Sonntag, 4. November 2018

Interessiert zwar niemanden, aber Fakten.


Natürlich bin ich mir vollkommen bewußt darüber, daß es Rechtsradikale und Lügner gibt, die damit großen politischen Erfolg haben.
Ich muss mich aber noch daran gewöhnen wie einfach Lügen heute geworden ist.
Einst bezeichnete man in der Post-NSDAP-Zeit Typen wie Haider oder Fortuyn als Demagogen.

Demagogie ist inzwischen, anders als in der Antike zwar sehr negativ konnotiert, aber man versteht darunter immer noch eine gewisse Kunstfertigkeit, für die es Talent und Planung braucht.
In Deutschland sind auch die Begriffe „Propaganda“ oder „Agitprop“ seit der NS-Zeit verseucht, weil jeder den ultimativen Schaden kennt, der damit angerichtet wurde – nämlich 60 Millionen Tote und ein völlig zerstörter Kontinent.

Niemand würde aber die große Begabung Hitlers, Goebbels oder Riefenstahls bestreiten.
Leni Riefenstahl ersann vor 100 Jahren im Alleingang Methoden und Techniken, die bis heute der Goldstandard in Foto, Film und Werbung sind.
Die bewegten Kameras, die Schnitttechnik, die Filter, die Perspektiven – alles was wir heute aus Hollywoodfilmen kennen und schätzen, läßt sich letztendlich auf Riefenstahls Innovationen zurückführen.

Junge Menschen kennen Hitler- und Goebbels-Reden heute als Kuriosum, weil sie alle diese kurzen Ausschnitte gesehen haben, in denen die Protagonisten laut schreien und wild fuchteln.
Vor 90 Jahren aber gab es nicht diese 30-Sekunden-Clips; die Menschen gingen persönlich zu den Veranstaltungen und hörten sich vollständige Reden an, in denen Hitler natürlich nicht von Anfang an hysterisch schrie, sondern seine Auftritte choreographierte. Er schmeichelte, heuchelte, baute einen Klimax auf.

Daher war auch Jörg Haider so eine Gefahr, weil er nach vielen häßlichen, alten fiesen Rechtsradikalen ein charismatischer, gutaussehender und hochtalentierter Rhetor war.

Das ist eine äußerst gefährliche Mischung und macht erst den perfekten Volksverhetzer aus. So einer kann die Massen triggern, jedem einzelnen das Gefühl geben persönlich angesprochen zu sein und dabei völlig glaubwürdig wirken.

Der Rechtsradikalismus à la Trump, Gauland und Farage bedeutet insofern eine neue Qualität, weil diese Herren so unfassbar schlecht und sofort durchschaubar lügen.
Trump verfügt nur über sehr reduziertes Vokabular, hat eine geradezu grotesk abstoßende Physiognomie (wie auch Wilders oder Johnson), gestikuliert lächerlich einfältig und wird auch noch ständig in äußerst lächerlichen Positionen ertappt. Er steigt mit angeschissenem Klopapier am Schuh in ein Flugzeug, lässt einen Schirm fallen, greift nach Mays Hand, weil er keine Treppen gehen kann, sabbert.
Dazu verkünden diese Herren derart hanebüchenen Unsinn, daß noch nicht mal deren glühendste Anhänger das wirklich glauben können.
Gaulands Rede auf dem Kyffhäuser Treffen, welche die ultrarechte Strömung „Der Flügel“ begeistert verbreitet, ist so absurd, daß ich sie immer wieder ausschnittsweise in Satiresendungen wie der Heute-Show oder Extra3 höre.

Das ist die neue Qualität der Demagogie und Hetze im Zeitalter der Filterblasen und sozialen Medien – sie braucht nicht gut zu sein. Selbst miserabel vorgetragene Gaga-Lügen werden begeistert geschluckt und multipliziert.
 Die renommierte FAZ druckt das vollständige Skript im Wortlaut ab.


[…..] Liebe Freunde, die Bundeskanzlerin will vollendete Tatsachen schaffen, bevor sie abtritt. Sie will den Bevölkerungsaustausch unumkehrbar machen… Wir sollen als Volk und als Nation allmählich absterben… Die Bundesregierung will, dass wir für die Einwanderer arbeiten, damit die in Ruhe Kinder in Welt setzen und Bevölkerungsaustausch vollenden können...“  [….]
(AG, Kyffhäuser 2018)

Niemand kann mir vorwerfen Sympathien für die CDU-Chefin zu hegen, aber zu erklären, sie wolle das deutsche Volk sterben lassen, ist fortgeschrittener Irrsinn.

Wenn die Partei, der er vorsitzt mühelos in alle 16 Landtage mit jeweils zweistelligen Ergebnissen einzieht, gibt es ein grundsätzliches Problem mit der deutschen Bildungspolitik und der Medienlandschaft.
Ja, die meisten Deutschen haben sich gut mit den Zufluchtsuchenden arrangiert, aber eine große Minderheit ist offenbar bereit völlig schwachsinnigen Naziparolen Glauben zu schenken.

Den Nazis – Rassisten/Demagogen/Lügner haben keinen euphemistischeren Begriff verdient  - ist es gelungen ein Narrativ zu etablieren, nach dem Angela Merkel im Jahr 2015 urplötzlich die Grenzen geöffnet habe, um Millionen Flüchtlinge ins Land einzuladen.
Dies wird inzwischen durchaus auch von seriösen Medien fahrlässig so übernommen, auch wenn sich Merkel, gelegentlich sogar assistiert von Christian Lindner wehrt und richtigstellt.
Die Grenzen waren natürlich im Jahr 2015 schon lange „auf“. Die generelle Reisefreiheit ohne irgendwelche Grenzkontrollen ist schließlich der Kern des Schenkenabkommens und der EU.
Die Grenzen waren also weder 2015, noch 2014 oder 2013 jemals geschlossen!
Es gab keine Kontrollen, die Merkel hätte abstellen können, keine Grenzbäume, die von der Bundesregierung hochgezogen worden wären.

[….] Während die AfD Merkel als Eidbrecherin bezeichnet, nennt Grünen-Politiker Konstantin von Notz die Theorie, Merkel habe die Grenzen geöffnet, die "Dolchstoßlegende unserer Zeit".
Formulierung Grenzöffnung "grundfalsch" [….] 1985 hatten Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Deutschland das Schengen-Übereinkommen unterzeichnet, das den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Vertragsstaaten vorsieht. Seit 1995 ist dieses Abkommen in Kraft und die stationären Grenzkontrollen sind abgeschafft. Heute umfasst der Schengen-Raum mit 26 Staaten fast alle EU-Mitglieder und einige nicht EU-Länder.
Kolja Schwartz von der ARD-Rechtsredaktion stellte daher bereits im April 2016 fest: Die Formulierung, Merkel habe die Grenzen geöffnet, sei "grundfalsch, weil es schon seit Jahren keine geschlossenen Grenzen mehr gibt innerhalb des so genannten Schengen-Raums. Es konnten also im Jahr 2015 auch keine Grenzen geöffnet werden." [….]

Man kann das alles detailliert nachlesen, wenn man an Fakten interessiert ist. Zum Beispiel in der ZEIT, ebenfalls unter der irreführenden Überschrift „Grenzöffnung“.

[….] In Angela Merkels Büro im siebten Stock des Kanzleramts trifft sich die "Morgenlage", die Runde ihrer engsten Mitarbeiter. [….] Aber die Stimmung an diesem Morgen ist angespannt, die Seelen sind aufgeraut. Zwei Tage zuvor ist an einem türkischen Strand der leblose Körper eines Dreijährigen gefunden worden, rotes T-Shirt, Gesicht nach unten – ertrunken im Mittelmeer, auf der Flucht nach Europa. Acht Tage zuvor hat man in Österreich, auf einem Seitenstreifen der Autobahn A4, einen Lastwagen mit 71 Leichen entdeckt: 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder, alle erstickt. Und dann sind da die Bilder vom Bahnhof in Budapest, seit Tagen schon kann man sie im deutschen Fernsehen sehen. Die Flüchtlingskrise sei kein europäisches Problem, sondern ein deutsches, hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán am Vortag gesagt.
Im Kanzleramt sehen sie das völlig anders, und dieser Konflikt, diese wechselseitigen Schuldzuweisungen, werden das ganze Wochenende bestimmen. [….]

Wer nicht ganz so bösartig wie die AfD-Nazis ist oder es gar als „Bahnhofklatscher“ oder „Rotgrünversiffter“ begrüßt heimatvertriebenen in Deutschland Asyl zu geben, ist Merkel heute dankbar und schreibt diese Entscheidungen ihrer christlichen Grundüberzeugung zu.

Das ist natürlich schon deswegen Unsinn, weil sich Merkel in den folgenden drei Jahren mit maximalem antihumanen Impetus mühte alle Grenzen zu blockieren, den Flüchtlingen das Leben schwer zu machen, Familien zu trennen, Kinder von ihren Eltern wegzureißen, bestens Integrierte Migranten abzuschieben und jedes Jahr tausende unschuldige Menschen im Mittelmeer elend ersaufen zu lassen.

Dennoch sitzt beispielsweise auch die bedeutende und kompetente CNN-Journalistin Christiane Amanpour der Legende von einer christlich überzeugten Gut-Kanzlerin auf und befragt zum Ende ihres CDU-Vorsitzes den SZ-Journalisten Stefan Kornelius dazu.

[….] AMANPOUR: [….] Because clearly, you remember way back in 2000, you quoted it, she quoted it, she talked about her vision as being the market plus humanity. So, she's obviously a conservative economist, if I could put it that way, but she has tried to have a compassionate,
Christian, humane government and policy.  And of course, we saw that when she allowed these immigrants fleeing war and devastation in their own country in 2015 to come in. That seems to  have backfired on her. How does she go forward with that very issue now?

KORNELIUS: Well, on immigration issue, you are right. It totally backfired and she not only was liberal or welcoming to those migrants because she was liberal mind or had an open heart, but because she's a very pragmatic and clear-thinking woman. Not the German chancellor, not a single politician in Europe would have been able to stop 15,000 migrants a day crossing the German border.
So, I guess she didn't close the borders or didn't send them back for several reasons. She would have destabilized vast parts of east and southeast Europe, she would have sent an extremely devastating message about Germany's culture to the outside world. And she couldn't have lived up to the promises in the end anyway because those people would have turned around and come through the back door. You cannot seal off Germany. This is not possible.
So, what she did is she put in policies in place with Turkey, with other neighboring countries across the Mediterranean and Northern Africa to
basically channel this flow of migrants and actually trickle it down. It's definitely it's too many people coming to Europe. Now, that took time.
And that was the basic mistake, she communicated badly and she now pays a huge price for that.  She lost power for that in Germany. This is the single issue which has turned against her and it will be the issue which she will be compelled to deal with for the remaining time in her office. But
[….] things she could do or have to do with European unity, with the rise of populism in Europe. [….]

Ich stimme Stefan Kornelius in dieser causa vollständig zu. Der Syrienkrieg lief damals schon 5 Jahre, Millionenfaches Sterben fand statt, Kinder lagen krepiert an den Mittelmeerstränden rum und Merkel musste erkannt haben, daß es keinen EU-Konsens gibt die Flüchtlinge zu verteilen und anzuerkennen.

Sie wird einfach abgewogen haben, daß eine abrupte Grenzschließung a) technisch und rechtlich unmöglich war und b) aus den drei von Kornelius genannten Gründen noch schlimmer gewesen wäre.

Dafür musste sie weder multikulti-freundlich, humanistisch oder christlich eingestellt sein. Sie musste nur in ihrer bisherigen Amtszeit alle Bemühungen für einen Frieden im Irak/Syrien in den Sand gesetzt haben  - das war bereits geschehen – und fahrlässig die europäische Solidarität ruiniert haben, indem sie Hardliner wie Hans Peter Friedrich das Dublin-Abkommen betonieren ließ, damit den Südländern den Stinkefinger zeigte, nachdem Hardliner Schäuble ihnen durch das Austeritätsdiktat ebenfalls den Stinkefinger gezeigt hatte – auch das war 2015 bereits passiert.
Nun konnte Merkel keine schnelle Hilfe von anderen Ländern mehr erwarten.

Die Grenzen zu blockieren wäre aber im September 2015 illegal gewesen, hätte die südöstlichen EU-Länder vollends in Chaos gestürzt, durch katastrophale Bilder an den deutschen Grenzen das Ansehen der weltweit größten Exportnation ruiniert und dabei die Flüchtlinge auch nicht aufgehalten, weil es eben keinen Grenzzaun oder Grenzmauern gab. Sie hätten überall nach Deutschland gehen können.

Für Merkel und jeden anderen, der in dieser Situation bei halbwegs klarem Verstand gewesen wäre, blieb als größtes EU-Land nur die Möglichkeit zu sagen „OK, kommt erst mal alle her!“

Es ist rätselhaft wieso die Kanzlerin in den folgenden drei Jahren weiterhin so passiv blieb und weshalb die Regierungsparteien so duckmäuserisch vor der AfD und xenophoben CSUlern krochen, statt klar zu kommunizieren wie die Situation nun mal war.