Sonntag, 9. November 2014

Weltereignis.



In jeder Generation gibt es nur ein Handvoll Weltmedienereignisse, die sich so ins kollektive Bewußtsein eingravieren, daß sich jeder daran erinnert wo er an dem Tag war.

In den letzten Einhundert Jahren waren es das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914, der Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918, der „schwarze Freitag“ am 25. Oktober 1929, die „Reichskristallnacht am 09.November 1938, der Weltkriegsausbruch am 01. September 1939, das Kriegsende am 08.Mai 1945, die Krönung Elisabeth II. am 02. Juni 1953, das Kennedy-Attentat am 22. November 1963 und die Mondlandung  21. Juli 1969.
Es folgten die Maueröffnung am 09. November 1989 und schließlich der 09. September 2001.

Während ich den allerletzten Termin außerordentlich genau erinnere, muß ich zu meiner Schande gestehen, daß mein 09.11.89 von den aktuellen und bekannten Bildern überdeckt wird.
Was ich an dem Tag tat weiß ich nicht mehr.
Dabei gibt es durchaus politische Ereignisse, die ich sehr bewußt erinnere.
Ich saß am gemütlichen Montag, den 03.Oktober 1988 mit einer Freundin im Café Cocteau unweit der Reeperbahn in der Wohlwillstraße und soff Vodca, als der Wirt die Musik runterdrehte und durchsagte, daß soeben Franz Josef Strauß an seinem Erbrochenen erstickt sei und sich nun bei den „Barmherzigen Brüdern“ befände.
Darauf wurde erst einmal angestoßen.
Donnerstag, den 17. Januar 1991 war ich gerade aus Berlin kommend direkt zu einer privaten Party in der Talstraße, ebenfalls direkt an der Reeperbahn, aufgeschlagen, als die Musik ausging und wir erfuhren, daß soeben „Desert Storm“ begonnen hätte. Das war zwar nicht wirklich überraschend, aber doch so empörend, daß ein Kumpel und ich für ein Taxi zusammenlegten und mitsamt meiner dreckigen Klamotten, die ich noch aus Berlin dabei hatte, zum US-Konsulat fuhren.
Es war mitten in der Nacht und wir wurden schon 50m davor von der Polizei abgedrängt. Es trafen laufend mehr Demonstranten ein, die vergeblich ihren Protest vorbringen wollten.
Irgendwann zückte ich meinen US-Pass, hielt ihn den nächsten Polizisten ins Gesicht und sagte ihm auf Englisch, daß ich sofort meinen Konsul sprechen müsse. Bizarrerweise klappte das sogar. Die wütenden Leute um mich herum hörten sogar kurz auf zu skandieren, als ich durch die Absperrung auf das Gelände des US-Generalkonsulates geführt wurde.
Man brachte mich bis zu einem Nebeneingang, in dem ein Vertreter des Generalkonsuls auf mich wartete. Ich sagte ihm, daß ich hiermit offiziell gegen die US-Kriegspolitik George Bushs protestieren wolle und wurde zurück gebracht. Eine Aktion von 120 Sekunden und total sinnlos.

Man wird ja älter. Als der ohne Mehrheit ins Amt gekommene Junior-Bush am  20. März 2003 den nächsten illegalen Angriffskrieg begann, hatte ich schon die ganze Vergeblichkeit persönlichen Protestes verinnerlicht.
Dabei war der europaweite Protest gegen den GWB-Irakkrieg enorm; die Demonstrationen waren viel gewaltiger als die von 1991 gegen Papa Bush.
Weltpolitischen Einfluss erlangt man aber nicht auf der Straße.
Einflussreicher war da schon das emanzipierte Wählerverhalten, das trotz der allgegenwärtigen Warnungen vor dem „rot-grünen Chaos“ Gerd Schröder und Joschka Fischer ins Amt gebracht hatte.
Beide hatten sich zum Ärger Angela Merkels frühzeitig gegen den Krieg ausgesprochen. Während die CDU-Chefin schleimspurziehend auf den Knien nach Washington rutschte und mit ihrem bellizistischen Beraterling Friedberg Pflüger erklärte, daß Deutschland unter ihrer Führung an GWBs Seite in den Irak zöge, verkündete der ebenfalls Irakkriegsbegeisterte Wolfgang Schäuble, daß selbst ein Schröder es nicht wagen könne Deutschland so total zu isolieren, um an Ende im UN-Sicherheitsrat allein mit Syrien gegen 13 andere Nationen zu stehen.
Was für eine Fehleinschätzung.
In den Monaten vor dem März 2003 verließ Joschka Fischer kaum noch den Regierungsairbus und klapperte alle anderen 14 Mitgliedsstaaten des UN Security Councils ab. Er versuchte alles, drohte, warnte, lockte.

Die christlichste aller christlichen Regierungen im Weißen Haus, weigerte sich mit der gewählten deutschen Regierung zu sprechen und empfing stattdessen Angela Merkel und Roland Koch als ihre wahren Freunde.

Schäuble und andere CDU-Außenpolitiker wie Pflüger haben sich bis heute nicht davon distanziert, daß sie das US-Junktim an Saddam – entweder Du rückst die Massenvernichtungswaffen raus, oder es gibt Krieg – unterstützten!
Das war mal eine tolle Alternative für jemanden, der schlicht und ergreifend die Wahrheit sagte, daß er nämlich keine Massenvernichtungswaffen hatte!
(„Nun kann sich ein Mann wie Schäuble wohl nicht vorstellen, daß auch mal jemand die Wahrheit sagt“ – Volker Pispers)

Zur Wehrkundetagung in München Januar 2003 kursierte ein George W. Bush-Unterstützerbrief der zehn europäischen USA-Unterstützer, als Außenminister Fischer Donald Rumsfeld entgegen schleuderte „Excuse me Sir I am not convinced“.

Da bebte sie wieder, die in einen Hosenanzug gezwängte uckermärkische Empörung.

Merkel, Christian Schmidt und Pflüger, die ebenfalls im Auditorium anwesend waren, erhoben sich und schleimten Rumsfeld mit Tränen in den Augen an, daß Deutschland selbstverständlich die USA militärisch unterstützen würde, wenn die CDU die Wahl (2002) gewonnen hätte.
(Ich habe die Übertragung auf Phoenix damals live gesehen).

Fischers Erfolg war erstaunlich, denn er zog nicht nur die beiden Vetoländer Russland und Frankreich auf die deutsche Seite, sondern betrieb mit Dominique de Villepin und  Igor Iwanow sogar de facto den Hauptwiderstand gegen Washington.
Sie setzten Amerika mit Memoranden so stark unter Druck, daß Merkels und Schäubles Voraussagen gegenstandslos wurden und GWB schließlich eine geballte Mehrheit der Welt gegenüberstand.
Washington versuchte alles, ging sogar so weit, daß Amerika zu einer der größten Blamagen aller Zeiten hingerissen wurde.
Unter dem persönlichen Vorsitz Joschka Fischers, trat der US-Außenminister Powell am 05.02.2003 im Sicherheitsrat auf und bereitete seiner Nation eine kaum wieder gut zu machende Schmach, indem er log, daß sich die Balken bogen.

Iraks Diktator Saddam Hussein sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen, behauptete US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat. Seine Rede war der Auftakt zum wenig später beginnenden Irakkrieg. Doch Powells vermeintliche Beweise entpuppten sich als falsch.

"Saddam Hussein besitzt chemische Waffen; Saddam Hussein hat solche Waffen eingesetzt."

"Saddam Hussein und sein Regime verschleiern ihre Bemühungen, mehr Massenvernichtungswaffen zu produzieren."

"Saddam Hussein ist entschlossen, an eine Atombombe zu kommen."

Am 5. Februar 2003 blickte die Welt gebannt nach New York - auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - und auf den amerikanischen Außenminister Colin Powell in der ungewohnten Rolle eines Chefanklägers beim Schlussplädoyer. Powell führte Satellitenaufnahmen, aufgefangene Funksprüche und grafische Darstellungen vor; er hielt eine Phiole mit einem weißen Pulver hoch, um zu demonstrieren, mit welch geringen Mengen von Anthrax-Sporen man zig Tausende umbringen könnte. Mit all dem plädierte Colin Powell auf den militärischen Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein.

"Saddam Hussein und sein Regime schrecken vor nichts zurück, solange sie nicht gestoppt werden."

Es war eine große Schau - und eine ebenso große Tragödie. Im UNO-Sicherheitsrat hätten nur die USA, Großbritannien, Spanien und Bulgarien für den gewaltsamen Regimewechsel im Irak gestimmt, die Mehrheit hätte dagegen votiert. So griffen die USA, Großbritannien und einige andere Staaten den Irak schließlich ohne ein Mandat des Sicherheitsrates an. Doch sie wurden nicht allerorts, wie erwartet, als Befreier begrüßt. Viereinhalbtausend amerikanische Soldaten und ungezählte Iraker verloren bei der Intervention ihr Leben. Millionen Menschen in vielen Ländern protestierten gegen den Angriff; Europas Staatenlenker waren gespalten. Vor den Vereinten Nationen setzte Colin Powell seine Glaubwürdigkeit für einen dubiosen Krieg aufs Spiel.

Das war echte Weltpolitik, die mich schwer beeindruckte.

Und der 09.11.1989?
Wie inzwischen auch Helmut Kohl unumwunden erklärt, brach die DDR nicht wegen der tapferen, friedlichen Freiheitskämpfer zusammen, die jetzt rund um die Uhr bejubelt werden.
In Wahrheit war das Land einfach total pleite und hatte zudem auch noch den großen Bruder Moskau verloren.
Dort saß längst der Reformer Gorbatschow, der den Ostberliner Steinzeit-Herrschern ins Stammbuch schrieb: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“

Vielleicht wäre die DDR schon eher zusammengebrochen; wenn nicht in den 1980er Jahren konservative Urgesteine wie Franz Josef Strauß aktiv die Lebenszeit des sozialistischen Ostdeutschlands mit Milliardenkrediten verlängert hätten.
Man stelle sich vor, daß ein SPD-Ministerpräsident nach Ostberlin gereist wäre und dort die SED-Führung mit Milliarden gepimpt hätte!
Dann wären Kohl und Co aber ausgerastet!

In den späten 1980ern bröckelte es in Polen, Ungarn und Tschechien erheblich mehr als in der DDR. Ich reiste 1987 durch Jugoslawien, Rumänien und Ungarn. Dort erlebte ich den sprichwörtlichen „Gulasch-Kommunismus“. Die Menschen nahmen sich einfach die Freiheiten, die für die devoteren Ostdeutschen nicht in Frage kamen. Rumänien war nach meinem Eindruck damals zu repressiv. Dort konnte man die Securitate wirklich jede Minute fühlen.
Und auch in Polen gab es mit dem Sicherheitsdienst Służba Bezpieczeństwa (SB), eine „Staatssicherheit“ mit Myriaden festen Angestellten und fast 100.000 inoffiziellen Mitgliedern. Allerdings waren die Polen offenbar viel querulantischer veranlagt als ihre sozialistischen braven Nachbarn im Westen.
Die legendäre Solidarność hatte schon eine Dekade bevor irgendwelche DDR-Montagsdemonstranten in Wallung kamen das Land durchgerüttelt.

Ich erinnere mich jedenfalls erst wieder an den 10.11.89. Das war ein Freitag, an dem ich ein wichtiges Kolloquium an der Uni hatte und morgens auf dem Weg dorthin kaum fassen konnte, wie Hamburg roch.
 Zweitakter-Auspuffgase überall; der typischer Straßenduft, den ich aus Ostberlin kannte.
Und nun waren all die Trabbis scheinbar in Hamburg und kurvten hupend umher.
Mein Labortag ging damals bis 18.00 Uhr und ich mußte mich sputen, um noch bei „COMET“ nebenan ein paar lebenswichtige flüssige Utensilien für das Wochenende zu kaufen. Es war die schwarzgelbe Regierungszeit, als im Banngriff der Kirchen starrste Ladenöffnungszeiten galten. Um 18.30 Uhr hatte alles zu zu sein.
Der Comet hinter den Chemischen Instituten war damals allerdings nie besonders frequentiert. Umso mehr staunte ich, als ich die Schlangen an den Kassen sah.
Nachdem ich dort ebenfalls lange gewartet hatte, drängelte sich ein vollbepackter Einkaufswagen direkt nach vorn vor eine ältere Dame, die zwar nichts sagte, aber sich doch hörbar verärgert über das rüpelhafte unhanseatische Verhalten räusperte.
„Was denn, was denn?“ schallte es ihr da in sächsisch entgegen: „Wir haben Jahrzehnte lang gewartet. Nun seid ihr mal dran!“
Das war meine erste Begegnung mit der deutschen Einheit.