Dienstag, 28. März 2017

Wat mut, dat mut.

Als Kind und Jugendlicher gehörte ich zu der Minderheit, die den Sport-Unterricht wie die Pest gehasst haben.
Zum Teil hing das sicher damit zusammen, daß ich immer mit Abstand der Jüngste in der Klasse war (einmal gesprungen) und mich dadurch bei Leichtathletikdisziplinen gegenüber den anderen Jungs, die zwei Jahre älter waren benachteiligt fühlte und zum anderen missfallen mir alle Mannschaftssportarten, weil Kinder dabei brutal mit den Unfähigeren umgehen.
Vielleicht war ich auch damals schon, ohne den Terminus Technicus zu kennen, leicht sozialphobisch oder aspergerig. Körperkontakt, zumindest in der eher rabiaten Art, gefiel mir nie.
In der dritten oder vierten Klasse bekamen wir erstmals „Schwimmen“ als Schulfach. Ich erinnere mich noch, daß ich zunächst frohlockte. Dadurch daß wir einen großen Teich im Garten hatten und meine Eltern befürchteten ich könnte ersaufen, war ich schon viele Jahre vorher in eine „Schwimmschule“ geschickt worden und schwamm seitdem wie ein Fisch.
Wasser war eindeutig mein Element. Endlich sollte ich auch mal irgendwas im Sport gut können, sogar deutlich besser als die meisten. Es gab eine ganze Reihe Nichtschwimmer in der Klasse.
Aber das war natürlich auch ein Reinfall. Erstens gefiel es mir noch weniger als Vorbild für die armen untergehenden Tropfe herzuhalten, als wie früher selbst derjenige zu sein, der etwas nicht gut konnte und zweitens war das Schulschwimmen mit sagenhaftem Aufwand verbunden. Erst mußte man sich sammeln, dann mit einem Bus quer durch die Stadt gefahren werden, um schließlich in einem durchchlorierten Hallenbad anzukommen, welches mit stinkigen Fußpilz-Katakomben nicht gerade einladend wirkte.
In einer der sparkigen Mannschaftsumkleiden mußte man sich dann eine blöde Badehose anziehen, die am Körper klebte (Wozu? Zuhause schwammen wir immer nackt!), eine gräßliche Badekappe aufstülpen, so daß man nichts mehr hörte, um dann schlußendlich noch nicht mal nach Herzenslust herum zu tauchen und ins Wasser zu springen.
Nein, nun wurde akribisch zwischen Kraulen und Brust unterschieden. Zudem hatte ich auf der Bahn zu bleiben und zu allem Übel wurden Zeiten gestoppt, so daß wieder die verhassten Rangfolgen und Noten erstellt werden konnten. Was für eine Pleite.
Besser wurde es nicht. Schon vor der Sportumkleide graute es mir. All die Jahre, in denen die Jungs penetrant mit den Fortschritten ihrer Pubertät prahlten, verkündeten nun schon sechs Sackhaare zu haben; sich auch noch auf den Sportunterricht freuten!
So zog sich das über die Jahre hin. Der Tag, an dem ich den verflixten, peinlichen „Turnbeutel“ mit in die Schule schleppte, war schon mal die Pest.
Gut war dann erst die Skireise in der zehnten Klasse, auf die sich alle so freuten. Diese 10 Tage im Kleinwalsertal galten als Highlight vor der Oberstufe und schon Jahre vorher kleideten sich die Popper mit den teuersten Skianzügen.
Zum Glück war ich da aber alt genug, um das einzig richtige zu tun; ich schwänzte und hatte zehn Tage frei! Das war super. Endlich in Ruhe abends mit den älteren Schülern zechen gehen, ohne daß man am nächsten Morgen in die Schule mußte.
Anders als beim üblichen Schwänzen wurde aber niemand verdächtigt die Skireise zu schwänzen, so daß noch nicht mal die Ausrede besonders ausgefeilt sein mußte und man sogar bedauert wurde.

In der Oberstufe, der VS (11. Klasse) wurde ein behaarter Riese namens „Kingkong“ mein Sportlehrer. Aufgrund der begrenzten Sporthallenkapazität hatten alle Oberstufenschüler in der Nullten Stunde (07.05 Uhr) Sport. Da drängelten sich die verschiedenen Kurse, so daß Kingkong entschied wir würden ein volles Jahr trainieren eine Meile zu laufen. Viermal um den Fußballplatz herum zu gurken war natürlich auch eine Strafe, aber Kingkong bevorzugte in 9 von 10 Fällen einen Waldlauf. Dazu rannten wir direkt aus der Umkleide ca 50 m die Straße entlang, um dann in ein Wäldchen abzubiegen. Mein bester Freund Sören und ich liefen immer am Ende der Schlange, bogen vor dem Wäldchen rechts ab, kauften dort bei einem Penny-Markt ein Billig-Brick Weißwein oder wenn wir mehr Geld hatten auch eine Flasche Sekt (Bier war nicht gut, wegen der Fahne), hockten uns auf eine Bank, rauchten ein paar Zigaretten, tranken die Flasche leer und warteten bis man ein vielstimmiges Keuchen aus dem Wald hörte. Das bedeutete sich kurz hinter der Parkbank zu ducken, zu warten bis die verschwitzten Mitschüler an einem vorbei gerast waren und sich dann wieder ganz hinten einzugliedern.
Gelegentlich fragten wir uns wie Kingkong uns wohl benoten würde, da er uns ja nie zu Gesicht bekam. Ich weiß noch wie herzlich wir lachten, als Sören nach einem Semester 8 Punkte und ich lediglich 4 Punkte im Sport bekam.
Offensichtlich wirkte meine Frisur weniger windschnittig auf ihn.
In der 12. Klasse war aber Schluss mit lustig. Ich mußte zwei Semester Jazzgymnastik, ein Semester Volleyball und ein Semester Basketball belegen. Das war vielleicht ein Alptraum. Natürlich packte mir inzwischen niemand mehr einen Turnbeutel, so daß ich logischerweise gar keinen dabei hatte und stets auf Socken und in Straßenkleidung mit den anderen rumhampeln mußte.
Jazzgymnastik stellte sich zudem nicht nur wie erwartet als unfassbar peinlich heraus (nur in Verbindung mit Marihuana zu ertragen. Zum Glück gab es einen Dealer an der Schule!), sondern dabei fiel meine Schwänzerei immer besonders unangenehm auf. In jeder Stunde lernte man neue Schrittfolgen einer Choreographie, die aufgrund meiner spärlichen Anwesenheit für mich unmöglich zu erlernen war.
Nach zwei Joints auf Socken ohne irgendwelche Schrittfolgen zu können, sinn- und zweckfrei bei der Notenvergabe zu Tina Turners „Privat Dancer“ zu debakulieren, gehört zu den traumatischsten Erlebnissen meiner Jugend.
Nach über 30 Jahren kann ich mit Fug und Recht sagen, daß ich die Sportlehrerin heute noch genauso abgrundtief hasse wie damals.
Als sie mit Leichenbittermiene verkündete, das sei aber nicht mehr als 2 Punkte wert und theatralisch losgiftete, falls ich um meine Versetzung fürchtete, solle ich nicht auf ihr Mitleid hoffen, war ich ernsthaft sauer.
Was bildet sich dieses pastellfarbige Stirnband-tragende Gymnastikhuhn mit den albernen Keulen, Reifen und Bändern ein? Daß sie aus meinen Jazzgymnastikleistungen schließen kann, ich wäre in den Schulfächern, die Köpfen erfordern genauso schlecht?
Unverschämtheit. Dachte die, ich wäre kein vorbildlicher Schüler mit guten Noten? Zum Glück war ich zu high, um mit ihr zu streiten, sondern lachte sie nur aus.
A posteriori lässt sich ganz klar sagen, daß 90% meines Schulverdrusses am Sportunterricht lagen.
 Ohne den Mist wäre das durchaus zu ertragen gewesen.

Während in der Grundschule und teilweise auch noch in der Mittelstufe viele Kinder den Sportunterricht mochten, war ich in der Oberstufe wenigstens nicht mehr der einzige, der an der Quälerei verzweifelte.
Schwimmen, das ist einsehbar, gehört zu den Basics, die jedes Kind in der Schule lernen sollte.

Bis heute sehe ich nicht ein, daß man für das Abi Englisch oder Erdkunde auslassen kann, aber Sport nicht abwählbar ist.
Wie kann etwas benotet werden, das mit den rein zufälligen physischen Gegebenheiten zusammenhängt?
Das peinliche Gehoppse zu Tina-Turnersongs ging genauso in meine Abi-Note ein, wie meine mathematischen Fähigkeiten bei der Integralrechnung.

Allerdings, das gebe ich zu, zu meiner Schulzeit gab es keine Smartphones, keine Computerspiele und nur ganz ganz wenige hatten MTV oder einen Videorekorder.
Kinder spielten üblicherweise draußen. Diese vorm Bildschirm klebenden Nerds waren noch nicht erfunden. Es gab auch noch nicht diese Overprotective-mums, die einen immer mit dem Auto kutschierten. Wir hatten alle Fahrräder und mußten uns alle sowieso regelmäßig bewegen.

Vielleicht bin ich auch bloß ein hoffnungsloser Fall. Andere sind womöglich durch den Schulsport zu Hobbybasketballspielern und Profi-Gymnastinnen geworden.
Ich habe an der Uni noch ein paar mehr Mathescheine gemacht, als ich haben mußte, während viele ehemalige Schüler sicher froh sind, wenn sie nichts mehr mit Mathematik zu tun haben müssen.

Sich zu beklagen ist aber müßig. In Deutschland bekommen die Kinder eine vergleichsweise recht gute Schulbildung völlig kostenlos.
Der Staat bezahlt KITA plus 13 Jahre professionellen Unterricht bis die Blagen erwachsen sind und als „hochschulreif“ gelten.

Unterm Strich ist das für Eltern schon ein extrem gutes Geschäft.
Öffentliche Schulen und Schulpflicht ist die Methode der Wahl.
Man sollte Darwin danken, daß in Deutschland Homeschooling verboten ist und daß sich keine Betsy de Vos den Posten der Bundesbildungsministerin gekauft hat.

Die Gesellschaft, die in diesem Fall als Kultusministerkonferenz auftritt, verständigt sich auf allgemeine Schulinhalte, über die Eltern und Schüler eben gerade nicht individuell entscheiden dürfen.
Ob es jedem einzelnen Kind gefällt Kurvendiskussionen durchzuführen, französische Grammatik zu lernen und Jazztanzchoreographien zu studieren, ist irrelevant.
Kinder müssen lernen. Sie müssen insbesondere lernen zu lernen.
Dazu gehört es auch sich Dinge anzueignen, die zumindest auf den ersten Blick nicht gefallen.

Es ist nicht Aufgabe der Eltern je nach Neigung oder religiotischer Vorbelastung darüber zu entscheiden, ob Evolution oder lieber Kreationismus gelehrt wird.
Die Lehrpläne haben sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht nach den Irrlehren elterlicher Privatgurus zu richten.
Hedwig Beverfoerde, Gabriele Kuby und Birgit Kelle sollen ihre „Demo für alle“ unterlassen und akzeptieren, daß in den Schulen des Jahres 2017 kein ausgrenzendes und diskriminierendes Menschenbild der 1950er Jahre mehr gelehrt wird.
Kinder müssen von früh an lernen, daß lesbische Eltern oder Trans-Sänger nicht dafür da sind, um mit dem Finger auf sie zu zeigen und sie auszulachen.
So wie man auch in der Schule lernen muß nicht die Finger auszustrecken und „NEGER“ zu grölen, wenn man einem dunkelhäutigen Menschen begegnet.

Ich sympathisiere mit dem streng säkularen Bildungssystem des Attatürk, das Kopftücher ultimativ in Schulen und Universitäten verbot. Das hat der Türkei gutgetan.
Allerdings empfinde ich das Kopftuch nicht als emotionales Thema.
Wer es tragen möchte, soll es tragen. Jemand anders dazu zu zwingen ein Kopftuch gegen seinen Willen zu tragen, ist ohnehin verboten, da es keinen Religionszwang gibt.
Das Problem bleiben also Mädchen, die so jung sind, daß man nicht sicher sagen kann, ob sie aus eigenem Willen oder wegen des Drucks/Wunsches/Vorbildes der Eltern Kopftuch tragen.
Das ist eine Aufgabe für die Pädagogen.
Christliche Eltern, die ihre Kinder schon im Säuglingsalter taufen lassen, also lange bevor die Kinder selbst über ihre Zugehörigkeit zur Kirche entscheiden können, sollten sich aber nicht als Verfechter für die Religionsfreiheit aufspielen, wenn sie gegen das Kopftuch vorgehen.

Ein generelles Bannen religiöser Symbole aus öffentlichen Einrichtungen könnte eine Lösung sein. Keine Kopftücher, aber dann natürlich auch keine Kreuze und Weihnachtskrippen mehr.

Nicht zulässig ist eine partielle Verweigerung der Schulpflicht.
Ob einem Sport gefällt, ist irrelevant.
Alle Kinder müssen mitmachen.
Es ist auch irrelevant, was ein anatolischer Frömmler davon hält, wenn seine zehnjährige Tochter Schwimmunterricht erhält. Das ist nun einmal obligatorisch. Period.
Das deutsche Schulsystem ist kein Wunschkonzert, bei dem man sich aussuchen kann, welche Inhalte man annimmt und welche man verweigert.
Mathe, Englisch, Schwimmen und Sexualkunde – jedes Fach wird von einigen Schülern vermutlich genauso gehasst wie ich einst Jazzgymnastik hasste.
Aber gemeinsame Standards schließen Extrawürste aus.
Hier darf es keine falsche Rücksichtnahme auf elterliche Befindlichkeiten geben.

In das Kapitel gehört auch der Fall des schwulen Erziehers in der Berliner KITA, der gerade durch die Presse geht.
Einige Muslimische Eltern wollen ihre Kinder nicht zu einem schwulen Kindergärtner geben. Pech gehabt. Ich wollte auch meine Jazzgymnastiklehrerin nicht haben, hieße jetzt die billige Analogie.
Staatliche Einrichtungen haben sich aber eben nicht nach religiotischen Befindlichkeiten zu richten; sie dürfen das gar nicht.
Es liegt auch nicht im Ermessen der Bürger, ob sie Steuern zahlen möchten oder zum Autofahren einen Führerschein benötigen.
Wat mut, dat mut.

[….]  Ein Homosexueller wird in Berlin-Reinickendorf Erzieher in einer Kita mit muslimischen Eltern. Das löst wütende Proteste aus. [….]  . Die Kinder wissen ja nicht, dass Eltern wegen Christian Berger massiv protestierten. „Sie gingen auf die Barrikaden“, sagt die Geschäftsführerin der Kita in Reinickendorf. Sie protestierten gegen Bergers Anstellung, sie drohten mit einer Unterschriftenaktion, sie fürchteten um ihre Kinder. Es waren muslimische Eltern. „Die kommen aus einer anderen Welt“, sagt die Geschäftsführerin. In dieser Gedankenwelt ist jemand wie Christian Berger eine latente Gefahr.
[….]  „Wir sind doch in Berlin, wir sind doch im 21. Jahrhundert, da geht doch so etwas nicht“, sagt die Geschäftsführerin, die nicht genannt werden möchte, und die vier Kitas leitet. Die Kita, in der Berger nun arbeitet, hat mit einer Ausnahme nur Kinder von muslimischen Eltern. Die Eltern kommen aus dem arabischen Bereich, aus Russland, der Türkei, aus Rumänien. „Für einige von ihnen ist ein Homosexueller automatisch ein Kinderschänder“, sagt Berger.
[….]  Kurz darauf trennte sich die Geschäftsführerin von den aufgebrachten Eltern. Deren Kinder besuchen nun eine andere Kita. [….]