Normalerweise kann ich die Zuverlässigkeit von Quellen
ganz gut einschätzen und überlege genau, aus welchen Motiven heraus, wer, was
schreibt.
Zum Front-Verlauf im russischen Angriffskrieg auf die
Ukraine und die Siegeschancen halte ich mich aber sehr zurück mit eigenen
Prognosen.
Ganz am Anfang, Ende Februar 2022, nahm ich an, Putins
Armee werde in wenigen Wochen die gesamte Ukraine erobert haben. Offenbar ein
großer Irrtum. Als dann aber mehr und mehr westeuropäische Journalisten den
Spieß umdrehten und prophezeiten, die Ukraine werde Russland vollständig
besiegen, insbesondere, weil Putin nicht gewinnen dürfe, wurde ich
vorsichtig.
Anders als Verschwörungstheoretiker, suche ich mir keine „alternativen
Quellen“ und gebe nicht vor, besser zu wissen, was wirklich vorgeht.
Aber es ist schon auffällig, daß die meisten Einschätzungen
über den Kriegsverlauf von Journalisten und Experten und Militärs stammen, die
sehr weit weg vom Geschehen sind. Woher wissen die was in den Köpfen der
Soldaten vorgeht?
Der Tagesspiegel stützt sich auf Umfragen, nach denen 80%
der Ukrainer die Kriegsanstrengungen ihres Präsidenten voll unterstützen. Wenn
man bedenkt, daß ein Fünftel der Bürger Russen mit ukrainischem Pass sind, muss
demnach jeder einzelne Nicht-Russe in der Ukraine den Krieg mit allen Mitteln befürworten.
Ich will gar nichts anderes behaupten, aber wer kann denn überhaupt
wissenschaftlich basierte repräsentative Umfragen im Krieg durchführen?
Und wer kann eigentlich seriöse Kennzahlen über die
Wirtschaft in Russland erfassen? Ich lese nahezu gleichzeitig, wie die Sanktionen
wirken, Putins Ökonomie kollabiert ist und andererseits, wie China und
insbesondere Indien ihre Importe aus Russland drastisch erhöhen. Putin schwimme
wegen der gestiegenen Getreide-, Gas- und Ölpreise im Geld.
[….] Warum Indien nicht von
Putin abrückt: Indien kauft so viel russisches Öl wie nie zuvor, die Geschäfte
laufen prächtig. Dass der Westen irritiert ist, findet man in Neu-Delhi
scheinheilig. […]
(Spon, 18.08.2022)
Wenn ich in diesen Wochen über die enormen ökonomischen Probleme
Deutschlands, durch die zusammengebrochene Nachfrage, verängstigte Verbraucher,
Energieknappheit und unterbrochene Lieferketten lese, schwingt immer die
Annahme mit, ab 2023 werde sich alles normalisieren.
Wieso eigentlich?
2023 ist in weniger als vier Monaten. Ähnlich, wie so
viele Bürger, inklusive FDP-Ministern und dem FDP-Vizepräsidenten des
Bundestages seit drei Jahren immer denken, Corona wäre bald vorbei und es käme
keine neue Welle, glauben wir nun, die Ukrainekrise werde sicherlich in
absehbarer Zeit enden.
Ich finde dafür allerdings gar keine Anhaltspunkte.
Die hohen Energiepreise sind bei den meisten Verbrauchern
noch gar nicht angekommen, weil die Lieferanten für Wohnungen nur einmal im
Jahr den Verbrauch erfassen und für das kommende Jahr die Abschläge anpassen.
Mieter bekommen also erst mit der Jahresabrechnung 2022 die fetten Nachzahlungen
aufgebrummt. Und ich habe noch nicht mal die Abrechnungen 2021 bekommen, weil Kalorimeta
überlastet ist.
Es ist ähnlich wie mit dem grotesken deutschen
Personalmangel: Das wird erst noch richtig schlimm, weil die geburtenstarken
Jahrgänge jetzt noch arbeiten, aber in den nächsten Jahren in Rente gehen.
Es ist ähnlich wie mit dem Klimawandel: Wir spüren jetzt
die katastrophalen Auswirkungen der katastrophalen Energiepolitik von vor 20
Jahren. Selbst, wenn wir ab sofort gar keinen Dreck mehr in die Luft pumpten,
würde es noch viele Jahre immer schlimmer.
Stattdessen pusten wir aber MEHR Kohlendioxid und Stickoxide
in die Atmosphäre, weil wir wieder auf Kohle und Frackinggas setzen und zudem
einen Krieg führen.
Brennende Städte und der Betrieb von Panzern und
Flugzeugen helfen nicht, den Klimawandel zu verlangsamen.
Ich sehe schwarz und zwar dunkelschwarz.
Selbstverständlich besitze ich keine Glaskugel, die mir
verrät, wie die Lage in der Ukraine in einem Jahr sein wird.
Aber es wäre fahrlässig, die Augen davor zu verschließen,
daß Putin einige Trümpfe in der Hand hat.
1.)
Die Mehrheit der Erdenbürger unterstützt eben nicht die Sanktionen gegen
Russland. China und Indien, zusammen also 2,8 Milliarden Menschen, scheren aus
und die Hunger-Staaten der Südhalbkugel können sich gar nicht leisten, den Mann
mit dem Weizen zu blockieren.
2.)
Putin ist sicherlich skrupelloser. Das zeigt er beim Beschuss
des AKW Saporischschjas, des größten Kernkraftwerks Europas. Johnson, Scholz, Macron und Biden machen sich gleichzeitig in
die Hosen. Und zwar zu Recht. Das ist ein gewaltiges
russisches Drohpotential. Wer zweifelt denn daran, daß der Kremls ruchlos genug
wäre, Saporischschja explodieren zu lassen, bevor es militärisch vernichtend
geschlagen würde?
3.)
Man kann Russland ohnehin nicht mit konventionellen
Waffen besiegen, weil es eine Atomsupermacht ist.
4.)
Die deutsche Verhandlungsposition ist absolut erbärmlich:
Als Strafe für den Angriff auf die Ukraine, drehen wir Nordstream 2 ab und sind
fürchterlich empört, wenn Putin als Gegenmaßnahme beginnt, Nordstream 1 zu
schließen. Noch sind es nur die ostdeutsche Querfront, Schröder und Kubicki,
die Nordstream 2 wieder öffnen wollen, um Deutschland mit billigem Gas locker
über den Winter zu bringen. Aber noch wird in Deutschland geschwitzt, noch
merken die Verbraucher den Gaspreis in den Privathaushalten kaum. Und schon
sammeln sich Aluhüte von Links bis AfD, um gegen die Gasumlage zu protestieren.
[….] Langsam, ganz langsam,
scheint Wladimir Putin die Deutschen dorthin zu bekommen, wo er sie haben will.
Der Winter steht vor der Tür, das Gas wird knapp (wegen Putin), und schon kommt
in Person von Wolfgang Kubicki von der FDP der erste namhafte Politiker ums
Eck, der eine Öffnung der zweiten Ostsee-Pipeline verlangt: Nord Stream 2,
diese nagelneue Röhre, die nicht in Betrieb gehen durfte, weil Bauherr Russland
die Ukraine überfallen hatte. Es wäre ein Triumph für Putin, würde Berlin hier
umfallen. Es wäre ein Sieg der Despotie über die Demokratie und ihre Werte. Putins teuflischer Plan läuft bisher präzise
ab. […]
(SZ, 22.08.2022)
5.)
Deutschland war in den letzten Jahrzehnten in vielen
Weltkrisen eine Insel der Glückseligen. Das hatte viel mit der geographischen
Lage zu tun. Wir sind von Freunden umzingelt, haben gemäßigtes Klima, keine
Vulkane oder Erdbeben, lagen weit abseits der Flüchtlingsströme und Kriege.
Krise und Kriege kommen nun aber viel näher. Die Pandemie kennt keine Grenzen,
die Digitalisierung wurde komplett verschlafen, die Bevölkerung ist total
veraltet – genau wie das anachronistische Einwanderungsrecht. Zudem schraubte
CDU-Bundeskanzlerin Merkel die Abhängigkeit von russischem Erdgas von 30% (Ende
Regierungszeit Schröder) auf 55%. Die „Leidensfähigkeit“ ist zwischen Flensburg
und Bodensee nicht ausgeprägt. Wir flippen schon bei First-World-Problems aus,
wenn zB die Chartermaschine in den Thailand-Urlaub verspätet abhebt. Frieren,
Hungern und abgeschalteter Strom werden in den Reihenhäusern von Castrop-Rauxel
und Buxtehude eine ganz neue Erfahrung sein.
[…] Der Westen wird
kriegsmüde[…] Fast auf den Tag genau sechs Monate ist das nun her, und
nicht nur für die Ukrainer hat sich eine "Zeitenwende" ereignet. Der
Krieg hat die labile Statik der westlichen Sicherheitsarchitektur verändert,
hat Schwachstellen und Abhängigkeiten im globalen Handel und in der
Energiepolitik bloßgelegt, hat den Hunger auf der Welt verstärkt und Russland
in Teilen der Welt politisch isoliert. […] Die politische Entschlossenheit,
sich gemeinsam gegen die imperialen Ambitionen des Kreml zu stellen, bröckelt,
parallel zur Solidarität in der Gesellschaft, mit jedem Tag mehr, mit dem die
Angst vor hohen Heizkosten und wachsender Inflation weiter steigt. Rechtsextreme
Gruppen mobilisieren bereits für den "Wutwinter". Laut
Verfassungsschutz dürfte der Kreml versuchen, mit der "gezielten
Verbreitung von Falschinformationen" die Angst vor einer
existenzbedrohenden Krise in Deutschland zu schüren. Seit Juli sind zudem laut dem
Ukraine Support Tracker des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) kaum noch
neue Waffenlieferungen und andere Hilfsleistungen in der Ukraine eingetroffen. Zugleich erweist sich die politische
Isolation Russlands als Wunschdenken der EU; gerade mal 40 Staaten weltweit
haben sich den Sanktionen angeschlossen, das Handelsvolumen zwischen Indien und
Russland etwa hat sich seit Kriegsbeginn verfünffacht. Wladimir Putin hat, den
indonesischen Gastgebern zufolge, jetzt auch angekündigt, persönlich zum G-20-Gipfel
nach Bali zu reisen. […]
(Cathrin Kahlweit,
20.08.2022)
Ich bin kein Bellizist und finde es sehr sympathisch „kriegsmüde“
zu sein.
Aber Putin wird seinem Volk nicht erlauben „kriegsmüde“
zu werden und das perfide Spiel daher länger durchhalten.
6.)
Die Deutschen und „der Westen“ werden zunehmend irrational. Wir bekämpfen und
gegenseitig und bezichtigen andere, zu nachgiebig oder zu aggressiv gegenüber
Putin aufzutreten. Unsinnige Vorschläge machen es dem Kreml leicht, sich wahlweise
als Hort der Vernunft oder armes Opfer darzustellen.
[…] Die ganze Welt hat
plötzlich Gefallen daran gefunden, Rache zu nehmen. Politiker in Europa haben
begonnen, ernsthaft über ein Visaverbot für russische Bürger zu diskutieren. Im
Gegensatz zu den meisten anderen Sanktionen ist diese Maßnahme keineswegs ein
Mittel zur Bekämpfung des russischen Regimes. Es handelt sich lediglich um eine
Vergeltungsmaßnahme – eine Gelegenheit, die Russen dafür zu bestrafen, dass sie
Krieg führen. Das wird einen Sieg der Ukraine natürlich nicht wahrscheinlicher
machen. Im Gegenteil, es wird Putin helfen, seine Macht zu festigen. […] Viele
Russen erinnern sich noch gut daran, dass Sowjetbürger das Land nicht ohne
Ausreisevisa verlassen durften. Es war fast unmöglich, solche zu bekommen – vor
allem, wenn der Bewerber »unzuverlässig« schien. Reisen ins Ausland waren ein
Privileg, eine Belohnung für Loyalität zum Regime. […] Die Errichtung
einer neuen Mauer zwischen Russland und dem Westen ist seit vielen Jahren eines
der wichtigsten Propagandaziele Putins. Das Fernsehen hat den russischen
Bürgern erklärt, dass der Westen ihnen gegenüber feindlich gesinnt sei, dass
Europa voller »Russophobiker« sei, und diejenigen, die nach Europa gingen,
Verräter seien. Seit Monaten kursieren in
Russland Gerüchte über ein Reiseverbot, über eine Wiedereinführung der
sowjetischen Ausreisevisa. Aber jetzt braucht Putin sie nicht mehr einzuführen.
Der Westen hat das für ihn übernommen. […]
(Mikhail Zygar, 21.08.2022)