Mittwoch, 8. März 2017

Eingemauerte Perspektive



Die beiden Abendblatt-Redakteure Walter Bau und Karsten Kammholz stehen dem SZ-Kollegen Matthias Drobinski kaum nach.
Sie beklagen den Niedergang der Kirche, orakeln über Feintuning am Marketing – Frauenpriestertum, Zölibat, gesellschaftliches Ansehen – kommen aber nicht auf die Idee, das Produkt selbst für mangelhaft zu halten.

Geht es nach den kirchenfreundlichen Journalisten, müßte nur ein wenig an den Stellschrauben, an den Arbeitsbedingungen gedreht werden und schon würden neue Priesteranwärter in den Beruf strömen.
Da dies nicht geschieht, sieht es aber erst mal sehr trüb aus für die Zukunft der deutschen christlichen Kirchen.

[….] Es werden Krisengespräche, so viel ist klar. Wenn sich ab Montag die 66 katholischen Bischöfe und Weihbischöfe der 27 deutschen Diözesen zur Frühjahrsvollversammlung erst in Köln und danach in Bergisch-Gladbach treffen, gehen sie eine heikle Angelegenheit an: "Zukunft und Lebensweise des priesterlichen und bischöflichen Dienstes" heißt das Hauptthema der Bischofskonferenz – und es berührt existenzielle Fragen. Ist das Priesteramt in der katholischen Kirche noch zeitgemäß – und wenn ja, wo gibt es den dringend benötigten Nachwuchs?
Längst schlägt sich die Misere in den Zahlen nieder. Voriges Jahr wurden ganze 80 neue Priester in den 27 deutschen Bistümern geweiht. Im Jahr davor waren es sogar nur 58 – so wenige wie nie zuvor. Von 1995 bis 2015 sank die Zahl der katholischen Geistlichen von gut 18.600 auf knappe 14.000. Die Zahl der Pfarreien ging im gleichen Zeitraum von 13.300 auf rund 10.800 zurück. Mehr als 60 Prozent der katholischen Priester sind älter als 60. Leben und Strukturen der Kirchengemeinden stehen vor einem radikalen Umbruch. […..]

In den letzten 20 Jahren wurde jede vierte katholische Pfarrerstelle vakant und jede fünfte Pfarrei geschlossen.

Bei den Evangeliban sieht es nicht besser aus.

[…..] Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) treiben ebenso Nachwuchssorgen um – auch ohne tiefgreifende Konflikte um Zölibat oder Frauenpriesteramt. In den kommenden zehn bis 15 Jahren werden 30 bis 40 Prozent der Pfarrer in den Landeskirchen in den Ruhestand gehen, heißt es aus dem Kirchenamt der EKD in Hannover.
Momentan seien im Raum der EKD circa 18.000 Pfarrerinnen und Pfarrer tätig. "Die bisherige Zahl von Pfarramtsstudenten wird nicht reichen, um die Lücken zu füllen", so die Leiterin der Bildungsabteilung im Kirchenamt, Birgit Sendler-Koschel. "In den nächsten zehn Jahren werden bundesweit Tausende neue Pfarrerinnen und Pfarrer benötigt." […..]

Wieso will niemand mehr Pfarrer werden – die Frage stellen sich die Abendblatt-Autoren ebenso rätselnd, wie die offiziellen EKD-Funktionäre.
Zu den sonntäglichen Gottesdiensten gehen nach offiziellen EKD-Angaben derzeit 3,3% der Kirchenmitglieder. Selbst von den zahlenden Kirchenmitgliedern haben also fast 97% keine Lust sonntags in die Kirchen zu gehen.
Gestalten die 18.000 Pfarrer die Angelegenheit so unfassbar öde, daß 97% der Gläubigen lieber gleich zu Hause bleiben, oder sind die Erwartungen der Gottesdienstbesucher so abstrus, daß keiner mehr Pfarrer werden möchte?
Was ist da los, fragen sich bischöfliche Blitzbirnen wie Käßmann und Bedford-Strohm.

Man verdiene doch großartig und bekäme seine eigene Pfarrei. Also Protestant darf man den Beruf sogar ergreifen, ohne über einen Penis zu verfügen und sofern man einen hat, darf man ihn auch benutzen.
Zölibat und Frauenpriestertum und trotzdem wollen die Menschen den Job nicht?
Das geht über das Fassungsvermögen der Berufskirchisten.

[…..] Bisher galten vor allem die Hunderttausenden jährlichen Kirchenaustritte als die große gemeinsame Sorge der beiden Konfessionen. Nun lautet die zweite gemeinsame Sorge: Wer will noch Gottes Wort verkünden? [….]

Nein, liebe Kirchenfreunde bei der SZ und der FUNKE-Mediengruppe.
Es liegt nicht am Marketing.
Euer Produkt ist einfach schlecht.


Wenn man ein totes Pferd reitet, soll man absteigen.
Und Gott ist tot.
Religion schadet eindeutig mehr als sie nützt.
Die Wir-sind-besser-als-die-Ideologie grenzt aus, führt zum Beleidigtsein und Konflikten.
Christliche Überzeugungen waren seit 2000 Jahren Ursache für die größten Verbrechen der Menschheit – Sklaverei, Hexenverbrennung, Inquisition, Kolonialismus, Missionierung, Homophobie, Rassismus, Islamophobie, Wissenschaftsfeindlichkeit, Misogynie und Antisemitismus.



Eine solch destruktive Ideologie, die allen Erkenntnissen der Wissenschaft widerspricht kann man nur so lange an den Mann bringen, wie die Gläubigen dumm und ungebildet sind.
Aufklärung und Informationen sind der Feind Gottes.
Je besser die Allgemeinbildung, desto kleiner die Kirchen – und das ist auch gut so!



Es wäre so schön, wenn Bau, Drobinski und Kammholz in der Lage wären ihre rein religiotische Perspektive zu verlassen und objektiv über Religion berichten könnten.
Dann sähen sie wie positiv der Rückgang des kirchlichen Einflusses auf die Gesellschaft ist.
Aber leider haben die Kirchenjournalisten fest eingemauerte Standpunkte.



Dienstag, 7. März 2017

Geld machen



Ronald Reagan und Margaret Thatcher waren vermutlich die Totengräber der Weltwirtschaft schlechthin.
Sie schoben die ganz große Umverteilung von unten nach oben und vom Staat zu den Unternehmern an.
Deregulieren, soziale Standards schleifen, Shareholder Value und eine ins Unermessliche expandierende von der Realwirtschaft abgekoppelte Finanzspekulation führten zum Kollaps von 2008.

Erstaunlich, denn kluge und bekannte Menschen wie Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt hatten schon seit Jahrzehnten gewarnt. Die völlig jeder Kontrolle entglittenen virtuellen Finanzprodukte müßten „zivilisiert“, eingehegt und teilweise verboten werden.

(…..) Marion Dönhoff schrieb schon in den 1990er Jahren ihr bedeutendes Werk „Zivilisiert den Kapitalismus“ und legte damals schon dar, was uns dann richtig offensichtlich 2008 mit der Weltfinanzkrise ereilte.
Welche Gegenmeinung soll man da noch einnehmen, wenn jemand so offensichtlich voll ins Schwarze getroffen hat.
Bezweifelt denn noch irgendeiner, daß den internationalen Spekulanten das Handwerk gelegt werden muß? Ich würde dazu gern eine SERIÖSE Stellungnahme lesen, die mir erklärt weswegen das Derivatehandeln und Spekulieren mit Lebensmitteln eigentlich sein muß.
Es gibt auch Menschen, die sich dafür einsetzen.
So schrieb CDU-Darling Friedrich Merz, den heute noch fast die ganze Partei zurücksehnt, im Jahr 2008 sein Buch „Mehr Kapitalismus wagen“.
Wenn jemand so rechts argumentiert, merkt man allerdings meistens sehr schnell wieso das so ist. In Merz‘ Fall hängt das offenbar damit zusammen, daß er für den Hedgefonds „TCI“ arbeitet und persönlich damit sehr reich geworden ist.
Darauf läuft es fast immer hinaus.
Wenn jemand etwas offensichtlich Unsinniges beschließt, wie zum Beispiel den Merkel’schen Freifahrtschein für CO2-verschleudernde schwere Limousinen, dann erfolgte dies natürlich nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck.
Eine Millionenschwere Lobby ist sehr effektiv.
Waffenexporte, AKW-Subventionen, tierquälerische Geflügelzucht – wieso so etwas erlaubt ist, kann relativ leicht beantwortet werden.
Gier, Geld, Macht. (……)
(Verschiedene Journalisten, 28.10.2013)

Wie wir heute wissen, konnte die Finanzbranche leicht genügend Druck auf die Politik ausüben, um sich von sämtlichen Fesseln freizuhalten.
Deutschland tritt zwar nicht ganz so radikal für deregulierte Finanzspekulanten ein wie Mays England oder Trumps USA, aber auch Wolfgang Schäuble steht international immer zuverlässig auf der Bremse, wenn es darum geht, Steueroasen auszutrocknen oder Banker haftbar zu machen.

Für die norddeutsche Pleite-Bank HSH müssen wir Steuerzahler in Hamburg und Schleswig-Holstein nach wie vor Milliarden zuschießen, statt daß auch nur einer der irren Manager, die das verursacht haben auch nur einen Euro ihrer Millionen-Gagen abgeben muß.
Wie die allermeisten anderen Regierungen auch stehen Merkel und Schäuble für die große Geldflutpolitik:
Kein Spekulant wird zur Rechenschaft gezogen, die Schulden werden einfach immer schneller zu anderen Schuldnern verschoben, indem wöchentlich Billionen zu de facto Null Prozent Zinsen ins System gepumpt werden.
Durch den Zinsausfall verarmen Kleinsparer und Rentner, während die Superreichen entfesselt spekulieren und immer reicher werden. Der Vermögensgewinn der Spekulanten fußt beispielsweise auf ihren immer wertvolleren Immobilien und führt daher auf der anderen Seite direkt zur Verarmung der Mieter, die entsprechend mehr zahlen müssen.

Fernsehen macht Kluge klüger und Dumme dümmer, sagte schon Marcel Reich-Ranicki.
Eine Verklugungsreportage zeigte vor zwei Wochen die ARD unter dem Titel „Die große Geldflut - Wie Reiche immer reicher werden“.


Bekanntlich haben diese Informationssendungen keine Effekte. Vor einem Jahr wurde in dieser Reihe erklärt wie Steuermilliarden zu den Superreichen umgeschichtet werden.
Es gab keinerlei öffentlich Empörung, keine Demos vor dem Bundesfinanzministerium, keine Generalstreiks, um Wolfgang Schäuble zum Rücktritt zu bewegen. Schäuble verschenkt über Jahre systematisch und großzügig das von Putzfrauen und Krankenschwestern eingezahlte Steuergeld an die Superreichen und wird von eben diesen Putzfrauen und Krankenschwestern hartnäckig für äußerst kompetent und vertrauenswürdig gehalten.

Die allermeisten halbwegs Interessierten werden wissen, daß heute Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Man weiß auch, daß es für Otto Normalverbraucher keine sicheren Anlageformen mehr gibt, weil Banken sogar beginnen Strafzinsen zu nehmen.
„Kapitalismus kaputt“ rief Jakob Augstein aus, als die sparsame schwäbische Hausfrau, die eben noch von Merkel als Idealvorstellung gepriesen wurde, offiziell getötet wurde: Wer sein Leben lang sparsam war und „sich was für’s Alter zurückgelegt“ hat, wird nun mit Negativzinsen bestraft. Belohnt wird hingegen der Hallodri, der immer alles verprasste und ordentlich Schulden machte.
Möglich macht es die gewaltige Geldflut auf den Finanzmärkten.

Woher kommt eigentlich das ganze neue Geld fragten Studenten der Uni Siegen in der ARD-Reportage Passanten auf der Straße. Wer genau macht es, wie entsteht es?
Kaum einer weiß das so genau.


Tatsächlich schöpfen die Privatbanken Geld. Stichwort Giralgeldschöpfung.
Vergibt die Bank einen Kredit für 1000 Euro, schreibt sie das Geld elektronisch einem Kunden gut, hinterlegt im Gegenzug aber nur ungefähr 10 Euro (ein bis drei Prozent der Kreditsumme bei der Zentralbank).
Tilgt der Kunde dann den Kredit, gewinnt die Bank 990 Euro, die sie sich in die eigenen Taschen stopfen darf.
Auf diese Weise machen die Banken allein in Deutschland Jahr für Jahr aus dem nichts Milliardengewinne.

Verrückt, aber real. Man kann es überall nachlesen. Bankazubis lernen so etwas.

(….) Durch die aktive Buchgeldschöpfung schaffen die Geschäftsbanken zusätzliches Geld in Form von Buchgeld. Hauptquelle der Geldschöpfung ist heute die Kreditgewährung der Geschäftsbanken. (….)

Kapitalismus kaputt.

Verschiedene „Vollgeldinitiativen“ sammeln Unterschriften, um den Gesetzgeber dazu zu zwingen den Privatbanken das Giralgeldschöpfungsprivileg zu entziehen. Sie könnten dann nur noch das Geld verleihen, das sie entweder selbst besitzen, oder das sie zu 100% zurückzahlen müssen, falls sie es sich selbst geliehen haben.
Die Schweiz ist da recht weit, Deutschland schläft natürlich noch.
Die Chancen, daß Donald Trumps Goldman-Sachs-Regierung irgendetwas täte, um die Investitionsbanken zu zügeln …., äh ja.

Was viele nicht wissen: Banken stellen eigenmächtig Geld her. Unglaublich, aber leider wahr!

Das betrifft alles Geld auf unseren Bankkonti (genannt Buchgeld) und macht 90% des ganzen Geldes aus. (Von der Nationalbank hergestelltes Bargeld: 10%). Mit diesem von den Banken selbst gemachten Buchgeld spekulieren sie in grossen Finanzblasen. Wenn es Profite gibt, gehören sie den Banken. Bei Verlusten werden die Steuerzahler zur Kasse gebeten bzw. der Staat muss sie retten. Die Schweizerische Nationalbank hat diesbezüglich heutzutage leider ungenügende Einflussmöglichkeiten. Das ist ein Fehler! Deshalb die Vollgeld-Initiative:

• Nur die Schweizerische Nationalbank soll Franken herstellen dürfen – nicht nur Münzen und Banknoten, sondern auch das elektronische Geld auf unseren Konten. Dieses wird dadurch zu echten Franken.
• Dein Geld auf Deinem Privatkonto soll wirklich krisensicher sein, direkt garantiert von der Schweizerischen Nationalbank!
• Das ganze Finanz- und Bankensystem soll sicherer werden! Die Banken bleiben zuständig für Zahlungsverkehr, Vermögensverwaltung und Kreditvermittlung. Sie können aber kein eigenes Geld mehr erzeugen.

Diese Verbesserung entlastet die Steuerzahler und die Realwirtschaft und bringt allen deutlich mehr Sicherheit. Vollgeld ist kein Anliegen, das man im parteipolitischen Links-Rechts-Schema einordnen kann. Man könnte es mit der Einführung des Frauenstimmrechts oder der AHV [Alters- und Hinterlassenenversicherung - T.] vergleichen.


Montag, 6. März 2017

Wie Du mir, so ich Dir nicht.



Jeden Tag neue Friktionen mit der Türkei.
Nachdem Myriaden türkische Journalisten, Wissenschaftler und Lehrer relativ willkürlich verhaftet wurden; der Präsident aber Deutschland Nazi-Methoden vorwirft, schreibt SPIEGEL ONLINE lapidar „Erdogan dreht frei“.

Die Gefechtslage ist klar: Nachdem Frau Merkel der Türkei jahrelang attestiert hatte, de facto minderwertig zu sein und nie in die EU zu kommen, obwohl das Land gerade unter Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich enorme Fortschritte gemacht und sogar einen Frieden mit den Kurden  eingeläutet hatte, fing der Ministerpräsident irgendwann an zu schmollen. Wenn er schon nicht im exklusiven EU-Club mitmachen dürfe, wolle er wenigstens Kaiser der Türkei werden. Auf diesem Weg wurde Recep Tayyip Erdoğan leider größenwahnsinnig und geriet dann unverhofft in eine  Situation, in der Merkel ihn auf einmal dringend brauchte.
Jetzt rächt sich der Mann an ihr. Er glaubt sich mittlerweile gegenüber Deutschland alles erlauben zu können.
In dieser Hinsicht dreht er übrigens nicht völlig frei. Die Türkei ist wirtschaftlich viel schwächer als Deutschland und nahm dennoch bisher drei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Seit Jahren geht das so und nie wurde es der Türkei gedankt. Was wäre in Deutschland los, wenn hier drei Millionen Syrer und Iraker aufgenommen worden wären?

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon Bahr am 3. Dezember 2013)

Die Türkei hat auch Interessen und sie hat nun einen wirksamen Hebel gegen Merkel in der Hand. Die Kanzlerin befördert bis heute eher die Fluchtursachen, löst also keine Bürgerkriegskatastrophen. Sie tritt international eigentlich gar nicht als Vermittlerin und Friedenspolitikerin für den Nahen Osten oder Afrika auf.
Ihre Flüchtlingspolitik ist heute reine Abschottungspolitik. Sollen die Menschen doch fliehen – Hauptsache sie kommen nicht bis zu uns durch, sondern werden irgendwo weit vor Deutschland eingesperrt oder im Meer ersäuft.

Merkel hat sich tatsächlich in eine Erdoğan-Abhängigkeit begeben, die er jeden Tag mehr ausnutzt.
Inzwischen überreizt er sein Blatt aber derartig, daß sich Politiker von ganz links bis ganz rechts (aus unterschiedlichen Gründen) wünschen, Frau Merkel würde mit der Faust auf den Tisch schlagen.

Was für eine Absurdität – in alle den Jahren, als es noch den „netten Erdoğan“ gab, der Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit garantierte, wollte Merkel ihm nicht den kleinen Finger reichen, aber seit er zum Diktator, Despot und sogar Psychopath wurde, verwöhnt sie ihn.
Kein Wunder, daß er denkt vor seinem großen Ermächtigungsreferendum die Kanzlerin instrumentalisieren zu können. Sie läßt sich auch instrumentalisieren, indem sie ihn schon zwei Mal mitten im Wahlkampf besuchte, so daß es wie eine direkte AKP-Unterstützung aussehen mußte. Der Präsident glaubt nur gewinnen zu können. Poltert er gegen die Kanzlerin und die nimmt es weiterhin stoisch hin, wirkt er bei seinen konservativen Anhängern stark und respektiert. Sollte die Bundesrepublik in irgendeiner Form zurück keilen, würde das als antitürkisches Vorurteil umgedeutet und den Nationalismus befeuern – also ebenfalls der AKP helfen.

Eine Win-Win-Situation für Ankara?
Nicht ganz. Zu sehr darf Erdoğan nicht überreizen, da sein autoritärer Kurs der Wirtschaft schon schwer geschadet hat.
Sollte Merkel doch irgendwann die Nase voll haben und den EU-Türkei-Pakt platzen lassen, bekäme man am Bosporus ein gewaltiges Finanzproblem.
Ausgeschlossen ist das Szenario nicht mehr.
Merkel ist zwar so gut wie nicht zu demütigen, weil sie jede Beleidigung stoisch an sich abprallen lässt, aber innerhalb der CDU/CSU könnte sich enormer Druck aufbauen. Zu viele würden es gern sehen, wenn die Kanzlerin dem Psycho aus Ankara ordentlich in den Hintern tritt.
Emotional geht es mir kaum anders.
Erstens ist mir Recep Tayyip Erdoğan extrem unsympathisch.
 (Ich sehe ihn charakterlich auf einer Ebene mit Duterte und Trump. Verglichen mit dem debilen Trio wirkt Putin auf mich rational und weise.)

Es ist aber Vorsicht geboten.
Erreicht die Bundesregierung womöglich das Gegenteil, wenn sie mit gleicher Münze zurückzahlt? Wie wirkt es sich auf inhaftierte Journalisten aus, wenn Erdoğan noch viel wütender wird?

Hilft es nicht eher der eigenen Popularität in Deutschland, wenn Merkel oder Gabriel auf die Türkei eindreschen?
Bewegen sie sich nicht dann auf den gleichen Pfaden wie der Gescholtene?

Zu oft hört man beim Bau einer DITIB-Moschee von deutschen Nachbarn, das solle nicht erlaubt werden, weil man in Muslimischen Ländern schließlich auch keine Kirchen bauen könne.

Das ist aber gerade kein Argument. Wir relativieren unsere Freiheitliche Grundordnung nicht, wenn andere Länder weniger frei auftreten.
Wir töten keine straffälligen Amerikaner, weil in Amerika selbst die Todesstrafe herrscht.
Wir bestrafen keine schwulen Sudanesen, weil Homosexualität im Sudan verboten ist.
Und natürlich schränken wir nicht die Religionsfreiheit in Deutschland ein, weil es keine Religionsfreiheit in Saudi-Arabien gibt.

Es wird wohl nicht so schnell eine katholische Kirche in Riad gebaut werden. Wenn aber Hamburger Iraner eine schiitische Moschee bauen wollen, erlauben wird das, weil wir die Religionsfreiheit aller in diesem Land garantieren.

Merkel-Fan Cem Özdemir hat dieses Prinzip leider nicht verstanden.

[…..] Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir forderte am Montag im ARD-"Morgenmagazin" faire Bedingungen. Aus seiner Sicht müssten auch deutsche Politiker in der Türkei auftreten können. "Also warum nicht beispielsweise sagen, dann wollen wir auch eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz in der Türkei machen. Ich wäre bereit, dorthin zu gehen und eine Kundgebung zu machen, wenn Ankara für meine Sicherheit garantiert", sagte Özdemir. "Ich wäre mal gespannt, wie die Antwort ist." [….]

Falsch!
Die Redefreiheit in Deutschland hängt natürlich nicht mit der Redefreiheit in Istanbul zusammen.
Sollte Erdoğan morgen allen Deutschen verbieten öffentlich in der Türkei zu reden, verteidigen wir unseren Rechtsstaat, indem wir darauf achten, daß weiterhin alle Türken in Deutschland frei reden dürfen und eben nicht auf das gleiche postdemokratische Autokraten-Niveau absinken.

Deutschland hat gerade gegenüber der Türkei und anderen prä-autoritären Staaten gegenüber streng seine Liberalität, seinen Pluralismus und seine Freiheit zu garantieren.
Wir zahlen nicht mit gleicher Münze heim.
Der österreichische Kanzler Christian Kern ist mit seiner Idee, Wahlkampfauftritte türkischer Politiker EU-weit zu verbieten, vollkommen auf dem Holzweg.

Es tut mir ja Leid für alle Linken und Grünen, aber ausnahmsweise stimme ich in dieser Angelegenheit völlig mit der GroKo überein; mit CDU und SPD.

[…..] Trotz der Spannungen betonte die CDU die Bedeutung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Daher sei man auch nicht für ein generelles Auftrittsverbot für türkische Politiker, hieß es nach einer Präsidiumssitzung.
Ähnlich äußerte sich Bundesaußenminister Sigmar Gabriel: Die Bundesrepublik habe im Unterschied zu anderen EU-Staaten einen hohen Anteils türkischstämmiger Mitbürger, sagte Gabriel in Brüssel. Deshalb sei man schon immer ein Zielland des Wahlkampfes türkischer Parteien gewesen. Auftritte türkischer Politiker müssten möglich sein, solange nicht Sicherheitsbedenken dagegen sprächen. […..]

Das bedeutet aber andererseits nicht, daß man wie Merkel gegenüber Ankara und Washington kleinlaut und duckmäuserisch sein soll.
Laut und deutlich Bedenken zu artikulieren, muß man von der deutschen Regierungschefin erwarten dürfen.
Hier zeigt Merkel allerdings enorme Schwächen.

Merkels falsche Leisetreterei
 […..] Wenn es um notwendige Kritik an der Politik der Türkei oder ihres Präsidenten ging, lavierte Merkel in den vergangenen Monaten stets leisetreterisch herum und schickte zunächst andere vor. Sie vermied es zu lange, öffentlich selbst zu sagen, ob türkische Politiker in Deutschland Wahlkampf für Erdoğans Referendum am 16. April machen dürfen. Sie hätte früh erklären können, das dürften sie, solange sie hier nicht hetzen oder die Regierung beleidigen. Damit hätte Merkel vermutlich den Behörden in Gaggenau oder Köln geholfen. Spätestens seit am vorigen Freitag der türkische Justizminister Deutschland eines "faschistischen Vorgehens" beschuldigte, weil er nicht in Gaggenau hatte auftreten dürfen, hätte Merkel sich persönlich eindeutig äußern müssen. Dass sie zunächst auch noch schwieg, als Erdoğan der Bundesregierung "Nazi-Praktiken" vorhielt, ist unverzeihlich. Wieder mussten erst der Fraktionschef und der Regierungssprecher auftreten. Erst Montagnachmittag raffte sich Merkel selbst zu einer Bemerkung auf: Erdoğans "deplatzierte Äußerungen" könne man "ernsthaft eigentlich gar nicht kommentieren".
Merkel, so scheint es, hat das Gespür dafür verloren, wann sie Dinge treiben lassen kann und wann sie einschreiten muss. Das war schon bei der Auseinandersetzung mit Horst Seehofer so, ebenso wie bei der vergeblichen Suche nach einem eigenen Unions-Kandidaten fürs Präsidentenamt. Nun hat sie sich auch im Konflikt mit der Türkei zu lange weggeduckt. Das ist nicht diplomatisch klug, sondern falsch. […..]