten Moderatorin aus Costas Team blieb nur noch, schnell »danke schön« zu sagen. [….]

(Markus Basler, 09.05.2025)

So weit, so hanebüchen. So weit, so erwartbar.

Der Bundeskanzler erstaunt mich aber auch. Ich habe ihm jede Kurzsichtigkeit, Eitelkeit zugetraut, weiß von seinen enormen charakterlichen Mängeln und dem völligen Fehlen jeder Regierungserfahrung, seiner fachlichen Inkompetenz. Allerdings hatte ich dann erwartet, es gäbe in der CDUCSU-Fraktion doch so viel Erfahrung, um sich zumindest an den ganz wichtigen Tagen, auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Müsste Merz nicht, nach dreieinhalb Jahren als Partei- UND Fraktionschef nicht gelernt haben, Verantwortlichkeiten zu delegieren und zumindest IRGENDJEMAND in der Fraktion die Dinge wissen zu lassen, die er nicht weiß? Offenbar nicht. Daß er im ersten Kanzlerwahlgang durchrauschen könnte, war gar nicht bedacht worden. Niemals wußte, wie es in so einem Fall weiter geht, welche Fristen zu bedenken sind.

[…..]  Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang gescheitert. Ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie konnte das passieren? [….] Merz und Klingbeil wissen nicht, wer diese 18 Abweichler sind. [….] Merz im ersten Wahlgang durchgefallen. Der Mann, der jahrelang auf diesen Tag hingearbeitet hat. Der schmerzhafte Niederlagen einstecken musste, aber nie aufgab. Der unbedingt Kanzler werden wollte. Der seine loyale Unterstützerin Julia Klöckner zur Bundestagspräsidentin machte. Sie hat jetzt den Apparat unter sich, der besser als irgendwer sonst wissen müsste, was in so einer Lage zu tun ist. Und sein engster Vertrauter, der designierte Kanzleramtschef Thorsten Frei, war gut drei Jahre lang Fraktionsmanager. Er sollte die Spielregeln kennen, die an diesem Tag gelten. Oder nicht?

Sie wissen es nicht, sie sind schlecht vorbereitet, wie Eingeweihte hinterher einräumen. Sie haben sich darauf verlassen, dass alles schon gut gehen würde. Es ist ein Elend. [….] Teilnehmer der Runde berichten später, dass sich Klöckner sicher gewesen sei. Ein zweiter Wahlgang am selben Tag sei nicht möglich. So sehen es die Regeln vor. Was Klöckner offenbar nicht geprüft hat oder nicht erklärt: dass man von den Regeln abweichen kann. [….] In der Unionsfraktion gibt es keinen Mangel an Juristen. Sie studieren auf ihren Handys das Grundgesetz, lesen die Geschäftsordnung des Bundestags. Und fragen sich, warum eigentlich ein zweiter Wahlgang noch an diesem Tag ausgeschlossen sein soll. Im Regelwerk finden sie keine Hinweise. [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

Nicht nur wußte niemand, wie es rechtlich weitergeht. Hinzu kommt auch noch die sträfliche Arroganz, eine fachfremde Weinkönigin und Theologin zur Bundestagspräsidenten gemacht zu haben und das kleine Einmaleins des Parlaments nicht zu beherrschen. Keiner kannte die Geschäftsordnung und als man endlich darüber Klarheit hatte und Dummerle-Julia darüber aufklärte, daß man diese Geschäftsordnung auch ändern könne, hatte niemand in der Union die entsprechenden Kontaktdaten, um die Grünen und die Linken zu erreichen. Obwohl man doch just noch vor ein paar Tagen bei der Aushebelung der Schuldenbremse erlebt hatte, daß man sie braucht, um eine Zweidrittel-Mehrheit zu erreichen. Die parlamentarische Inkompetenz der Merzianer verblüfft sogar mich.

[…..] Aber Entschlossenheit allein bringt ihn seinem Ziel nicht näher. Aus eigener Kraft kann er sich nicht erlösen, das wissen sie in der Union. Sie sind auf Hilfe angewiesen, der Opposition ausgeliefert. Jenen Leuten also, die sie, als die noch in der Regierung waren, zu Ideologen erklärt haben, den Grünen. Und jenen, die sie teilweise immer noch für Extremisten halten, den Linken. [….] Was nun beginnt, ist eine Art von chaotischer Pendeldiplomatie, die auf den wenigen Quadratmetern der Fraktionsebene im dritten Stock des Reichstagsgebäudes stattfindet. Ein improvisiertes Kammerspiel. [….] Spahn und Dobrindt bitten per SMS um ein Gespräch mit den beiden Fraktionsvorsitzenden. [….] Dröge und Haßelmann schleichen sich unauffällig aus der Fraktionssitzung, die anderen tagen weiter. Die Fraktionsmanagerin Irene Mihalic leitet die Runde. Auf einmal geht die Tür auf, und die Bundestagspräsidentin kommt herein. Nein, die beiden Vorsitzenden seien nicht da, sagt Mihalic. Die Situation ist nicht ohne Komik. Klöckner verlässt den Grünensaal und irrt weiter über die Fraktionsebene. [….] Aber die Linken muss Merz schon selbst überzeugen. Sie haben dem CDU-Chef nicht verziehen, wie er eilig die Mehrheiten des alten Bundestags nutzte, um sein gewaltiges Schuldenpaket durchzupeitschen. Um auf keinen Fall mit den Linken zusammenarbeiten zu müssen. Jetzt ist er auf sie angewiesen.

[….] Formal sind die Linken für die Union genauso aussätzig wie die rechtsextreme AfD. Die Union schließt eine Zusammenarbeit mit den Linken aus. [….] Alexander Hoffmann, der neue CSU-Landesgruppenchef, erinnert sich an ein gemeinsames Fernsehinterview am Rande der ersten Sitzung des neuen Bundestags. Damals hat er sich mit Heidi Reichinnek gestritten, der Fraktionschefin der Linken. Mit der könne er sicher reden, glaubt er. Viel ist das nicht, aber es muss jetzt genügen. [….] Sein Vorgänger Dobrindt kann ebenfalls etwas beitragen. [….] Er kennt Janine Wissler so gut, dass er auf sie zugehen könnte, glaubt er. Es gibt nur ein Problem: Janine Wissler, die ehemalige Linkenchefin, hat kein Amt mehr. Seit gut einem halben Jahr führen andere die Partei. In der Fraktion ist sie einfache Abgeordnete. Doch sie wird dazugeholt. Es geht jetzt nicht mehr um protokollarische Feinheiten, sondern ums politische Überleben. [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

Samstag, 10. Mai 2025

Mutter aller Popanze

Waldorf und Statler wurden in der samstäglichen Schwennicke-Haider-Kolumne reinkarniert. Wie die Originale, scheinen auch die beiden Chefredakteure nur Schaumstoff im Kopf zu haben. Die beiden CDU-Sockenpuppen sind wie „Hauser und Kienzle“ in der humorreduzierten „Hauser und Hauser“-Version. Beide lieben gleichermaßen abgöttisch Friedrich Merz, halten Klima und Krieg für zu vernachlässigende Scheinprobleme. Für sie gibt es nur zwei Parameter für Deutschlands Wohlergehen:

Erstens „Ausländer raus“ und zweitens „Wirtschaftswachstum“. Unglücklicherweise gehören sie zu den Einfaltspinseln, die aus der Tatsache, daß Merz einst sein Adressbuch verscherbelte, um bei Blackrock Grüßonkel zu werden, fälschlicherweise schließen, er verstünde etwas von Wirtschaft und Finanzen. Dabei ist Merz gerade auf dem Themenfeld völlig ahnungslos, was sich unter anderem daran zeigte, daß er dem Rest der Welt im Wahlkampf weismachen wollte, massive zusätzliche Investitionen und Steuersenkungen könne er ohne Schulden wuppen.

[…..] Schwennicke: Die Kollegin Franziska Reich hat zutreffend geschrieben, er habe einen Hang zum Kamikazehaften. Das ist sein Naturell. Macht ihn authentisch. Aber eben auch verwundbar.

Haider: Und all das, was dadurch passiert, nährt das Gefühl, dass Merz sein großes Ziel nicht erreichen wird, die Wählerinnen und Wähler wieder zurück in die demokratische Mitte zu holen.

Schwennicke: Das halte ich für offen und noch für möglich. Entscheidend dabei wird sein, ob er und Schwarz-Rot schnell, nämlich bis zur Sommerpause, erste kleine Erfolge bei Wirtschaft und Migration erzielen können. Dann können je nach Prädisposition verlorene Wählerinnen und Wähler sowohl für die Union als auch für die SPD zurückgewonnen werden.

Haider: Ich glaube, die einzige Chance, die die Regierung hat, ist, dass sich die Weltlage irgendwie beruhigt. Sonst droht Merz ein ähnliches politisches Schicksal wie Scholz.

Schwennicke: Das sehe ich anders. Er muss zu Hause liefern  […..]

(Hamburger Abendblatt, 10.05.2025)

Was solche Leute sich unter „Erfolge bei der Migration“ vorstellen, ist klar: Martialische Bilder, die verzweifelte abgewiesene Menschen zeigen, die nach Österreich, Belgien und Polen backpusht werden. Das soll dem angebräunten Wähler vorgaukeln, Dobrindt greife durch. Das befriedigt sadopopulistische Tendenzen des Urnenpöbels.

Tatsächlich ist so eine Politik natürlich eine Katastrophe, weil sie für massiven Ärger innerhalb der EU sorgt und damit den Zusammenhalt in Brüssel enorm schwächt.

Die Asylbewerberzahlen waren in Wahrheit, ganz im Gegensatz zu dem falschen Eindruck, den Haider und Schwennicke erwecken wollen, unter Nancy Faesers Maßnahmen bereits massiv zurück gegangen.

Die Merz-Dorindtschen Grenzkontrollen sind ein extrem teurer und extrem personalaufwändiger PR-Stunt. Dabei wird nur an den offiziellen Übergangspunkten kontrolliert.

Deutschland hat aber insgesamt 3.876 km grüne Grenze. Das ist unmöglich zu überwachen; die „bösen Buben“ gehen selbstverständlich ohnehin nicht über die wenigen offiziellen Übergangsstellen, an denen es Kontrollen gibt.

Statt also die EU-Partner zu verärgern und sinnlos Geld für Show-Aktionen zu verplempern, muss man die Ursache für Migrationsdruck bekämpfen. Das bedeutet insbesondere Klimaschutz, also ausgerechnet das, was Merz nicht tun will.

[….] Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz hat Wort gehalten: Am ersten Tag seiner Amtszeit hat er, wenn auch in der Kommunikation etwas verstolpert, seinen Innenminister ankündigen lassen, dass es ab sofort verstärkte Kontrollen an den deutschen Grenzen geben wird. Auch Menschen, die um Asyl bitten, könnten demnach in bestimmten Fällen zurückgewiesen werden.

Das ist genau der Bruch mit der bisherigen Migrationspolitik, den Merz im Wahlkampf versprochen hatte. Es ist auch die von ihm schon lange ersehnte Abkehr von der Flüchtlingspolitik seiner Nemesis Angela Merkel. Nach dem Kurswechsel bei der Schuldenbremse und dem Stolperstart bei der Kanzlerwahl musste Merz diesen Schritt vollziehen – seine Glaubwürdigkeit hätte sonst weiter gelitten.

Die Symbolik dieses Manövers kann also kaum unterschätzt werden. Symbolisch ist der Schritt aber auch deswegen, weil sich die unmittelbaren Auswirkungen, nun ja, in Grenzen halten dürften: Schon jetzt kommen nur noch wenige Asylsuchende an den deutschen Grenzen an, die Maßnahmen der gerade abgelösten Regierung zeigen Wirkung. [….] Die aktuellen Zahlen sind aber wichtig für die juristische Bewertung der nun verkündeten Maßnahmen. Die Union hat das Erfordernis einer Migrationswende immer mit einer „Überforderung“ begründet – der Kommunen, der Sozialsysteme, des Wohnungsmarkts. Nur: Wenn man von Überforderung sprechen will, dann ist diese ja längst eingetreten durch all die Menschen, die bereits im Land sind. So leben in Deutschland derzeit allein 1,25 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Die vordringliche Antwort auf diese schon vorhandenen Anforderungen lautet aber nicht „mehr Grenzpolizisten“, sondern: mehr Wohnungen, mehr Kitaplätze, mehr Sprachkurse. [….] Fraglich ist auch, wie lange die Verschnaufpause an den Grenzen anhalten wird. Es dürfte nicht lange dauern, bis Gerichte die neuen Maßnahmen prüfen müssen. Die europäische Ausnahmeklausel, auf die sich Merz für die Zurückweisungen an der Grenze offenbar stützen will, setzt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit voraus – fraglich, ob die Bundesregierung damit vor Gericht durchkommt. Ein nationaler Alleingang wird die Probleme der europäischen Migrationspolitik aber so oder so nicht lösen können. [….]

(Karoline Meta Beisel, 09.05.2025)

Aber, wie Prof Maja Göpel sagt: „Wo sollen die Menschen denn hin?“

Das Problem lässt sich nicht mit Mauern und Deportationen lösen.

Zumal gerade Deutschland am 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus wissen sollte, wie wichtig es ist, daß Flüchtlinge Zuflucht finden.

Zumal gerade Deutschland für die Fluchtursachen maßgeblich mitverantwortlich ist.

Zumal gerade Deutschland unbedingt sehr viel mehr Migration braucht. Wir sind das Land der Geronten – zu wenige Fachkräfte, zu wenige, die in die Rentenkassen einzahlen. 500.000 Migranten müssen jedes Jahr hierher kommen.