Als ich 1999 in meine jetzige Wohnung zog, war es noch üblich, sich mit einem kleinen Blümchen in der Hand, den Nachbarn vorzustellen. Daher habe/hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu den Leuten, mit denen ich Wand an Wand wohne. Natürlich quatsche ich auch mit den Menschen, denen ich in meiner Nähe begegne.
Besonders die ältere Frau, die direkt über mir wohnt, hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis und erklärt jedem, was „diese Ausländer!“ nun schon wieder Schlimmes getan haben. Sie fühlt sich regelrecht verfolgt. Überall, wo sie sich bewegt; im Bus, bei Einkaufen, im Arzt-Wartezimmer; sitzen haufenweise dunkelhäutige Ausländer und starren sie an. „Diese Ausländer“ haben alle kein Benehmen und viel zu viel Zeit, weil die alle nicht arbeiten und vom Staat finanziert werden. „Diese Ausländer“ sind von Rundfunkgebühren, Mieten und Krankenkassenbeiträgen freigestellt und leben nur auf Kosten der fleißigen Deutschen. Nach mittlerweile 26 Jahren, weiß ich gar nicht mehr genau, wie lange ich höflich widersprochen habe und ihre Abstrusitäten richtigstellte. Laut wurde ich nie, aber irgendwann stellte ich sehr deutlich klar, selbst Ausländer zu sein und deswegen noch nie von einer Zahlung befreit worden zu sein. Selbstverständlich zahle ich Wasser, Strom, Telefon und Rundfunkgebühr aus meiner Tasche.
Nach meiner Erinnerung, war es das erste mal, daß ich auf das heute dominante Phänomen der Fakten-Ignoranz traf. Es war noch vor dem Internet, aber meine Nachbarin hatte ihre eigenen Fakten und wußte eins sicher: Wenn Tagesschau oder „die Zeitung“ oder der Ausländer-Nachbar unter ihr, etwas anderes sagten, als sie glaubte, mussten die alle lügen.
Sie empfahl mir, mehr Fernsehen zu gucken und rückte keinen Millimeter von ihren Standpunkten ab. Ich begann, ihr aus dem Weg zu gehen. Bis heute horche ich einen Moment an der Wohnungstür, bevor ich raus gehe. Der Frau möchte ich möglichst nicht mehr begegnen.
Mit dem Aufkommen der AfD und den Flüchtlingsjahr 2015 bekam sie Oberwasser und war sich nun sicherer denn je: „Diese Ausländer“, die alle zu faul zum arbeiten sind, nehmen den Deutschen nicht nur die Jobs, sondern auch die Wohnungen weg. Empört blaffte sie mich an, ihr Sohn habe sich für eine Wohnung beworben, sie aber nicht bekommen. Das läge offensichtlich an seiner biodeutschen Natur. Der Staat verlange schließlich von den Vermietern, nur noch Ausländern Wohnungen zu geben.
Klar, das wurde schließlich in unzähligen Blindtests bewiesen: Bei Bewerbungen um Jobs und Wohnungen, werden Menschen afrikanischer Herkunft oder mit türkischen Namen immer sofort angenommen, während Max und Erika Mustermann draußen bleiben müssen.
33 und 36 Quadratmeter groß sind die beiden Wohnungen, die mir mittlerweile gehören. Naja, genauer gesagt, gehören sie weitgehend der Bank, aber ich stehe schon mal im Grundbuch und kassiere die Mieten. (Ich verstehe bis heute nicht, wie ich zu dieser kapitalistischen Bauernschläue fähig war und ins Lager der Vermieter wechselte.) Aber nun brachte mich meine Nazi-Nachbarin auf eine Idee. Statt mit ihr darüber zu argumentieren, wie enorm People Of Color auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt sind, was ohnehin zum Scheitern verurteilt war, handelte ich „wegen der AfD“. Sollte die Hexe über mir doch Recht bekommen. Ich kontaktierte eine Flüchtlingshilfsorganisation, um Mieter zu bekommen.
Finanziell ist das nicht der lukrativste Weg, weil ich in Hamburg durchaus höhere Mieten erzielen könnte, aber für mein Gewissen und meine Zufriedenheit, war es herrlich, schließlich in beiden Wohnungen Eritreer als Mieter zu haben.
In beiden Fällen übernahm zwar zunächst die Arge die Mietkosten, aber nachdem sie sich im Vergleich zur Sammelunterkunft so deutlich verbessert hatten, fanden sie schnell Jobs und kommen selbst für ihren Lebensunterhalt auf.
Wenn ich heute meiner doofen Nachbarin begegne, reden wir gar nicht mehr, aber innerlich lächele ich bei der Vorstellung, daß ausgerechnet sie, zwei von „diesen Ausländern“ indirekt eine Wohnung verschaffte.
Bei einem weitere Wohnungswechsel schaltete ich „Abrigo“ ein. Die bemühen sich um die dringendsten unter den dringenden Fällen.
[…..] Das spanische Abrigo steht für „Obdach“: Wir suchen und vermitteln Wohnraum für Geflüchtete – insbesondere LSBTI* (Lesben, Schwule, Bi-, Trans-, Intersexuelle), die in Hamburg in öffentlicher Unterbringung leben und dort einer Gefährdungslage ausgesetzt sind. In eigenem Wohnraum können sie Sicherheit finden und in Ruhe ankommen.
Kompetente Beratung
Wir beraten die Mieter_innen in allen Fragen, die das Mietverhältnis betreffen und sind beim Bezug der Wohnung behilflich. Unsere dreimonatige Intensivberatung nach Einzug sowie weitere Beratung und Begleitung während des Mietverhältnisses unterstützt die Mieter_innen bei ihrer Integration im Wohnumfeld. Unser Leistungsangebot umfasst auch die Begleitung zu Terminen und Besuche in der Wohnung. Bei Bedarf stellen wir Kontakt zu weiteren Angeboten im Hamburger Hilfesystem her.
Unsere Angebote für Vermieter_innen
Finanzielle Sicherheit gewährleistet unser Absicherungsvertrag.
Bei Bedarf stehen wir mit unserem Knowhow und Engagement bei Beratungen, Interventionen und Moderationen während eines Mietverhältnisses zur Verfügung.
Für die schutzsuchenden Menschen erfolgt der Zugang zu unserem Projekt über die Opferschutz Koordinierungsstelle savîa steps against violence (verikom e.V.), das Magnus-Hirschfeld-Centrum e.V. und Intervention e.V.
In der Regel verfügen die bei Abrigo gemeldeten Wohnungssuchenden über eine von der Bezirkliche Fachstelle für Wohnungsnotfälle ausgestellte Dringlichkeitsbestätigung.
Das Projekt Abrigo wird seit 2016 im Auftrag der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration (BAGSFI) umgesetzt.[….]
Abrigo empfehle ich mit Überzeugung und Freude weiter. Ich habe nur die allerbesten Erfahrungen gemacht. Wer eine Wohnung zu Verfügung stellen kann, wende sich bitte an sie.
2023 geschah dann etwas Ungeheuerliches. Nach nur einem guten halben Jahrhundert, wurde ich für würdig befunden, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Ich bin zwar immer noch auch Ausländer. Aber inzwischen mit deutschem Pass. Der AfD gefällt es gar nicht, daß jemand wir ich „Passdeutscher“ werden kann, nur weil er in den 1960ern in Hamburg von einer deutschen Mutter geboren wurde, die aus einer 500 Jahre in Norddeutschland ansässigen Kaufmannsfamilie kommt und ich in Deutschland Abitur machte und studierte. So gut wie ein „Biodeutscher“ kann ich natürlich niemals werden und daher planten CDU- und AfD-Politiker auf ihrer berüchtigten Wannsee-II-Konferenz bereits meine „Remigration“. Passentzug für die Passdeutschen, die zu wenig arisches Blut in sich tragen.
Ungefähr zum Zeitpunkt meiner Einbürgerung gingen Berichte über die Neubesetzung der 60.000 Schöffenstellen durch die Presse.
[….] In Deutschland werden aktuell Schöffinnen und Schöffen gesucht. Was ist ihre Funktion, warum ist die Besetzung schwierig und welche Rolle spielen dabei Rechtsextreme?
⚖️ Was machen Schöff/-innen?
· Die Bezeichnung tragen ehrenamtliche Richter/-innen, die bei bestimmen Strafverfahren die Berufsrichter/-innen ergänzen. Sie stimmen über Tatnachweis (Schuld) und Strafhöhe mit ab.
· Der Arbeitsaufwand variiert je nach Verfahren – Schöff/-innen nehmen nur an Hauptverhandlungen Teil.
· Die Amtszeit beträgt fünf Jahre. Für die nächste Amtszeit (2024-28) werden derzeit ca. 60.000 Schöffen/-innen in Deutschland gesucht.
📝 Wer kann sich bewerben?
· Bewerben können sich deutsche Staatsangehörige zwischen 25 und 69 Jahren, die u.a. gesundheitlich geeignet und nicht schwerwiegend vorbestraft sind.
· Die Bewerbungsphase für die nächste Amtszeit läuft bereits. Informationen zum Verfahren und Bewerbungsfrist (oft 31.3.) findest du bei deiner Kommune.
· Es fehlt aktuell an Bewerber/-innen. Hat eine Kommune zu wenig Kandidat/-innen, werden Bürger/-innen nach dem Zufallsprinzip für das Ehrenamt verpflichtet.
💭 Schöffenamt und Rechtsextreme
· Zwei Schöff/-innen können eine/-n Berufsrichter/-in überstimmen. Das ist viel Verantwortung und Macht.
· Rechtsextreme Akteur/-innen wollen diesen Einfluss nutzen – und rufen unter Gleichgesinnten zur Bewerbung auf das Ehrenamt auf.
· Nach einem neuen Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums sollen sich ehrenamtliche Richter/-innen zur Verfassungstreue bekennen müssen.
Ausführliche Informationen
zum Schöffenamt findest du in unserem Buch:
Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1899
[….]
Das Thema kannte ich auch von meiner Nazi-Nachbarin. „Diese Ausländer“ werden vor Gericht grundsätzlich freigesprochen, weil alle Richter linksgrünversiffte Alt-68er sind. Deswegen nahm die AfD massiv Einfluss und versuchte, rechtsextreme Gleichgesinnte auf die Richterbänke zu bugsieren.
[….] Rechte Begeisterung für die Schöffenwahl
Rechtsextreme und Querdenker rufen Gleichgesinnte auf, sich als Schöffen zu bewerben. [….] Die rechtsextreme Partei Die Heimat – die frühere NPD – ist eigentlich schon viel zu spät dran, als sie Ende Juli über Telegram aufruft: "Für unsere Heimat als Schöffe einstehen!" Wer sich daraufhin als Schöffe bei Gericht bewerben will, hat vielerorts Pech. Die meisten Bewerbungsfristen sind längst verstrichen.
Doch es gibt viele solcher Aufrufe, auch ältere, zur rechten Zeit. Vom AfD-Bundestagsabgeordneten Mike Moncsek etwa, oder von den Querdenkern Markus Haintz und Christian Dahlmann, denen auf Telegram Zigtausende Menschen folgen. In einer Gruppe mit über 150.000 Abonnenten haben die rechtsextremen Freien Sachsen Anfang des Jahres appelliert, bei der alle fünf Jahre stattfindenden Schöffenwahl mitzumachen: um "den grünen Richter zu überstimmen, der bei Neubürgern wieder einmal kulturellen Strafrabatt geben will". Zumindest theoretisch können sie das. Schöffen sind Menschen ohne juristische Vorbildung, die bei Prozessen an Gerichten unterer Instanz eingesetzt werden. Dabei haben sie die gleiche Stimme wie Berufsrichter. In der Konstellation des sogenannten Schöffengerichts, bei der zwei Schöffen mit einem Berufsrichter urteilen, können sie ihn überstimmen.
Schöffen sind Bürger ohne juristische Vorerfahrungen, die an Strafprozessen in Amts- und Landgerichten beteiligt sind. Dabei haben sie das gleiche Stimmrecht wie Berufsrichter, entscheiden aber niemals allein. Sie urteilen in den Verhandlungen immer mit mindestens einem Berufsrichter und einem zweiten Schöffen. [….]
"Der Rechtsstaat lebt von der Gleichberechtigung. Wenn Sie aber eine Ideologie der Ungleichwertigkeit haben, wird es dazu kommen, dass Sie das Grundprinzip der Gleichheit nicht aufrechterhalten können", sagt Rechtsextremismusforscher Dierk Borstel. "Dann werden Menschen unterschiedlich bestraft für die gleiche Tat im gleichen Kontext, weil sie zum Beispiel Migranten oder Jüdinnen oder schwul sind."
Am Amtsgericht, wo viele Schöffen zum Einsatz kommen, gibt es einen ziemlich großen Entscheidungsspielraum. Da kann es um die Länge der Freiheitsstrafe gehen, aber auch um die Frage, ob es überhaupt Gefängnis sein muss oder doch nur eine Geldstrafe. [….] Die Aufrufe sind kein neues Thema. Auch bei der vergangenen Wahl vor fünf Jahren hatte unter anderem die NPD aufgerufen – woraufhin nach Beobachtungen des NRW-Verfassungsschutzes niemand aus den Reihen der Partei Schöffe geworden ist. [….]
Es gilt also mit bürgerlichem Engagement dagegen zu halten.
Ich bewarb mich, wurde gewählt und richte.
Als hauptamtlicher Schöffenrichter an einem Hamburger Amtsgericht.
Da sitze ich nun einmal im Monat auf der Richterbank. Dank meiner Nachbarin und der AfD.
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