Freitag, 7. Oktober 2022

Kawumm!

Das kenne ich natürlich schon aus den USA. Die GOPer geben sich nicht einmal mehr die geringste Mühe, ihre hanebüchenen Lügen wenigstens etwas plausibler klingen zu lassen. Das müssen sie nicht. Sie leben ohnehin alle in ihrer Hassblase, zu der die Realität keinerlei Zugang hat.

Die Republikaner haben sich von der streng antikommunistischen, russlandfeindlichen Partei amerikanischer Patrioten, über mehre Zwischenstufen, zum heutigen in Putin verliebten, antiamerikanischen Mob entwickelt, der gegen Polizei. Justiz und FBI hetzt.

Putin und Trump sind die weißen alten anti-woken Sehnsuchtsmänner der christlichen Rassisten in vielen Teilen der (noch) demokratischen Welt.

Um ausgerechnet die beiden als strahlende moralische Vorbilder und Friedensengel zu stilisieren, braucht es eigentlich eine erhebliche Menge psychogener Drogen. Allerdings funktioniert auch eine 1:1-Mischung aus Dummheit und Boshaftigkeit.

Dem selbsternannten christlichen Philosophen und Aufklärer David Berger, verdanken wir nicht nur eine strengen Fäkaliengeruch über Berlin-Schöneberg, sondern auch die bahnbrechende Erkenntnis, der bösartige Ukrainische Präsident Wlodomir Selensjyj habe den Krieg gegen das unschuldige Russland angezettelt, weil er danach strebe, einen Atom-Weltkrieg zu entfesseln.

[….]  Der ukrainische Präsident Selenskyj zündet nun die nächste Eskalationsstufe seiner Agenda, mit der er die übrige Welt an der Seite der Ukraine in den totalen Weltkrieg zerren möchte.  Die Nato müsse es, so Selenskyj bei einem Auftritt vor dem Lowy Institut, Russland einen Atomwaffeneinsatz unmöglich machen. Das gehe notfalls nur mit atomaren Präventivschlägen: [….] Hinzukommt, dass Selenskyj kurz vor der nun Schlagzeilen machenden Äußerung „The Guardian“ ein Interview gegeben hat, in dem er die USA sehr eindeutig auffordert Putin mit Atomwaffen zu vernichten:   Dass in der neuesten Ansprache das Wort „atomar“ direkt nicht fällt, aber eindeutig aus dem Zusammenhang hervorgeht, passt zum durch und durch demagogischen Agieren Selnskyjs. Und er weiß auch ganz genau: Selbst ein nicht-nuklearer Präventivschlag der Nato gegen Russland wäre der endgültige Ausbruch des Dritten Weltkriegs, der sehr schnell zum Einsatz nicht nur nuklearer, sondern teilweise noch viel gefährlicherer moderner Waffen führen würde. Kurzum: Die Aussagen Selenskyjs sind geradezu apokalyptisch-diabolischer Natur.

Nun müsste auch dem Letzten aufgehen, dass es sich bei Selenskyj um einen gefährlichen Wahnsinnigen handelt. [….] Inwieweit das Statement des Ukrainers mit Biden & Co (bzw. der Schattenregierung unter Führung des notorischen Kriegstreibers Obama) abgesprochen war. Und da sieht es leider düster aus. [….]

(PP, 07.10.2022)

Marjorie Taylor Greene gefällt das

Über Putins Motive und den weiteren Kriegsverlauf lässt sich deswegen so viel schreiben, so viel behaupten, weil ohnehin alles Spekulation ist. Alternde Generäle werden genauso bei CNN in die Pundit-Runden, wie in deutsche Talkshows gesetzt. Man brennt darauf, von ihnen erhellt zu werden. Generäle müssen sowas schließlich wissen.

[….] Es ist dort nun ein neuer Typ des Experten unterwegs: der General a.D.  [….] Das Desinteresse ist der Erkenntnis gewichen, dass man die Bundeswehr womöglich doch für andere Dinge gebrauchen könnte als nur für das Stapeln von Sandsäcken. Und ehemalige Generäle sind zu zentralen Experten in den Medien geworden. Sie kommentieren, analysieren und diskutieren einen Krieg, den sie selbst nie führen mussten.   In der Bundeswehr gibt es einen Sammelbegriff für Generäle, die ihren letzten Zapfenstreich hinter sich haben und sich danach, aus Langeweile oder Sendungsbewusstsein, kommentierend von der Seitenlinie melden. Man nennt sie das Lodenmantelgeschwader, [….] Das klingt dann zum Beispiel so: »Zerstören, das können die Russen. Geradeaus fahren, Walze, Walze, Walze, reinschlagen, und dann haben wir Tschetschenien oder Aleppo.« [….] »Die Sprachlosigkeit des Ministeriums öffnet eine Flanke für uns Ehemalige«, sagt Domröse. Für einen Augenblick muss man überlegen, ob er über einen Panzerangriff redet oder über Sendezeit im Fernsehen. [….] Brigadegeneral [….] Vad sagt: »Die Eindimensionalität der deutschen Außenpolitik, die Fokussierung auf Waffenlieferungen, macht mich fassungslos.« [….] Zur jüngsten ukrainischen Gegenoffensive sagt er: »Das sind regional begrenzte Vorstöße, aber aus meiner Sicht wird es der ukrainischen Armee nicht gelingen, die Russen zurückzudrängen. Der Donbass wird sich ohne Kriegseintritt der Nato nicht zurückerobern lassen.«  Und zur Frage, wie dieser Krieg enden könnte: »Man wird da nur politisch rauskommen, mit Verhandlungen. Man wird Russland als Nuklearmacht militärisch nicht besiegen können.«  Das ist die Rolle, die Vad in Talkshows übernimmt. Er wird immer wieder eingeladen, obwohl er schon grandios falsch lag. »Militärisch gesehen ist die Sache gelaufen«, sagte er kurz nach Russlands Überfall. »Und meine Bewertung ist, dass es nur um ein paar Tage gehen wird und nicht mehr.« [….]

(Spiegel 41/2022, 05.10.2022)

Eins sollte aber klar sein, wir sollten nun dringend auch das Undenkbare denken.

Die alte Gewissheit; nach der alle Atommacht-Chefs so rational sind, niemals tatsächlich einen Atomkrieg zu beginnen, war schon mit Kim und Trump dahin. Bevor die Ukraine brannte.

Nun haben wir aber auch noch einen in die Ecke gedrängten Putin, von dem kurioserweise ausgerechnet die europäischen Bellizisten, die unbedingt die Ukraine militärisch unterstützen möchten, ganz sicher zu wissen glauben, daß er nicht zuerst eine Atomrakete abschießt.

Das hätte ich vor 20 Jahren, vor zehn Jahren, vor fünf Jahren und auch noch vor zwei Jahren ebenfalls unterschrieben.

Im Jahr 2022 glaube ich das nicht mehr und halte eine russischen Atomwaffeneinsatz mit jeder höhnischen Meldung über die Unfähigkeit der russischen Armee, über debakulierende Moskauer Militärs und triumphale Verkündigungen Kiews, für wahrscheinlicher und wahrscheinlicher.

[….]  Wie weit Putin bereit ist zu gehen, hat er bereits durch die Mobilmachung gezeigt. Es ist wahrscheinlich seine bisher unpopulärste Entscheidung. Selbst die Gewissheit, dass er dadurch viel Unterstützung im eigenen Volk verlieren wird, hat den Kremlherrscher nicht abgeschreckt. Das Lewada-Zentrum hat die Russen zu ihren Gefühlen seit der Mobilmachung gefragt, fast die Hälfte der Befragten empfand "Beunruhigung, Angst, Entsetzen", 23 Prozent fühlten "Schock", 13 Prozent "Wut".   [….]

(SZ, 07.10.2022)

Wenn Putin aber schon ohne zu zaudern, seine heimische Machtbasis riskiert, ist nicht erkenntlich, wieso er bei noch schlechterem Kriegsverlauf vor einer Mini-Nuke zurückschrecken sollte..

[….]  Die Lage ist für Putin so prekär, dass der Kremlherrscher zur ultimativen Drohung griff: »Falls unsere territoriale Integrität angegriffen wird und wir Russland und das russische Volk verteidigen müssen, werden wir sicherlich auf alle Waffensysteme zurückgreifen, die wir haben«, sagte Putin bei der Ankündigung der Mobilmachung vor zweieinhalb Wochen. »Dies ist kein Bluff.« [….] Der Westen hat es mit einem Kremlherrscher zu tun, der nicht mehr nur um Prestige und Einflusssphären kämpft, sondern um das nackte Überleben. Wenn er den Krieg in der Ukraine verliert, muss Putin um seine Macht fürchten. Das macht die Lage so gefährlich. Als Ex-Kanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche einen ihrer seltenen öffentlichen Auftritte absolvierte, warnte sie eindringlich davor, die Drohungen Putins nicht ernst zu nehmen.

US-Präsident Joe Biden ging am Donnerstag sogar noch weiter und verglich die Lage mit der atomaren Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion auf Kuba vor 60 Jahren. »Seit Kennedy und der Kubakrise hatten wir nicht mehr eine derartige Aussicht auf ein Armaggedon«, sagte Biden bei einer Spendenveranstaltung der Demokraten. [….] Dass Biden nun öffentlich von »Armaggeddon« redet, ist das bislang deutlichste Signal aus Washington, wie ernst die US-Regierung die Gefahr einer Eskalation mit Nuklearwaffen nimmt. Er kenne Putin ziemlich gut, sagte Biden am Donnerstag. Und der Kremlchef scherze nicht, wenn er über den potenziellen Einsatz taktischer Atomwaffen sowie Chemie- und Biowaffen spreche, da das russische Militär in den Kampfhandlungen in der Ukraine schwächele. [….] Erstmals seit Langem werden nun in Washington, Berlin und Paris wieder Szenarien durchgespielt, wie eine nukleare Katastrophe aussehen könnte. Es fallen wieder Wörter, die mit dem Kalten Krieg in den Geschichtsbüchern verschwunden schienen: Erstschlag, radioaktiver Niederschlag, Abschreckung. [….]

(SPON, 07.10.2022)

Ich kann mir gut vorstellen, wie in ein paar Jahren die verbliebenden 10% der einstigen europäischen Bevölkerung um die letzten Iod-Tabletten kämpfen und sich fragen, wieso sie sich 2022 nicht vorstellen konnten, daß es wirklich zum Atomkrieg kommt. Und wieso einem angesichts über sieben Milliarden Toten nicht völlig egal war, ob die Ukraine zu Russland gehört.

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Danke Andrij Melnyk

 Wir erleben gerade eine Häufung großpolitischer Dilemmata.

Ist es pazifistisch, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern? Oder unterstützt man nicht womöglich gerade mit der Verweigerung von Panzerlieferungen, einen Kriegstreiber?

Ist es mit den humanistischen Grundüberzeugungen vereinbar, ausgerechnet bei den antidemokratischen, frauenverachtenden Scharia-Regimen Flüssiggas zu kaufen und alle Augen, inklusive Hühneraugen, zuzudrücken, wenn dort Regimegegner totgepeitscht und Schwule gesteinigt werden? Oder nimmt man eher das Sterben in der Ukraine in Kauf, bezieht Nordstream2-Gas, weil in Russland wenigstens Frauen gleichberechtigt sind und Schwule nicht für das Schwulsein an sich hingerichtet werden?

Können wir bei rasant fortschreitender Erderwärmung, tödlichen Hitzesommern, schmelzenden Gletschern, steigendem Meeresspiegel und immer mehr Extremwetter-Toten weltweit, unsere CO2-Dreckchleudern wieder anwerfen und Garzweiler-Dörfer wegbaggern, weil die Grüne Landesregierung nun auf Braunkohleabbau setzt? Oder muss die Bekämpfung des Klimawandels Toppriorität haben, auch wenn dann bei gesprengten Pipelines im Winter womöglich das Licht ausgeht?

Kann man ausgerechnet als Sozialdemokrat einen 100-Milliarden-Wumms für die Bundeswehr und einen 200-Milliarden-Doppelwumms für die Energiekonzerne bezahlen, während für die Sanierung maroder Schulen, bessere Bezahlung von Pflegekräften und sozialer Sicherung verarmter Senioren kein Geld da ist? Oder muss man genau das tun, weil ohne den Trippel-Wumms bald kein Deutschland mehr da wäre, in dem man Menschen in Altersarmut besserstellen könnte?

Muß man als FDP-Finanzminister 300 Milliarden Euro unter Verwendung dubioser Buchungstricks in Schattenhaushalte schieben, auch wenn Lindner das als Oppositionspolitiker als Todsünde am Bundestagsrednerpult zerrissen hätte? Oder beharrt man auf Schwarzer Null und nimmt dafür die gewaltigste Rezession seit 80 Jahren in Kauf?

Muss man als sozialdemokratischer Politiker ein Herz für die möglicherweise eine Million ausländischen Pflegerinnen in deutschen Haushalten haben, die für umgerechnet einen Euro die Stunde arbeiten und 24/7 verfügbar sind? Muss man nicht dringend Arbeitsgerichtsurteile umsetzen und dafür sorgen, daß diese ausgebeutete Polinnen und Ukrainerinnen und Weißrussinnen tariflich bezahlt werden? Oder soll man vor möglicher Ausbeutung polnischer Arbeitskraft die Augen zudrücken, weil man anderenfalls eine Millionen zu Hause lebender Pflegebedürftiger dazu verurteilen würde, gegen ihren Willen „ins Heim“ zu ziehen, obwohl es diese Heimplätze gar nicht gibt und dann außerdem all die Polinnen und Rumäninnen arbeitslos würden?

16 Jahre Merkelsche Untätigkeit haben Deutschland an so vielen Stellen in eine so schwierige Lage gebracht, daß sich weiteres Aussitzen verbietet, auch wenn nur die Wahl zwischen sehr schlechten und katastrophal üblen Entscheidungen bleibt.

Ein weiteres Dilemma bilden nun die Flüchtlinge aus Russland. Ganz sicher lebten sie schon seit Jahren nicht mehr in einem freien Land und wurden durch die massive Kreml-Propaganda und die Hetze der russisch-orthodoxen Kirche indoktriniert. Ich gehöre nicht so den vielen Hobby-Nationalsoziologen, die genau erklären „wie Russland tickt“. Die Summe aller Berichte überzeugt mich aber dahingehend, daß eine große Majorität des russischen Volkes hinter Putin steht, den Krieg gegen die Ukraine befürwortet und es sehr begrüßen würde, sich das Ukrainische Staatsgebiet einzuverleiben. Dagegen öffentlich zu opponieren ist extrem gefährlich und entsprechend mutig.

Die Teilmobilmachung, mit der von eben auf jetzt 300.000 russische Männer unsanft eingesammelt und an die Front geschickt werden, ändert nun allerdings alles.

Zum einen beweist es, wie schlecht es für die russische Armee läuft und zum anderen unterstützt sich ein Krieg, bei dem man selbst sterben könnte, viel weniger leicht als einer, den andere für einen kämpfen.

Das sah man besonders deutlich, als 2001-2003 die US-Republikaner enthusiastisch für einen Angriff auf den Irak trommelten. Ihre eigenen Söhne waren natürlich keine Soldaten. Der selbsternannte Militärfreund Donald Trump ist das beste Beispiel: Er gehört zu dem Jahrgang, der durch die allgemeine Wehrpflicht dazu gezwungen wurde, in Vietnam zu kämpfen. Eigentlich. Aber in Wahrheit kämpften dort eher die armen und schwarzen Amerikaner, während die Millionärssöhnchen George W. Bush und Donald Trump natürlich Wege fanden, um sich zu drücken. Und selbstverständlich war auch kein Trump- oder Bush-Kind in der US-Army.

[…] Der russische Rapper Ivan Petunin - Künstlername Walkie T - hat offenbar Selbstmord begangen, um sich einer Einberufung zum Krieg gegen die Ukraine zu entziehen. Die russische Seite "Star Hit" berichtet, Petunin sei in seiner südrussischen Heimatstadt Krasnodar aus dem 10. Stock eines Hochhauses gesprungen. Der 27-Jährige hinterließ demnach ein Abschiedsvideo auf Telegram. Darin heißt es: "Wenn ihr das Video seht, bin ich nicht länger am Leben. Ich kann meine Seele nicht mit der Sünde des Mordens belasten. Ich bin nicht bereit, für irgendwelche Ideale zu kämpfen."  [….]

(NTV, 01.10.2022)

Ich kann unmöglich seriös beurteilen, wie viele der jungen Russen, die vor Putins Einberufung ins Ausland fliehen, Oppositionelle sind. Wie viele den Krieg ablehnen, wie viele in derartige Gewissensnöte wie Ivan Petunin geraten, wie viele „nur Angst“ haben (ich hätte Angst und zwar genügend Angst, um mich mit allen Mitteln zu drücken), wie viele sowieso schon länger ausreisen wollten, wie viele Freunde der Ukraine sind.

Wie verhält sich nun Deutschland dazu? Muss man als Kriegsgegner nicht jeden Deserteur oder Wehrpflichtflüchtling kompromisslos unterstützen? Aber wäre die Anwesenheit von den russischen Männern in Deutschland nicht eine Zumutung für die über eine Million geflüchteten Ukrainer?

[…]  Mein Herz bricht gerade an zwei Stellen. Ich verstehe die Ängste vieler Ukrainerinnen, die Sorge haben, wenn sie deutschen Politiker:innen zuhören, die die Aufnahme dieser Kriegsdienstverweigerer fordern. Sorge, weil sie Angst vor Retraumatisierung haben. Weil ungewiss ist, wer diese Männer sind und welche Haltung sie zu diesem Krieg und der Ukraine mitbringen. Diese Angst ist nachvollziehbar angesichts des Leids, das Russen der ukrainischen Bevölkerung angetan haben.  Mein Herz bricht aber auch bei den Bildern mutiger Menschen, die gegen den russischen Krieg und die Mobilmachung auf die Straße gehen, die verhaftet und in Gefängnissen gefoltert werden; bei Nachrichten wie die über den jungen russischen Dichter Artjom Kamardin, der für ein Anti-Kriegs-Gedicht von Polizisten geschlagen und mit einer Hantel vergewaltigt wurde. Er wurde zu zwei Monaten Haft verurteilt. Ein Bild aus dem Gerichtssaal zeigt ihn mit Wunden im Gesicht. Mit seinen Händen formt er ein Herz.  An Menschen wie Artjom Kamardin sollte gedacht werden, wenn es von deutschen Moralaposteln wieder heißt, die Menschen in Russland würden ja nicht protestieren. In einer Gesellschaft, in der trotz wiederkehrender Proteste immer alles schlimmer geworden ist, geht das Gefühl, eine treibende Kraft politischer Veränderung sein zu können, irgendwann verloren. Die Proteste in Russland mögen überschaubar sein, aber auch deshalb, weil staatliche Repressionen so stark geworden sind, dass man es sich zweimal überlegt: riskiert man Verhaftung, Gewalt, Folter? […]

(Erica Zingher, 01.10.2022

Wenig verwunderlich, daß Putin-Freund Merz schon mal gegen die Aufnahme weiterer Kriegsflüchtlinge aus Russland polemisiert und hetzt. 

In diesem Fall gibt es glücklicherweise einen Indikator, wie man sich moralisch richtig verhält. Man muss nur lesen, was Andrij Melnyk dazu herausposaunt. Der Mann ist so ein rechtsradikales Arschloch, daß man nur das Gegenteil dessen tun muss, was er will, um goldrichtig zu liegen.

[…] Melnyk twitterte am Donnerstag im Zuge der Debatte gewohnt klare Worte: „Falscher Ansatz! Sorry. Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen.“  In weiteren Tweets legte er am Donnerstagabend nach. Die Bundesregierung sei bereit, „russische Deserteure willkommen zu heißen“ und folge der Prämisse „Hauptsache: Putin nicht provozieren“, so Melnyk. [….]

(Peter Stroß, 23.09.2022)

Also ja, Deutschland, wenn Melnyk derartig schäumt, sollten wir unbedingt großzügig jedem Russen, der nicht in der Ukraine morden will, Asyl gewähren!

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Merz und Strunz im Sumpf

Da wundere ich mich wirklich über mich selbst. Wie können mir immer noch solche Gedanken durch den Kopf schießen? Erwarte ich etwa immer noch irgendetwas anderes, von der politischen Rechten?

Aber in der Tat, ich bin schockiert über den mangelnden Anstand der Konservativen. Wie können Christdemokraten nur so unanständig mit Menschen umgehen? Wie kann man nur so unbarmherzig sein; seinen Nächsten so sehr hassen?

Man sollte doch meinen, die derzeitigen Megakrisen, die durch christdemokratisches Versagen drastisch verschärft wurden (sabotierte Energiewende, Putin-Abhängigkeit, Entsolidarisierung Europas, marode Schulen, lahmstes Internet Europas, nicht einsatzfähige Bundeswehr), sollten den CDU-Chef etwas kleinlauter werden lassen. Man könnte doch meinen; selbst einem konservativen Multimillionär mit mehreren Privatflugzeugen, sollte das Wohlergehen seines Volkes, seiner Wähler interessieren.

Aber nein, Friedrich Merz ist nicht nur als Oppositionschef ein Totalausfall, sondern offensichtlich auch nicht gewillt, sein völkisches AfD-Gedankengut zu zügeln. Er weiß nicht was Anstand ist; oder noch schlimmer: Er weiß schon, wie unanständig seine Hetze gegen Ukrainische Kriegsflüchtlinge ist, verbreitet sie aber dennoch. Vielleicht ist es eine gezielte Strategie, um Xenophobe zur CDU zu locken; vielleicht dient das alles als taktisches Spiel, um eine blau-schwarz-braune Koalition vorzubereiten. Möglicherweise verachtet Merz aber auch generell Ausländer, so wie er schließlich auch Arme verachtet.

Seine widerlichen Attacken auf die Menschen in der allergrößten Not („Sozialtourismus“) waren nicht nur erlogen, sondern brachten ihm sogar Kritik in der eigenen Partei ein, die bei ihrem Chef völlig zutreffend „eine übliche Methode der Rechtspopulisten“ diagnostizierte.

Merz legt dennoch sofort nach.

Deutschland leidet unter massiven Arbeitskräftemangel, braucht dringende massive Zuwanderung. Merz lügt dazu, unter der Last der Ukrainer, breche die deutsche Infrastruktur zusammen.

[….] Merz:  Diese Bundesregierung will offenbar die Zuwanderung erheblich ausweiten, statt sie in geregelte Bahnen zu lenken. Das dürfen wir nicht verschweigen, aber das gehen wir in der richtigen Tonlage an.  [….] Wir sollten die Hilferufe der Kommunen nicht ignorieren. Dieses Jahr sind so viele Menschen zu uns gekommen wie seit 2015 nicht mehr. In Deutschland leben nun mehr als 84 Millionen Menschen, mehr als je zuvor. Darauf ist die Infrastruktur dieses Landes schlicht nicht ausgerichtet.

T-online: Wir haben nicht den Eindruck, dass die deutsche Infrastruktur vor dem Zusammenbruch steht.

Merz:   Die Kommunen leiden ganz erheblich unter der Last der Zuwanderung und können sie kaum noch bewältigen. Wir müssen ernsthaft darüber reden, was wir zu leisten in der Lage sind und was nicht mehr. Der Präsident des Landkreistages sagt es ganz richtig: Wir setzen die falschen Anreize.  Deutschland nimmt sehr viele Menschen auf. Im europäischen Vergleich ist das soziale Netz, das wir spannen, aber auch sehr groß. Mit der zukünftig "Bürgergeld" genannten Sozialleistung lohnt es sich auch für Zuwanderer häufig nicht mehr, eine einfache Tätigkeit aufzunehmen. Und genau das zieht die Menschen aus vielen Ländern erst richtig an, es schafft einen sogenannten Pull-Faktor.

T-online: Man sollte also den Menschen nicht helfen? [….]

(T-online.de, 04.10.2022)

Der konservative Parteiführer verbreitet immer wieder gewollt menschenfeindliche Thesen. Er will Vorurteile und Migrantenhass schüren. Einfach erbärmlich.

Unterstützung findet er dabei von den Organen des antiseriösen Verlages, der die Lügenpostille BILD herausbringt und in Führungspositionen sowohl Christian Lindners Ehefrau, als auch seine Ex-Ehefrau beschäftigt.

Verlags-Teileigner und Verlagschef Döpfner ließ seine Mitarbeiter für einen Wahlsieg Trumps beten. Sein lange Jahre wichtigster Mann, BILD-Chef Julian Reichelt, missbrauchte Mitarbeiterinnen und wechselte mittlerweile ins faschistoide Verschwörungstheoretiker-Lager. WELT-Chef Ulf Poschardt verbreitet nicht nur rechtes und antisolidarisches Gedankengut, hetzt gegen Holocaustüberlebende, sondern ist auch Covidiot. Ein durch und durch widerliches Verlagshaus, für das bezeichnenderweise auch Bischöfin Käßmann ihren wöchentlichen Unsinn schreibt.

Bleibt noch der aktuelle BILD-Chef Strunz, („Populismus ist Viagra einer erschlafften Demokratie“), der ganz Merz in großen Lettern gegen die Schwächsten und Verzweifelten hetzt.

[….] Claus Strunz ist Wiederholungstäter. Der „Boulevard-Journalist“, wie Wikipedia ihn schmeichelhaft einordnet, fiel schon mehrfach durch Hetze gegen Geflüchtete oder ein entsprechendes Framing auf, sodass man häufig meinen könnte, er schreibe aus internen AfD-Chats ab. Dieser Eindruck dürfte den „Klassensprecher aller Populisten“ (Übermedien) nicht grämen, schließlich ist Strunz seit 2021 „Bild“-Moderator und verantwortlich für jenes Schmuddelangebot, das den gewohnten Krawalljournalismus der Springer-Postille in Textform über den Bildschirm jagt. [….]

Entsprechend adressiert er auf Twitter die Wutbürger:innen, also jene, die ihre Zustimmung dann bekunden, wenn nach unten getreten werden kann. Ordentlich Stimmung gegen Menschen zu machen, die am allerwenigsten zu melden haben, und sie dann noch gegen eine andere Gruppe auszuspielen, war der „Bild“ aber halt noch nie zu billig.

So hetzt Strunz lustig vor sich hin, wenn er von einem „zweiten 2015 – nur schlimmer“ orakelt, um Rentner:innen zu instrumentalisieren, die angeblich demnächst potenziell „wegen hoher Energiekosten zu Hause erfrieren oder verhungern“. Ansonsten wären da noch Familien, die „pleitegehen“, während, Achtung, „illegale Einwanderer in warmen Unterkünften warmes Essen bekommen“. Das nun gefährde „den sozialen Frieden“. Aha.

Jetzt sind wir also wieder mal bei den „illegalen Einwanderern“. Das alles wird orchestriert von einem Artikel, der – „Und jetzt auch noch die Russen?“ [….]

(FR, Katja Thorwarth, 29.09.2022)

Ekelhaft, daß so ein Verlag Milliardenumsätze macht, daß die Deutschen das freiwillig lesen, daß sie die CDUCSU als stärkste Partei wollen.

Aber nicht überraschend.

Dienstag, 4. Oktober 2022

Internationale Solidarität

 

Es ist verrückt, wie sehr die Wahrnehmung sich auf bestimmte Dinge fokussieren kann, die einem Jahrzehnte völlig egal, oder sogar unbekannt waren.

Welcher Durchschnittsdeutsche wußte bis 2021 schon über die geographischen Gegebenheiten der Ostukraine Bescheid? Ehrlicherweise kannte man neben Kiew nur Charkiw – ganz im Osten und natürlich das deutsche Lemberg – ganz im Westen.

Nun aber gehört es zur täglichen Routine, auf den Nachrichtenportalen die Frontverläufe zu studieren. Beim Friseur oder während des Besuchs beim Bäcker, fallen ganz selbstverständlich die Begriffe Oblast Cherson, Oblast Luhansk, Bachmut, Oblast Saporischschja, Lyssytschansk, Bilohoriwka, Fluss Oskil, Swatowe, Kremmina und Sjewjerodonezk.

Ein halbes Jahrhundert lang war mir der Begriff „Inzidenz“ gänzlich unbekannt und anders als das „nicht-durstig“-Pendant zu „satt“, vermisste ich „Inzidenz“ niemals.

Plötzlich war aber nicht nur das Wort in aller Munde, sondern mit einer derartigen Bedeutung beschwert, daß ich fasziniert jeden Tag die RKI-Inzidenzen der einzelnen Bundesländer googelte, die Top-Inzidenz-Gemeinden nachlas und aufgrund der verschiedenen Maßnahmen der Landesregierung extrapolierte, wie sich die Inzidenz entwickeln könnte, wie viele Menschen zwei Wochen später im Krankenhaus liegen könnten, wie viele von ihnen in einem Monat tot sein könnten. Wie wahrscheinlich ich in Hamburg jemanden im Pflegeheim besuchen können würde, ob der Baumarkt um die Ecke aufhätte. Es war kein Zahlenspiel für Nerds, sondern die Zahlen standen für die mittlerweile 150.000 Covid-Toten Deutschlands.

Das sind eine Menge Leben. Ungefähr so viele, wie  insgesamt in Darmstadt, oder Solingen, oder Herne, oder Regensburg, oder Heidelberg leben.

Zu den aktuellen Zahlen, die man seit einigen Monaten jeden Tag gespannt registriert, die mich aber ein halbes Jahrhundert nicht die Bohne interessierten, gehören Gastfüllstände, russische Gasimportquote und Bundesgasverbrauch.

SPIEGEL 04.10.2022

Wenn Kanzler und Vizekanzler sich die Hacken ablaufen, um bei dubiosesten Exporteuren wie Katar und Saudi-Arabien Flüssiggas einzukaufen, rümpfen wir pikiert die Nase, weil Gegenleistungen verlangt werden und plötzlich Rüstungsexporte in die Schurkenstaaten, die Homosexuelle hinrichten, von den Grünen abgenickt werden.

Der deutsche Urnenpöbel erfreut sich aber an hohen Füllständen der Gasspeicher.

92% voll. Da gruselt es sich schon deutlich weniger in Hinblick auf die Wintertemperaturen. Dazu noch 200 Milliarden Euro Doppel-Wumms-Moneten von Olaf Scholz. Das nimmt man alles gern und selbstverständlich, während man auf die Ampel schimpft. Man hätte es aber lieber, wenn Held Habeck ein paar hundert Millionen Kubikmeter Erdgas einfach herzaubern könnte, statt sie in der echten Wirklichkeit von realen Personen zu kaufen.

An die katastrophalen klimatischen Folgen der Erdgasverbrennung denken wird ohnehin nicht mehr.

Hurra, bald sind die Speicher zu 100% gefüllt und dann können wir uns beruhigt zurücklehnen. Oder etwa nicht?

[…] Deutschland steht vor einem harten Winter, da sind sich die Energieexperten einigt. Noch viel härter wird es aber 2023 und 2024, sagt Jochen Homann bei den Munich Economic Debates von Ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung: "Mindestens die nächsten zwei Winter müssen wir in den Krisenmodus schalten." Bis Ende Februar 2022 war Homann Präsident der Bundesnetzagentur. Er hörte also auf, kurz nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte. Auf dem Podium warnt er nun, dass die Krise nicht so schnell überwunden sein wird. Die Gasspeicher reichen allein für diesen Winter nicht aus, sagt er, auch wenn sie sich aktuell schnell füllen. 90 Prozent sind schon erreicht, das Ziel sind 95 Prozent. Doch auch mit komplett gefüllten Gasspeichern komme Deutschland maximal drei Monate durch einen durchschnittlichen Winter - und deutsche Winter sind lang. [….]

(Marie Vandenhirtz, 28.09.2022)

Im Moment verbrennen die Deutschen sogar mehr Gas, als vor 12 Monaten. Aber gesetzt den Fall, daß wir die Kurve kriegen, wirklich alle sparen und die Ampel-Minister weiterhin so findig dabei sind, neue Lieferquellen aufzutreiben: Über ein „Problem“ lese ich bisher kaum etwas: Was tun wir eigentlich in dem wahrscheinlichen Fall, daß unsere europäischen Nachbarn nicht so gut gerüstet und finanziell weniger üppig ausgestattet sind? Was passiert bei einer Kältewelle im Januar, wenn der deutsche Michl bei 20°C im Wohnzimmer hockt, während die Tagesschau von erfrorenen Ungarn, zitternden Italienern, schlotternden Franzosen berichtet?

Schalten wir dann die deutsche Industrie ab und leiten Gas zu unseren Nachbarn? Sind wir bereit, für andere zu frieren? Schon für die Ukrainer friert ein Sachse nicht freiwillig.

Könnten Baerbock, Lindner und Scholz in Brüssel ernsthaft die kalte Schulter zeigen, wenn belgische und polnische Geronten erfroren aus ihren Wohnungen geholt werden? Sagen wir dann „Tja, Pech, hättet ihr mal auch rechtzeitig in Katar und Riad eingekauft! Wir geben nichts ab“?

Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

erkämpft das Menschenrecht.

Der deutsche Michl versteht Solidarität gelegentlich als Einbahnstraße. Als der Bürgerkrieg in Syrien 2010 losging, hörten wir konsequent weg, als die Flüchtlinge in Griechenland und Italien ankamen. Wir sind auch nicht solidarisch mit der Türkei, die drei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat. Erst als 2015 viele Flüchtlinge in Deutschland ankamen, wollte Deutschland Solidarität von den anderen EU-Ländern. Solidarität mit uns aber eben nicht von uns – wie Schäuble und Kauder bei der Euro-Schuldenkrise unmissverständlich klar gemacht hatten.

Giorgia Meloni, eine wirklich fürchterliche Peron, gerät doppelt gewummst gehörig in Wallung. Ein gefundenes Fressen für eine nationalistische Hetzerin wie sie. Sie wird nun Regierungschefin, steht wegen der enormen italienischen Gasabhängigkeit von Russland vor unlösbaren Problemen. Da hilft eine teutonischer Sündenbock schon mal dabei, den braunen Pöbel zu beruhigen.

[….] Sehr gut kam der Schutzschirm über 200 Milliarden Euro der Deutschen für deutsche Haushalte und Unternehmen nicht an. Man hält ihn in Italien, pauschal ausgedrückt, für unsolidarisch gegenüber Ländern, die nicht einfach so mal schnell 200 Milliarden Euro aufwerfen können - Länder wie das hoch verschuldete Italien zum Beispiel. Das sei so gar nicht im europäischen Gemeinschaftssinn. In seiner alltäglichen Rubrik "Il caffè" auf der ersten Seite des Corriere della Sera, Italiens größter Tageszeitung, schreibt Massimo Gramellini ironisch über "L'amico tedesco", den deutschen Freund: "Für jeden, der sich als Bürger Europas fühlt, war es traurig, den Beweis vorgeführt zu erhalten, dass der liebe Mitbürger deutscher Sprache, Olaf Scholz, sich im Wesentlichen nur um seinen eigenen Kram kümmert." Der Kanzler habe die "strategische Weitsicht eines Maulwurfs". Er habe nämlich nicht nur verhindert, dass die anderen Mitglieder der Europäischen Union Energie zu dezenten Preisen einkaufen könnten, wie das etwa Italiens Premier Mario Draghi mit einem europaweiten "Price cap" für Gas schon seit etlichen Monaten fordert. "Scholz", schreibt der Kolumnist, "zahlt aus der eigenen Tasche die höheren Preise in seinem kleinen Vaterland und stößt damit Familien und Firmen anderer Länder auf dem Kontinent an den Rand des Verderbens."   […]

(Oliver Meiler, 02.10.2022)

Eine Horrorvorstellung: Wird Deutschland in ein paar Monaten ausgerechnet den Viertel- und halbfaschistischen Regimen in Warschau, Budapest und Rom unter die Arme greifen müssen? Ausgerechnet denen, die voller Verachtung über die angeblich rotgrünen Werte wie Pressefreiheit, unabhängige Justiz, Homorechte oder Ächtung von Antisemitismus herziehen?

Müssen wir denen dann Gas abgeben? Und wenn ja, wie viel? 10% unserer Speichermenge? 20%? Oder schmeißen wir europaweit alles in einen Topf, weil wir tatsächlich eine Solidargemeinschaft sind?

Ich glaube, Berlin kann gar nicht, nicht teilen. Denn das hätte erhebliche intra-EU-Sprengkraft, würde Brüssel entzweien. Das wäre aber nichts anderes als ein riesiges Geschenk an Putin, der dann genüßlich einen Keil in die EU treiben könnte, den er natürlich zunächst einmal einsetzen würde, um die Sanktionen loszuwerden.

Wie sollen Lambrecht, Scholz und Baerbock denn in Brüssel harte antirussische Sanktionen durchpauken, wenn darunter Italiener, Bulgaren und Ungarn am meisten leiden, weil die nicht mehr heizen können, während Deutsche es mollig warm haben, aber nichts von ihrer Energie abgeben wollen?

Montag, 3. Oktober 2022

Post-Nationalität.

Es gibt nichts sinnloseres und nervigeres als Nationalfeiertage.

Es sei denn, man nimmt den Tag a priori nicht ernst und verwandelt ihn in ein schrilles Happening, bei dem das Volk ausführlich Körperflüssigkeiten austauscht.

In Holland finden am Geburtstag des Monarchen, dem „Koninginnedag“ (Königinnentag), bzw nach Beatrix‘ Abdankung, dem „Koningsdag“ (Königstag); König Willem-Alexander hat am 27. April Geburtstag; landesweit CSD-artige Paraden und Flohmärkte statt. Jeder zieht sich so schrill wie möglich an und die Flohmarkteinkünfte sind steuerfrei. Alle betrinken sich mit "Oranje-Bitter".

In Irland ist es das gleiche in grün. Buchstäblich. Party und saufen im Frühling, weil der Heilige Patrick im 5. Jahrhundert an einem 17. März starb. Nur daß alle Feierbiester statt des niederländischen orange in grüne Klamotten steigen.

Während bei diesen kleineren EU-Staaten die jeweiligen Partytage inkludierende schräge Happenings sind, veranstalten die dickeren Nationen – Frankreich, USA, Deutschland, Russland zum Beispiel – pathosbeladene Militärparaden und halten nationalistische Reden.

Von Feierkultur kann man in Deutschland ohnehin nicht reden. Bei derartigen Groß-Events wird erst Bier gesoffen, dann gegrölt und schließlich schlägt es in Aggression um – man befrage die Sanitäter beim Oktoberfest oder nach Bundesligaspielen.

Sehr unangenehm, wenn man es mit feiernden Deutschen zu tun hat. Das wird schnell Ballermann-artig und Melanie-Müller-esk, so daß im bierschwangeren Pathos der Gefühle der rechte Arm gehoben und „Sieg Heil“ skandiert wird.

Den deutschen Nationalfeiertag legte der multikriminelle Kanzler Kohl auf den Todestag eines bekannten bayerischen ehemaligen SS-Mitglieds: Franz Josef Strauß, * 6. September 1915; † 3. Oktober 1988; warum auch immer.

Man kann es zwar durchaus als pfiffige Idee betrachten, den Tag, als FJS den Löffel abgab, zu feiern, aber die Partyrituale sind nach 32 Jahren schon so altbacken, daß sich sogar die Witze darüber abgenutzt haben:
Tag der Wiedervereinigung = „Volkstrauertag West“. Haha.

Alle Politiker, die nicht zur Querfront gehören, beklagen an diesem Tag mit bitterernster Miene, wir hätten zwar so viel Grund zur Freude, aber die Lebensverhältnisse wären immer noch nicht angeglichen. Da liege noch viel Arbeit vor uns.

[….] Gleichwertige Lebensverhältnisse.  Das Misstrauen, das vor allem die Verdrossenen, Resignierten und Gekränkten der Gesellschaft, in der sie leben, entgegenbringen, macht nicht nur ihnen selbst das Leben schwer. Es gefährdet inzwischen auch die Demokratie. Im Jahresbericht des Ostbeauftragten heißt es dazu: "Um sie wieder mittels politischer Kommunikation zu erreichen und die Demokratie zu stärken, sollte das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands wieder verstärkt in den Blick genommen werden."  […]

(Tagesschau, 03.10.2022)

Ist das ermüdend. Ich habe schon bei 1037 Gelegenheiten Lobhymnen auf die Heterogenität der deutschen Lebensverhältnisse angestimmt. Zum Glück, ist das Leben in der Hamburger Innenstadt nicht genau wie in einem oberpfälzischen katholischen Dorf. Eine wunderbare Sache ist es, daß die Menschen sich entscheiden können, ob sie lieber an einem dünn besiedelten Nordseeküstenort mit wortkargen Menschenschlag oder einem Kuddelmuddel aus rheinischen Frohnaturen wohnen möchten.

Auch zu dieser ziemlich debilen „Angleichung der Lebensverhältnisse“-Litanei gibt es, sich seit Jahren wiederholende müde Witze.

[….] Deutschland, einig Vaterland? So einfach ist das offenbar nicht. Auch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung haben viele Menschen immer noch erschreckende Vorurteile: Einer neuen Umfrage zufolge hat ein Großteil aller Kölner eine schlechte Meinung über Düsseldorfer.  "Es ist sehr ernüchternd, zu sehen, dass sich fast drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer die alten Klischees so hartnäckig gehalten haben", erklärt Heinz Geiwasser vom Meinungsforschungsinstitut Opinion Control. "Auch heute noch sind rund 57 Prozent aller Kölner davon überzeugt, dass Menschen aus Düsseldorf arrogante schnöselhafte Angeber sind, die ekelhaftes dunkles Bier trinken und auf der hässlichen Seite des Flusses leben. Man kann schon fast sagen: Der Rhein in den Köpfen treibt immer noch einen Keil zwischen beide Städte, die doch nur 34 Kilometer voneinander entfernt liegen."  Kann also von einem vereinten Deutschland gar keine Rede sein? Demoskop Geiwasser sieht das differenziert: Zwar seien auch in Düsseldorf noch viele der alten Vorurteile gegen Köln als schäbige Stadt mit Minderwertigkeitskomplex und wässrigem Möchtegern-Bier in winzigen Reagenzgläsern präsent. "Doch immerhin muss man feststellen, dass es im Kleinen durchaus Fortschritte gibt", erklärt er. [….]

(Postillon, 03.10.2022)

Etwas fehlt ebenfalls nie am 03.10.2022: Mürrische alte Nazis und faschistische Blogger, die sich bitterlich über die indolenten Deutschen beklagen, die den Feiertag bloß als „verlängertes Wochenende“ ausnutzten, ohne sich der Bedeutungsschwere bewußt zu sein.

Offensichtlich stellt sich Hetzblogger David Berger das angemessen nationale Begehen des Tages, als gemeinsames Masturbieren auf die Reichskriegsflagge vor, während man dabei die erste Strophe der Nationalhymne oder das Horst-Wessel-Lied anstimmt. Wenn er nicht schon so alt und klapprig wäre, würde er am Nationalfeiertag auch noch eine Asylunterkunft mit Molotowcocktails bewerfen und vor den Parteizentralen der Linksgrünversifften auf die Fußmatten scheißen.

Ich wurde vor über einem halben Jahrhundert in Deutschland als Sohn einer deutschen Mutter geboren. Wegen des deutschen Ius Sanguinis, welches die Nationalität nur bei väterlichem deutschen Blut vergibt, befindet mich die Bundesrepublik auch fünf Jahre nach meinem Einbürgerungsantrag noch nicht würdig, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Ich bin stolz ein Nichtdeutscher zu sein, liegt es mir auf der Zunge zu sagen, aber ich bin grundsätzlich nicht stolz auf Dinge, die dem reinen Zufall unterliegen. Ich bin auch Rechtshänder, Rotgrün-Verwechsler und kann die Zunge rollen und komme ob dieser angeborenen genauso wenig in Wallungen des Stolzes, wie bei meinem Trumpmerica-Pass.

In einer globalisierten Welt, in der jeder mit jedem durch das Internet vernetzt ist, Kriege um national-egoismierte Fleckchen (Krim, Taiwan, Jemen) zu führen, ist erbärmlich.

Ich stelle mir ein grünhäutiges Tentakelwesen von Alpha Centauri vor, welches in Luhansk/Луганськ landet und versucht zu begreifen, was eigentlich der Unterschied zwischen Ukrainern und Russen sein mag, die da gerade mit gewaltigem Aufwand versuchen, sich gegenseitig abzumurxen.

Nationalitäten sind nichts, das man feiern sollte.

Nationalfeiertage sind ein Anachronismus.

Ich würde gern die Abschaffung der Nationalfeiertage feiern.

Sonntag, 2. Oktober 2022

Irreparable Demokratie-Schäden.

Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Ich war schon immer ein Wahljunkie, habe mir Wochen vor Wahltagen den Kopf darüber zerbrochen, wie es ausgehen könnte, welche Ereignisse für welche Ergebnisse sprächen, gebannt Umfragen und Prognosen studiert und schließlich mit einer Partei oder einem Kandidaten mitgefiebert. Am späten Wahlabend; spätestens am nächsten Morgen wußte man, wer gewonnen hat.

Dann kam aber der 07. November 2000. Der debile Schwachkopf George W. Bush errang 500.000 bis 600.000 Stimmen weniger als der brillante Al Gore, wollte aber dennoch der nächste US-Präsident werden.

So wie man auch durchaus ein Tennis-Match gewinnen kann, obwohl man weniger Punkte als der Gegner gemacht hat. Sicher, das US-amerikanische Wahlrecht gibt es her, denjenigen mit deutlich weniger Stimmen zum Sieger zu erklären. In diesem speziellen Fall musste GWB dafür die ultraknappe Mehrheit den Bundesstaat Florida gewinnen und dafür wahlrechtskonform 100% der Wahlmänner bekommen. Allerdings weiß man bis heute nicht, wer die Stimmenmehrheit in Florida wirklich gewann, weil Stimmzettel und Wahlmaschinen vielfach so gestaltet waren, daß man nicht sicher war, wen der Wähler wirklich angekreuzt hatte.

In Deutschland hatte die Ära des Trash-TVs begonnen. Die Idee, ein Dutzend Menschen abgeschottet von der Außenwelt unter totaler Kameraüberwachung in einen Container zu stecken, war noch so neu, daß sie zu einem Politikum wurde. Ich erinnere mich an das Ende von Staffel Zwei am 31.12.2000. Als die letzten Gestalten freigelassen wurden, die drei Monate zuvor in der Hoch-Phase des US-Wahlkampfes eingesperrt wurden, fragten, wer denn nun der neue Präsident wäre und „das weiß noch niemand“ als Antwort erhielten, erschienen mir die perplexen Gesichter als Apotheose des Wahlirrsinns. Die USA, das Mutterland der Demokratie, hatte Präsidentschaftswahlen abgehalten und zwei Monate später stritt man immer noch wie die Kesselflicker darüber, wer eigentlich gewonnen habe.

Aber das würde sich nicht wiederholen. Die Vereinigten Staaten waren sich schließlich einig, unter keinen Umständen jemals wieder so eine Blamage vor der Welt hinlegen zu wollen. Die Auszählungsprobleme würden behoben sein bei den Midterms.

Wie naiv man vor 22 Jahren war.

Al Gore verzichtete letztendlich darauf, jeden Wahlhelfer Floridas in Grund und Boden zu verklagen. Er fühlte sich der Staatsraison verpflicht, wollte nicht riskieren, die Hängepartie in eine Staatskrise zu verlängern. Die guten anständigen Demokraten.

Hillary Clinton fuhr 2016 einen sehr deutlichen Sieg über Donald Trump ein. Sie gewann drei Millionen Wählerstimmen mehr, war aber eine vorbildliche Staatsbürgerin und akzeptierte Trumps Mehrheit im electoral college. Die USA brauche eine stabile Regierung, hieß es aus der Clinton-Kampagne. Womöglich glaubten im November 2016, in den Tagen nach der Wahl, immer noch allerhand Demokraten, Trump würde sich im Präsidentenamt mäßigen und die ungeheuerlichen Lügen, die schrillen Auftritte des Wahlkampfes abstreifen, weil er Präsident aller US-Amerikaner wurde.

Wie naiv man vor sechs Jahren war.

Joe Biden regiert schon ein Jahr und neun Monate. Die Wahl hatte er mit über sieben Millionen absoluten Stimmen Vorsprung überzeugend gewonnen und erreichte 306:232 Wahlmännerstimmen im Electoral College.

Trump und die Republikaner erkannten aber die Ergebnisse des 03.11.2020 nicht an und seit dem 06.01.2021 ist es traurige Gewissheit: Mit der GOP ist eine gesamte Groß-Partei zur Staatsfeindin mutiert, die demokratische Spielregeln mit Füßen tritt und die Verfassung verachtet.

Sie wird geprägt von bösartigen Hetzern, die sich längst vollständig von der Realität abgekoppelt haben.

Sie verachten den eigenen Staat, die Mehrheit der eigenen Bürger, selbstverständlich auch den eigenen Präsidenten. Sie erkennen Wahlergebnisse nicht an und lobpreisen stattdessen den Kriegsverbrecher Putin.

Demokratie funktioniert aber nicht, wenn Fakten und Wahlergebnisse nur akzeptiert werden, wenn sie politisch erwünscht sind.

[….] Trumps früherer Kommunikationsstratege Steve Bannon hat diese Strategie jüngst neu interpretiert: Flood the zone with shit. Einfach so viel Blödsinn in die Welt pusten, so viele konkurrierende Narrative, Lügen, sich widersprechende Behauptungen, dass die Wahrheit selbst irgendwann auch nur wie eine von vielen Versionen der Realität erscheint.   Diese Strategie ist vor allem dann hilfreich, wenn man nicht vorhat, die Wahrheit zu sagen. Donald Trump etwa ist bekanntlich ein pathologischer Dauerlügner. Er lügt, um sein eigenes Ego zu streicheln, er lügt aus geschäftlichem Interesse, er lügt aus politischem Kalkül – und manchmal hat man das Gefühl, er lügt einfach aus Gewohnheit.  Die alten Lügen gebären ständig neue: Weil ihm zum Beispiel die New Yorker Staatsanwaltschaft vorwirft, den Wert vieler seiner Immobilien dramatisch übertrieben und sich so Vorteile verschafft zu haben, muss Trump jetzt einmal mehr etwas behaupten: Dass er selbst nicht etwa ein kriminell agierender Zocker ist, sondern eine verfolgte Unschuld. Dass die Tatsache, dass seine Verfehlungen ihn jetzt womöglich doch einholen, keine gerechte Strafe ist, sondern ein Ergebnis politisch motivierter Attacken.  [….]

(Christian Stöcker, SPON, 25.09.2022)

Heute könnte der Hassfanatiker und Faschist Jair Bolsonaro, der Süd-Trump, die brasilianischen Präsidentschaftswahlen verlieren.

Aber in der Post-2020-Welt der Trumpesken Nationenzerstörer sind Wahlergebnisse nur noch vage Empfehlungen.

Gut möglich, daß Lula mehr Stimmen holt. Aber so what?  Wird der Noch-Präsident das anerkennen?

[…]  Ergebnis der Präsidentenwahl in Brasilien noch unklar

In Brasilien führte der linksgerichtete Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva zunächst nach ersten Teilergebnissen bei der Präsidentenwahl. Inzwischen ist aber Amtsinhaber Jair Bolsonaro in Führung gegangen.  [….]

(DW, 02.10.2022)

Bei einem Auszählungsstand von 7% liegt Bolsonaro mit 49:42% vorn. Seinen Sieg würde er anerkennen. Aber etwa auch eine Niederlage?

[….] Eher zu Trumps Kategorie zählt auch Jair Bolsonaro, der diese Woche bei der Uno-Konferenz in New York wieder für alle erkennbar eine Unwahrheit nach der anderen verbreitete . Von seinem angeblich erfolgreichem Umgang mit Covid (trotz Hunderttausender realer Toter) bis zum angeblichen Wohlbefinden des Amazonas-Regenwaldes. Ihn werden seine Lügen hoffentlich spätestens bei der brasilianischen Wahl ab dem kommenden Wochenende einholen. [….]

(Christian Stöcker, SPON, 25.09.2022)

Unglücklicherweise schludert auch das deutsche Wahlsystem. Unglücklicherweise haben sich insbesondere in der Ex-DDR von der Demokratie verabschiedet.

Ulrike Nimz beschreibt in einer großen Montagsdemo-Reportage, wie ganz normale Ossis auf die Straße gehen, um die demokratischen Eckpfeiler auszumerzen

[….] Auf der Bühne hat nun Petra Scholz das Wort, eine schmale Frau mit schwarzen Locken, alleinerziehend, Friseurmeisterin mit eigenem Salon. Zwei Nebenjobs habe sie, um sich über Wasser zu halten. Impfgegner nennt sie „Superhelden“. Jeder müsse jetzt raus auf die Straße, sich den örtlichen Demos anschließen, egal, wer sie veranstaltet. „Lasst euch nicht mehr sagen, wen ihr hassen sollt“, ruft sie und erklärt, wen es stattdessen zu hassen gilt: die Grünen, die Klimaaktivisten, die „einzigen Extremisten“, die „Eigentum zerstören, um die Welt zu retten“. [….] Petra Scholz aus Plauen will nicht nur Haare schneiden und ein gutes Leben. Sie will die Regierung „endlich zum Teufel jagen“. Sie will, dass Deutschland „souverän“ wird, sich befreit von „der Diktatur des Westens“. Und wer sagt eigentlich, dass Betroffenheit und Radikalisierung sich ausschließen? Was, wenn es beim „heißen Herbst“ in Plauen, Bautzen und anderswo nicht nur um bedrohte Existenzen geht, sondern darum, den Volkszorn zu bündeln?  [….]

(SZ, 30.09.2022)

Ausgerechnet die deutsche Hauptstadt zeigt sich zu dysfunktional, um überhaupt korrekte Wahlen durchzuführen. Was für ein Geschenk an die rechtsextremen Demokratieverächter.

[….]  Was fast niemand erwartet hat, ist eingetreten: Berlin bereitet sich auf eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirken vor. Grund ist die Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, dass diese Wahlen vom 21. September 2021 ungültig seien. [….]

(taz, 02.10.2022)

Gute Nacht, demokratische Welt.