Dienstag, 28. Juli 2015

Unwertegemeinschaft

Das Heucheln nervt immer so sehr.
Die Double Standards.
Wie Schäuble und Merkel mit ihrer „Gürtel-enger-schnallen“-Rhetorik in Brüssel auftreten, das Hohelied vom Sparen singen und dabei natürlich nicht erwähnen, daß Deutschland in der problematischen Finanzkrisensituation von 2008 genau das Gegenteil tat:
Massiv Schulden machen und mit zig Milliarden schweren Investitionsprogrammen (zB Abwrackprämie) die staatliche Nachfrage ankurbeln.

Griechenland wird nun aufoktroyiert den gesamten staatlichen Besitz zu verscherbeln – Energieunternehmen, Müllabfuhr, Piräus – alles soll privatisiert werden.
Zu Hause in Deutschland hat man erkannt, daß das genau falsch ist und überall nehmen Kommunen große Anstrengungen auf sich, um einst verstaatlichte Kraftwerke, Netzbetreiber oder Krankenhäuser zurück zu kaufen.

Genauso sieht es mit der Russlandpolitik aus.
Heucheln und Double Standards.
Penibel wird von Russland die Einhaltung aller Menschenrechte eingefordert, während Gauck und Merkel fröhlich mit den China und Saudi Arabien kuscheln, die beide sehr viel extremere Menschenrechtsverstöße als Russland auf dem Kerbholz haben.
Sogar Amerika ist in vieler Hinsicht schlimmer als Russland: Die USA spionieren Regierung und Wirtschaft aus. Führen illegale Folterlager in aller Welt, töten tausende Menschen durch völkerrechtswidrige Drohnenattacken, bestehen als einziges westliches Land auf der bestialischen Todesstrafe.

Wenn Willy Brandt, Egon Bahr, Walter Scheel und Helmut Schmidt solche Maßstäbe an Russland angesetzt hätten, wäre es vielleicht nie zu einer Aussöhnung und zum Mauerfall gekommen.
Mit Sicherheit hätte man dann aber keine Gesandten mit dieser DDR ausgetauscht, in der eine gewisse Angela M. wohnte.

Wie den Streit mit Russland schlichten? Michail Gorbatschow und SPD-Legende Egon Bahr verlangen: Berlin muss auf Moskau zugehen - und nicht ständig die mangelnde Demokratie geißeln. Das mache man bei China ja auch nicht.
Das Bündnis für versöhnliche Töne gegenüber Russland ist breit an diesem Dienstagabend, Parteigrenzen zählen nicht. Das zeigt schon die Sitzordnung im Atrium des Moskauer Hotels Kempinski: Da sitzt etwa CSU-Mann Peter Gauweiler neben Antje Vollmer von den Grünen. Sie sind zu einer Buchvorstellung nach Moskau gereist. Wilfried Scharnagl, lange Chefredakteur der CSU-Parteizeitung "Bayernkurier" und Vertrauter von Franz Josef Strauß, hat es geschrieben.
"Am Abgrund" wirbt für mehr Verständnis für die Politik des Kreml in der Ukrainekrise. Im Mittelpunkt aber steht an diesem Tag in Wahrheit ein anderer: SPD-Legende Egon Bahr, 93 Jahre alt, und vor mehr als vier Jahrzehnten mitverantwortlich für Kanzler Willy Brandts Entspannungskurs gegenüber der Sowjetunion.
Es habe damals "weder in Washington noch in Bonn Illusionen über die Sowjetunion gegeben, eine Demokratie war das nicht", sagt Bahr. So sollte man es wieder halten, soll das heißen: pragmatisch mit Moskau zusammenarbeiten, ohne dauernd Kritik an der Verletzung von Bürgerrechten in Russland zu üben. Das Vorbild sei China, gegen das der Westen ja auch keine Sanktionen verhängt habe.
Bahr sieht in der Krise heute Parallelen zum Kalten Krieg, er plädiert für eine Art deutscher Ostpolitik 2.0. Deutschland solle wie damals eine pragmatische Vermittlerrolle zwischen den Lagern einnehmen - und Berlin dabei den ersten Schritt auf Moskau zugehen. Bahr zitiert Brandt: "Manchmal muss man sein Herz am Anfang über die Hürde werfen".
Und weiter: "Russland muss seinen eigenen Weg finden. Es muss sich nach seinen Traditionen entwickeln. Demokratie gehört nicht dazu", befindet der SPD-Mann. […]

Pragmatismus ist aber nicht mehr gefragt, sondern Ideologie und Heuchelei.

So nimmt „der Westen“ Massenaufmärsche und Gefechte des faschistischen „Rechten Sektors“ in Kiew und der Westukraine schulterzuckend hin, während Separatisten in der Ostukraine energisch verurteilt werden.

Ja, man fordert immer nur dann Konsequenzen, wenn es gerade zu den eigenen Interessen passt:
Irak und Libyen und Serbien und Mali wurden bombardiert. Syrien und Ägypten und Saudi Arabien und Nordkorea aber nicht.

Aktuelles Beispiel der Superheuchelei ist die Türkei.
Erst fand man es im NATO-Hauptquartier noch ganz nett, daß Erdogan de facto dem IS half – denn dadurch wurde der verhasste Assad geschwächt.
Die Türkei gestattete es dem IS Gebiete entlang der Grenze zu Syrien als Operationsbasis zu nutzen, aber half auch durch die Behandlung verletzter IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern. Das NATO-Mitglied Türkei finanzierte den IS maßgeblich, indem es Erdöllieferungen aus den besetzten Gebieten Syriens und des Iraks aufkaufte. Auch der Waffennachschub kam direkt aus der Türkei.
Inzwischen findet man aber den IS noch doofer als Assad, hat vergessen, daß dieser schon Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzte und entscheid sich deswegen dafür Assad zu helfen, indem man den IS bombardiert.

Mit Billigung des Westens
Tatsächlich förderte Ankara die Jihadisten in Syrien bis 2014 nicht im Alleingang, sondern in Kenntnis und mit Billigung des Westens - auch Deutschlands. In jüngster Zeit ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass "die Rekrutierungsorte des IS in der Türkei der lokalen Bevölkerung bekannt" gewesen seien: "Wenn die Menschen wissen, wie diese Organisationen arbeiten, wie sie sich treffen und wie sie rekrutieren, weiß der Staat das nicht auch?", wird zum Beispiel der Menschenrechtler Osman Süzen zitiert.[2] Dieselbe rhetorische Frage könnte der Bundesregierung gestellt werden, nicht nur, weil der Bundesnachrichtendienst (BND), wie seit letztem Jahr bekannt ist, die Türkei offiziell als "Aufklärungsziel" führt.[3] Seit die Bundeswehr in Kahramanmaraş in der Südost-Türkei stationiert ist, muss davon ausgegangen werden, dass sie in ihrem Operationsgebiet die allgemein üblichen Aufklärungstätigkeiten durchführt. Zudem sind Polizei und Geheimdienste seit Jahren intensiv mit der Ausreise deutscher Jihadisten nach Syrien befasst, die gewöhnlich über Netzwerke in der Türkei bewerkstelligt wird. Trotz seiner mutmaßlich detaillierten Kenntnis über die Aktivitäten der Jihadisten in der Türkei schritt Berlin bis zum Beginn des Krieges gegen den IS nicht gegen dessen Förderung durch Ankara ein. Das Motiv, das diverse westliche Staaten zur wohlwollenden Billigung der türkisch-saudischen Unterstützung für den IS trieb, benannte der US-Militärgeheimdienst DIA im August 2012 ganz offen: Ein "salafistisches Fürstentum" in Ostsyrien könne helfen, so hieß es, die Regierung in Damaskus zu isolieren.

Nun ist auch die Bundesregierung umgeschwenkt. Um 180°.
Die Verteidigungsministerin bejubelt den türkischen Kriegseinsatz, der sich auch gegen die PKK richtet – jene Partei, die der einzige Stabilitätsfaktor im Irak ist, die den Jesiden das Leben rettete und die deswegen auch mit deutschen Waffenlieferungen ausgerüstet wurde.

[…]  Angesichts der dramatischen Zuspitzung an der Grenze der Türkei zu Syrien und zum Nordirak ist es also keine wirkliche Überraschung, dass Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Ersuchen aus Ankara für diesen Dienstag die Botschafter der 28 Nato-Staaten zusammengerufen hat.
[…] Derzeit wiederum ist es für die Amerikaner vorrangig, die Türkei bei Laune zu halten. […]
Wenn also weder die Türkei noch die USA daran interessiert sind, die Nato mit viel mehr als Worten gegen die islamistischen Terrorkämpfer in Stellung zu bringen, so sind es die anderen Verbündeten erst recht nicht. […]  Praktisch aber richtet die Allianz ihre neue Speerspitze, also die neue superschnelle Eingreiftruppe, hauptsächlich gegen eine mögliche Bedrohung aus Russland. […]

Wertegemeinschaft NATO - Welche Werte?
Und dann schweigen sie einfach. Die heutige Reaktion der NATO auf die türkischen Angriffe auf PKK-Stellungen kommt einem Offenbarungseid gleich. Die Verteidigungsgemeinschaft, die sich so gerne als Wertegemeinschaft bezeichnet, hat heute blank gezogen: Vor den Interessen der türkischen Regierung. Vor den bilateralen Absprachen zwischen Obama und Erdogan. Und vor ihrem eigenen Anspruch sowieso - wenn es den denn überhaupt noch gibt. Dass die Türkei sich zum Kampf gegen den "IS" hat hinreißen lassen, hat nur einen Grund: Sich die PKK im Grenzgebiet vom Hals zu schaffen. Die gleiche PKK, die mit den Truppen der Peschmerga im Nordirak gegen den "IS" kämpft und dafür von Deutschland bewaffnet wurde. So sieht's aus: Wo die Freiheit Deutschlands im Nahen Osten verteidigt werden sollte, opfert man diesen Kampf jetzt den durchsichtigen Interessen eines NATO-Mitglieds, das genau diesen Kampf nie führen wollte. Dass die Bundesregierung dazu genauso schweigt wie die NATO-Führung, zeigt: Die Gemeinschaft funktioniert - ganz wertefrei.
(Georg Restle, Monitor 28.07.2015)