Samstag, 22. Januar 2022

Und Merkel so?

Da die Deutschen keine Veränderungen mögen, entwickeln sie zu allem eine emotionale Anhänglichkeit, das einfach nur lange genug da war – auch wenn es noch nie gut war.

Raserei auf der Autobahn, Jogi Löw, Thomas Gottschalk, Ladenschlussgesetz, Roland Koch, Günther Jauch, Helmut Kohl, ZDF Traumschiff, Angela Merkel.

Die ehemalige Bundeskanzlerin war volle 31 Jahre ganz oben in der Politik: Bundesministerin, Generalsekretärin, Parteivorsitzende, Fraktionsvorsitzende, Kanzlerin. Mehr als drei Jahrzehnte und kein einziger Tag davon ohne ein prestigeträchtiges Amt.

Ihr erfolgreichster Wahlslogan war daher „Sie kennen mich!“, auch wenn es insofern etwas frech war, als man sie auch nach drei Dekaden eben nicht kannte.

Das war ihr zweites großes Erfolgsgeheimnis; sie hat sich niemals vehement für irgendein Anliegen eingesetzt und auch noch in den letzten beiden Monaten  ihrer Kanzlerschaft, die Corona-Politik desinteressiert gegen die Wand fahren lassen, obwohl sie intellektuell verstand, was zu tun wäre und nichts mehr zu verlieren hatte. Es geht offenbar gegen ihre Natur, sich wirklich einzusetzen.

(….) Warum versündigt sich Angela Merkel also so sehr an Deutschlands Zukunft, nachdem sie schon ihre Entlassungsurkunde erhalten hat?    Es ist nun einmal ihre Art. Die Frau ist viel leichter zu durchschauen, als es ihr Sphinx-artiges Image suggeriert. Sie mag einfach gern Kanzlerin sein und bombige Beliebtheitswerte genießen.

Daher läßt sie wie keine andere Politikerin manisch Umfragen erstellen, versucht nicht anzuecken und richtet sich letztlich nur danach, was ihr am meisten demoskopische Punkte bringt.

Merkel ist moralisch und charakterlich nicht zu einer Führungsrolle geeignet.  Sie ist zwar intelligent genug, um zu begreifen, welche Dinge anstehen, aber wenn das nicht ganz leicht funktioniert, verliert sie schnell das Interesse und verschwendet keine Energie mehr drauf.

Bildungsgipfel, Afghanistan, europäische Flüchtlingspolitik, Klimawandel, Beziehungen zu Russland, Dialog mit China, Steuerreform, Energiewende,  – alles tickte sie in den letzten 16 Jahren irgendwann mal an, gab aber gleich wieder auf, als sie auf Schwierigkeiten stieß. Dem Urnenpöbel spielte dieses Verhalten in die Hände, denn er mag keine Veränderungen. Das belegt die Unzufriedenheit all der Konservativen mit dem Flüchtlingsjahr 2015.

Wohlmeinende Merkelianer interpretieren die damals offen gehaltenen Grenzen als Merkels christlichen Moment, als den einen Beleg dafür, daß sie auch für ihre Überzeugungen eintrete, wenn es sein müsse.

Aber das ist natürlich kompletter Unsinn. Die Grenzen waren nie zu, also konnte Merkel sie nicht aufmachen. Sie konnte sie gar nicht schließen, wie Stefan Kornelius in wenigen klaren Sätzen darlegt. (….)

(Typisch Deutschland, 16.11.2021)

Also, nein, ich stimme nicht in die verklärenden Merkel-Lobpreisungen ein.

Ihre Kanzlerschaft hat dem Land sehr geschadet. In ihren 16 Jahren veraltete die Bundesrepublik in vieler Hinsicht nahezu hoffnungslos. Wir haben technologisch, sozial und politisch den Anschluss verloren, die EU ist destabilisiert, die internationalen Beziehungen liegen in Trümmern, es droht Krieg in Europa, die Klimakrise wird uns voll treffen, weil Merkel alle Fortschritte beim ökologischen Umbau blockierte, die Nazis marschieren auf den Straßen, es fehlen 500.000 Pflegekräfte und 200.000 Lehrer.  In all diese Probleme sind wir sehenden Auges marschiert. Schon vor zehn Jahren wurde lautstark die fehlende digitale Infrastruktur beklagt. Deutschland hat noch nicht mal mehr das KnowHow einen Laptop oder ein konkurrenzfähiges Smartphone herzustellen. Wenn China und Malaysia keine Chips oder Atemmasken schicken, wenn Indien seine Medikamentenproduktion runterfährt, sind wir erledigt. Weil Merkel achselzuckend zusah, wie Deutschland degeneriert und immer abhängiger wird.


Aber es gibt tatsächlich etwas, das ich an Merkel mag.
Im Gegensatz zu vielen anderen Langzeitpolitikern wie Berlusconi, Putin oder Kohl, hält sie sich nicht für unersetzlich.

Diese Erkenntnis reifte sehr langsam in ihr. Sie hätte dem Land und insbesondere ihrer Partei, einen großen Gefallen getan, wenn sie nach 12 Jahren als Kanzlerin zur Bundestagswahl 2017 nicht mehr angetreten wäre. Damals erlag sie aber noch der Selbsttäuschung, unverzichtbar für Deutschland und Europa zu sein. Das bescherte uns weitere vier quälend lange Jahre des Stillstands mit ihren bekannten Debakel-Ministern Karliczek, Spahn, Seehofer, Scheuer, Klöckner und Altmaier, die allesamt katastrophale Fehlbesetzungen waren und dafür sorgten, daß Deutschland weitere Jahre hinter die führenden Industrienationen zurückfällt.

Aber irgendwann reifte dann doch ihr Entschluss zur Bundestagswahl 2021 nicht mehr anzutreten. Ganz anders als ihr großer Förderer Helmut Kohl, ließ sie freiwillig von der Macht.

Chapeau dafür.

Die nach rechts gerutschte Merz-CDU, die sich an Maaßen, Ploß und Otte klammert, ist ihr herzlich egal.  Helmut Kohl verachtete ebenfalls seine Nachfolger Schäuble und Merkel, hielt sich weiterhin für den eigentlichen König der Partei.

Merkel äußert sich nicht so deutlich zu Laschet und Merz, aber es gibt Indizien, aus denen man schließen kann, was sie von der nächsten Unions-Generation hält, nämlich nichts.

Merz, der seinerseits Merkel verachtet, weil er nie darüber hinweg kam, daß eine Frau aus dem Osten, seinen Job als CDUCSU-Bundestagsfraktionsvorsitzender wegschnappte und sogar Kanzlerin wurde, obwohl er sich selbst für so viel besser geeignet hält, braucht nach seiner überraschend deutlichen Wahl zum neuen Parteivorsitzenden seine einstige Widersacherin, um den Schein zu wahren.

Der öffentliche Schulterschluss mit seiner Vorvorvorgängerin sollte Kontinuität ausstrahlen und betonen, wie auch Merz das gesamte CDU-Spektrum abbildet.

Allein, Merkel hat jetzt keinen Bock mehr.

[….] Treffen zum Abendessen abgesagt: Merkel gibt Merz einen Korb.

Der künftige CDU-Chef Friedrich Merz hat zum Dinner eingeladen. Darunter auch die ehemaligen CDU-Bundesparteivorsitzenden Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer. Zu Merkel hat er seit Jahren ein äußerst angespanntes Verhältnis, was er nun anscheinend kitten will. Beide Frauen sagten aber ab. [….]

(NTV, 21.01.22)

Als zweiten Versuch trug Merz der Frau, die fast zwei Jahrzehnte CDU-Bundesvorsitzende war, den Ehrenvorsitz an.

Ein Job ohne konkrete Macht, aber damit hätte sie Zugang zu allen Gremiensitzungen gehabt und könnte durch ihre Reputation Einfluss nehmen.
Man weiß vom CSU-Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber, wie sehr er diese Möglichkeit auskostet und allen auf die Nerven geht.

Aber auch dazu sagte Merkel: „Kein Bock!“

[….] Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel will nicht Ehrenvorsitzende der CDU werden. Sie habe dem scheidenden Parteichef Armin Laschet mitgeteilt, „dass sie die Verbundenheit mit der CDU in der Zukunft in anderer Form als als Ehrenvorsitzende zeigen möchte“, teilte ihr Büro am Freitag auf Anfrage mit. Auch Laschet selbst hatte dies bereits am Freitagmorgen angekündigt. Die Grundfrage sei, ob der Ehrenvorsitz überhaupt noch in die Zeit passe, hatte Laschet im RTL/ntv-„Frühstart“ gesagt. „Angela Merkel ist da auch zu der Entscheidung gekommen: Es passt nicht mehr in die Zeit. Wir haben keinen Ehrenvorsitzenden – das ist eine Tradition von früher, die es jetzt auf der Bundesebene nicht gibt.“ [….]

(Tagespiegel, 21.01.22)

Angela Merkel streckt also für jeden öffentlich sichtbar ihren Mittelfinger aus und ruft der neuen Parteiführung aus Merz, den fünf neuen Vizes Silvia Breher, Andreas Jung, Michael Kretschmer, Carsten Linnemann und Karin Prien, sowie Bundesschatzmeisterin Julia Klöckner und Parteigeneral Mario Czaja ein herzliches FUCK YOU entgegen.

Und endlich einmal bin ich völlig einig mit Merkel.

Freitag, 21. Januar 2022

Ampel-Zufriedenheit

Nachdem die Ampel-Regierung unter Olaf Scholz sechs Wochen im Amt ist, bröckeln die Zustimmungswerte der Regierungsparteien schon wieder.

Das war zu erwarten, denn gerade die SPD-Wähler zeichnen sich durch eine gewisse Realitätsblindheit aus. Sie denken, Olaf Scholz regiere mit absoluter Mehrheit, statt mit 25%.

Außerdem glauben sie, der Kanzler könne sich wie Putin oder Xi diktatorisch durchzusetzen, während wir in Wahrheit in einer Demokratie leben, welche die Exekutivbefugnisse des Regierungschefs massiv einschränkt.

Es scheint unerträglich quälend langsam zu gehen, bis in Deutschland wichtige Dinge geregelt werden, aber die Alternative einer Diktatur mit rechtlosen Bürgern ist noch schlechter.

Sofern man die CDU/CSU-Fraktion als eine Partei betrachtet, handelt es sich bei der Ampel um die erste echte Drei-Parteienkoalition seit über 70 Jahren. Noch nie war die Kanzlerpartei zahlenmäßig so klein. Zudem sitzen mit Grünen und Gelben zwei Parteien am Kabinettstisch, die sich spinnefeind sind.

Es ist schlau von Olaf Scholz, nicht wie frühere neue Kanzler, die mit einer 40+Prozentpartei im Rücken und einem winzigen Mehrheitsbeschaffer in der Koalition, einfach loszumarschieren. Er achtet penibel darauf, nicht nur seine eigene Partei glücklich zu machen, sondern auch den andersfarbigen Ministern Erfolge zu gönnen. Wenn eine Partei Gefahr liefe, das Gefühl zu etablieren, immer ausmanövriert zu werden, könnte es bei der nächsten Krise ganz schnell zu Ende sein mit der Regierung.

Wenn also die FDP irgendeinen Mist durchsetzt, den ich als Sozialdemokrat vollkommen falsch finde (Impfpflicht-Blockade, Privatkrankenkassen, keine Vermögenssteuer), ist das schlecht für die Koalition, weil sie ein Stückchen in die falsche Richtung geht. Aber es ist auch gleichzeitig auch gut für die Koalition, weil die Erfolge der anderen das Gesamtprojekt stabilisieren. Wenn es drauf ankommt, könnten die FDP oder die Grünen leichter eine gigantische sozi-rote Kröte schlucken, wenn sie zuvor auch schon die SPD gelbe und grüne Kröten schlucken sahen. Es erfordert sehr viel kanzlerisches Fingerspitzengefühl, dieses Gleichgewicht auszutarieren.

In den erste Wochen wirkte die Ampel sehr Gelb-lastig; die Grünen mussten sich viel Wut von der eigenen Basis anhören, weil sie aus deren Sicht zu leicht eingeknickt waren. Umso wichtiger, daß sich in den letzten Tagen sowohl die grüne Außenministerin, als auch der grüne Superwirtschaftsminister etwas mehr in Szene setzen konnten.

Die SPD steht durch die Kanzlerschaft, die geplante einmütige Wiederwahl des SPD-Bundespräsidenten und den allgegenwärtigen SPD-Pandemie-Minister ohnehin immer im Rampenlicht. Sechs Wochen sind viel zu wenig Zeit, um seriös Urteile über die neue Regierung zu fällen.

Ich bin immer noch in dem Stadium, mich zu wundern, wenn ich Olaf Scholz im TV sehe und darunter „Bundeskanzler“ eingeblendet wird.

Natürlich bin ich kein Freund der FDP, aber immerhin sind wir auf einem qualitativ ganz neuen Niveau, wenn nun ein gelber Buschmann endlich diese albernen alten Zöpfe §219A, Cannabis-Kriminalisierung oder Schlechterstellung von Trans-Menschen, endgültig abschneidet.

Das sind nur ein paar der vielen Dinge, die mit den konservativen alten CDU/CSU-Säcken nicht möglich waren.

Mit großer Genugtuung und viel Wohlwollen blicke ich auch auf Innenministerin Nancy Faeser, die sich einem der, meiner Ansicht nach, größten Probleme überhaupt annimmt: Die rechtsradikale und verschwörungstheoretische Hetze, die aus dem Internet in die Realwelt schwappende Nemesis unserer Gesellschaft.  Lange Jahre war es mit den ultrakonservativen Unions-Innenministern, die solche Typen wie HG Maaßen als Verfassungsschützer einsetzten, schlicht und ergreifend gar nicht möglich, weil nicht gewollt, etwas gegen rechtsradikalen Terrorismus zu unternehmen. Faeser hingegen sprach das a priori offen an und orakelt davon als ultima ratio auch Telegram einfach abzuschalten.

Das wird politisch und technisch extrem schwer oder gar nicht möglich sein, wie wir schon anhand der Porno-Diskussion sahen, aber immerhin sieht Faeser das Problem und erkennt dringendsten Handlungsbedarf.

Vor ein paar Wochen war noch Horst Seehofer an ihrer Stelle, der zum Glück meistens ohnehin schwänzte; sein Amt vakant ließ, während er zu Hause in Ingolstadt mit seiner Eisenbahn spielte.  Wenn es um Themen wie AfD, Maaßen oder Rechtsradikalismus ging, kam er bedauerlicherweise doch gelegentlich nach Berlin. Und zwar, um zu Gunsten der Rechtsradikalen einzugreifen. So hatte der neue Verfassungsschutzpräsident am 19.01.2021 ein 800 Seiten starkes Papier vorgelegt, mit dem empfohlen werden sollte, die AfD als rechtsradikalen „Verdachtsfall“ einzustufen. Islamkritische und xenophobe Aussagen von AfD-Größen waren so vielfach dokumentiert, daß die Einstufung nur Formsache zu sein schien.

Aber dann bekam Seehofer Kenntnis von dem Vorgang und ihm fiel sofort auf ‚Herrgottsakra, dös is rechtsradikal? So rede ich doch auch immer!‘ und so ließ er die AfD-kritische Einschätzung deutlich zu Gunsten der Rechtsradikalen abschwächen.

  […] Seehofer ließ Verfassungsschutzkritik an AfD abschwächen  […] Der Verfassungsschutz versus die AfD: Horst Seehofer hatte stets betont, er, der Politiker, wolle die Hände davon lassen und diese Entscheidung allein seinen Fachleuten anvertrauen. Unabhängig sollten sie entscheiden, ohne jeden Druck. Wenn der Verfassungsschutz "zu dem Ergebnis kommt, dass die AfD die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, dann wird sie beobachtet", hatte er etwa der Welt am Sonntag gesagt. Das sei "keine politische Entscheidung, sondern eine der Sicherheitsbehörden".  Interne Dokumente, die die Süddeutsche Zeitung einsehen konnte, zeigen indessen, dass Seehofer sich spätestens an diesem Tag ganz persönlich einbrachte. Der Politiker, der bis 2019 Parteichef der CSU gewesen war und seinerseits manchmal harsche Töne gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin Angela Merkel angeschlagen hatte, nutzte das vertrauliche Treffen mit seinem Geheimdienstchef offenbar, um noch im letzten Moment auf dessen AfD-Bewertung einzuwirken.  Aus Sicht der Verfassungsschutz-Fachleute war eigentlich bereits alles klar, an diesem 19. Januar. Sie hatten gerade ein mehr als 800 Seiten starkes, vertrauliches Gutachten über den Radikalismus der AfD fertiggestellt, nach monatelanger Arbeit. Dieses Gutachten, mit dem sie sich für eine Beobachtung der Partei entschieden, und das die Unterschrift von Verfassungsschutzchef Haldenwang trug, war tags zuvor auch schon dem Ministerium zugegangen. Per Bote, im versiegelten Umschlag an den zuständigen Referatsleiter, mit der Bitte um Freigabe. Die Erwartung war, dass das nur eine Formalie sein würde.

Aber Seehofer, so zeigen interne Unterlagen, äußerte dann persönlich Zweifel. Mehr als einen Monat lang, bis zum 22. Februar, ließ er das AfD-Gutachten noch einmal überarbeiten. Erst jetzt wird klar, wieso. Die SZ konnte beide Versionen des AfD-Gutachtens des Verfassungsschutzes vergleichen: vor und nach Seehofers Intervention. Dabei sind auffällige Änderungen zutage getreten. Es geht um Slogans wie "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" - Sätze aus dem Repertoire der AfD, die aber auch Seehofer und seiner CSU nicht fremd waren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wollte etwa die Thüringer AfD, die von dem Parteirechten Björn Höcke angeführt wird, dafür kritisieren, dass sie den Islam pauschal verteufele. […] Doch die Passage wurde nach dem Treffen mit Seehofer gestrichen. […] "Nein. Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Diesen Satz hatte Horst Seehofer selbst am 16. März 2018 in der Bild-Zeitung gesagt und damit eine breite Diskussion befeuert. Ähnlich hatten sich damals auch andere CSU-Spitzenpolitiker geäußert, etwa Alexander Dobrindt, Landesgruppenchef im Bundestag.


Auch beim Thema Migration schwächte der Inlandsgeheimdienst sein Gutachten nach dem geheimen Treffen mit dem CSU-Minister ab. Ursprünglich wollte der Verfassungsschutz die ablehnende Haltung der AfD gegenüber Zuwanderern als "Belege" für Verfassungsfeindlichkeit anführen. Nach dem Termin mit Seehofer wurde diese Kritik etwas eingeschränkt. […] Als CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident hatte Seehofer 2015 und in den Jahren danach starke Kritik an der Zuwanderungspolitik der Bundesregierung geübt. Mit dem Satz, die Migration sei die "Mutter aller Probleme", geäußert auf einer Klausurtagung der CSU 2018, hatte Seehofer vor Parteikollegen auch das Erstarken der AfD als Konkurrenz zur Union erklärt. Andere CSU-Spitzenleute provozierten ebenfalls mit migrationskritischen Aussagen. "Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist", sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer 2016. "Weil den wirst du nie wieder abschieben." […]  

(SZ, 21.01.2022)

Diese Episode ist nur eins der viele Mosaiksteinchen, die uns zeigen, wie überfällig es war, die CDU/CSU-Minister aus der Bundesregierung zu schmeißen.

Schlechter kann die Ampel gar nicht sein und dazu muss ich noch nicht mal extra auf Spahn und Scheuer verweisen.

Donnerstag, 20. Januar 2022

What else is new? –Teil II

Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich kopfschüttelnd vor den Schlagzeilen sitze.

Ratzinger wird durch das neueste 1.900 Seiten starke Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zur Aufklärung des sexuellen Missbrauchs an Kindern im Erzbistum München und Freising, schwer belastet. Nun sind alle wie vom Donner gerührt. Es bleibt ein ewiges Rätsel, wie irgendein Kirchist oder Gläubiger noch überrascht sein kann.

 [….]  »Wir erleben hier den Zusammenbruch eines Denkmals« [….]  Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht durch das Gutachten den Ruf des emeritierten Papstes Benedikt XVI. dauerhaft beschädigt. »Das ist sein persönliches Waterloo«, sagte Schüller. »Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu.« [….] Die Reformbewegung »Wir sind Kirche« [….]  forderte, »dass alle deutschen Bistümer unverzüglich und möglichst nach gleichem Standard Missbrauchsgutachten vorlegen, die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen«, heißt es in einer Mitteilung.  Es gebe ein »toxisches Muster« aus Vertuschung durch Leugnen, Versetzen und Wegschauen. Die Reformer beklagen eine »immer zwielichtiger werdende Rolle des damaligen Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger«. Der 94-jährige frühere Pontifex müsse sich seiner Verantwortung stellen. [….]

(SPON, 20.01.2022)

Heute schwappt also wieder so eine Meldung durch den Blätterwald, die ich schon auswendig und rückwärts runterbeten kann: Papst Ratzinger machte sich auch persönlich die Hände schmutzig beim Beschützen von Kinderfic**rn in Soutane.  What else is new?

Das kann man seit 2007 immer wieder auf diesem Blog lesen.

Ratzinger ist nicht nur als ewiger Inquisitionschef und Papst generell der oberste Verantwortliche dafür, daß Myriaden Kinder unter seiner Aufsicht vergewaltigt worden sind, sondern er gab auch ganz konkret Anweisungen, weltweit die Täter zu schützen. Wir wissen schon seit Jahrzehnten von Ratzingers schweren Verbrechen.

Er verbot den Bischöfen bei schwerster Kirchenstrafe (also Androhung der Exkommunikation) kinderfic**nde Priester den Behörden zu melden. Und natürlich war er als Ortsbischof auch persönlich daran beteiligt mehrfach verurteilten Kindersextätern neue Kinder als Opfer zuzuführen und sie unbehelligt weiter machen zu lassen.

 Ratzinger war es auch, der kaum, daß er Papst wurde, den Seligsprechungsprozess für den noch größeren Kindersex-Fan Woytila anschob und schließlich auch durchführte. Ein für jedermann sichtbares klares Signal, daß sexuell übergriffige Kinderquäler in Soutane während des Ratzinger-Pontifikats vom Vizegott persönlich geschützt werden, während die Opfer nur Häme und Verachtung aus der römisch-katholischen Kirche zu erwarten hatten.

Natürlich ist die RKK eine weltumspannende Kindersex-Organisation.

Das nun öffentlich vorliegende Gutachten, zeigt nichts anderes, als das was man ohnehin erwarten konnte unter der Führung der sadistischen Brüder Ratzinger.

Selbst für die korrupten Kurienverhältnisse ist Joseph Ratzinger ein besonders abscheulicher und destruktiver Charakter.

(…..) Als Papst Benedikt gefragt wurde, wie er sich das Paradies vorstelle, antwortete er ‚wie zu seiner Kindheit in Bayern‘.  Ein wahrer Diplomat; das göttliche Jenseits stellt er sich also so vor wie die Nazi-Zeit nahe der „Hauptstadt der Bewegung“, als jeder, der aufmuckte, jüdisch oder sozialdemokratisch, oder Sinti oder Roma, schwul oder gar dunkelhäutig war ins KZ kam und vergast wurde.

 „Um ehrlich zu sein: Wenn ich versuche, mir das Paradies vorzustellen, schwebt mir immer die Zeit meiner Kindheit und Jugend vor“

(Joseph Ratzinger 2012)

Wie wir wissen, versuchte Ratzinger sein Leben lang diese „paradiesischen Verhältnisse wiederherzustellen. Er unterdrückte mit brutaler Gewalt die Befreiungstheologen, die in Südamerika gegen die faschistischen Diktaturen aufstanden, setzte Bischöfe ein, die den rechtsextremen Autokraten gewogen waren und kaum ins Papstamt gewählt, holte er die faschistoiden Piusbrüder um den Holocaust-Leugner Bischof Williams zurück in den Schoß seiner Kirche.  (….)

(Das Bayerische Idyll, 13.07.2020)

Man kann das unter anderem daran ablesen, wie vehement ihn der rechtsradikale, antisemitische Hetzer und Verschwörungstheoretiker David Berger verteidigt. Wer den hochgefährlichen Zündler und Lügner als letzten Unterstützer aufweist, hat ein echtes Problem.

[….] Dass Papst Benedikt XVI. die katholische Kirche im Sinne ihrer eigenen Tradition reformieren und als Pol der Freiheit gegen die Vereinnahmung durch säkulare Staatswesen restaurieren wollte, haben ihm die Feinde der Freiheit, die Vertreter der „neuen Normalität“ bis zum heutigen Tag nicht verziehen: Jetzt versuchen sie sein Andenken mit einem angeblichem Missbrauchsskandal zu beschädigen.  […..]

(David Berger-Hetzblog PP, 20.01.2022)

Heute hören wir natürlich wieder kein Wort von den prominenten katholischen Politikern dieses Landes. AKK, Laschet, Thierse, Merz, Kretschmann, Nahles, Brinkhaus, Schavan – sie alle schweigen. Sie rammen den Myriaden Opfern erneut Messer in die Rücken, indem sie sich demonstrativ weigern die RKK zur Rechenschaft zu ziehen.

Noch nicht mal von den Grünen, die 2010 mit Volker Beck an der Spitze jubelnd zu standing ovations aufsprangen, um dem Pädo-Protektor Ratzinger im Bundestag zu feiern, ist ein Ton zu hören.

Es bleibt den immer gleichen wenigen Vertretern der seriösen Presse vorbehalten, das 1.900-Seiten-Konvolut zu analysieren.

 [….]  Das im Auftrag der Erzdiözese von der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) erstellte Gutachten sieht ein Fehlverhalten auf Seiten Benedikts in vier Missbrauchsfällen. Dem Gutachten zufolge hat der emeritierte Papst in seiner Zeit als Erzbischof in München Fälle von Missbrauch verharmlost oder abgestritten. Zugleich kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass Ratzinger zur Frage seiner Verantwortung in einem besonders gravierenden Fall falsche Angaben gemacht haben dürfte. "Wir halten die Angaben des Papstes Benedikt für wenig glaubwürdig", sagte der Gutachter Ulrich Wastl bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens. [….] Die fünf Gutachter haben seit Anfang 2020 Fälle sexuellem Missbrauchs durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Zeitraum 1945 bis 2019 und den Umgang damit im Erzbistum untersucht. Sie gehen von mindestens 497 Geschädigten im untersuchten Zeitraum aus. Zudem müsse eine hohe Dunkelziffer vermutet werden. Sie sprechen von 67 tatsächlichen oder mutmaßlichen Missbrauchstätern. Die Opfer seien überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen. [….] Die Gutachter sprechen von einer "vollständigen Nichtwahrnehmung der Opfer" angesichts von massiven Vorwürfen. Von einem "Bild des Schreckens" sprach der Gutachter Ulrich Wastl.  "Zu beleuchten ist das erschreckende Phänomen der Vertuschung", sagte die Gutachterin Marion Westpfahl zu Beginn der Vorstellung des Gutachtens. Es gehe heute angesichts der Fakten nicht mehr darum, Grunderkenntnisse zu gewinnen, sondern um unerlässliche Konsequenzen. "Es geht auch und insbesondere um individuelle Schuld", sagte Westpfahl.  Das Gutachten betrifft dabei auch die Amtsführung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. als Erzbischof: Kardinal Joseph Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. In dieser Zeit kam es zu einem der gravierendsten Missbrauchsfälle im Bereich des Erzbistums. Ratzinger hat sich selbst umfangreich in einer 82 Seiten langen Stellungnahme geäußert, die im Rahmen des Gutachtens veröffentlicht wird, und nach Einschätzung der Gutachter damit einen authentischen Einblick gegeben. [….] Der emeritierte Papst Benedikt erklärt in einer Stellungnahme, dass er bei der Sitzung am 15. Januar 1980 nicht dabei gewesen sei, als über den Einsatz des einschlägig vorbelasteten Priesters beraten wurde. Diese Aussage ist nach Einschätzung der Gutachter "wenig glaubwürdig". Der Gutachter Wastl zitierte während der Pressekonferenz aus dem Protokoll der damaligen Ordinariatssitzung. Demzufolge hatte Kardinal Ratzinger in eben dieser Sitzung von einer Trauerfeier und einem Gespräch des damaligen Papstes Johannes Paul II. mit deutschen Bischöfen berichtet - was nicht mit seiner Darstellung übereinstimmen würde, dass er nicht dabei gewesen sei. [….]

(Jens Schneider, SZ, 20.01.2022)

Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, daß die RKK viele Jahre Zeit hatte, ihre Akten gründlich zu säubern, bevor WSW auf sie zugriff. Wir erfahren also höchstens von der Spitze des Eisbergs. Aus Trier wissen wir zudem, wie solche Akten angelegt werden. Die dramatischsten Missbrauchsfälle kommen gar nicht erst hinein.

(….)  Und selbst, wenn eine künftige Bundesregierung endlich auf die Abertausenden gequälten, verprügelten und sexuell missbrauchten Kinder hören würde, kämen die allermeisten Verbrecher straflos davon. Da man der Kirche stets ihre Paralleljustiz zugestand, in der Opfer keine Rechte haben, sind auch die Täter-Akten im Kirchenbesitz. Akten, die längst manipuliert wurden. Es ist, als würde man der Mafia ihre eigenen Strafakten zur Verwahrung überlassen.

[….] Die Person war jahrelang ein ranghohes Mitglied des Bistums, auch unter Marx und unter Ackermann. Wenn man der Person vorhält, dass sich das Bistum Trier mit der Aufklärung von Missbrauchsfällen auffällig lange Zeit gelassen habe, lacht die Person und sagt: »Vertuscht haben wir.« Vertuschen sei nichts Schlechtes, sagt die Person, vertuschen sei auch gesund, es müsse nicht immer alles rauskommen. Wie man das Vertuschen nachweisen könne?  Die Person sagt, man sei sehr gründlich vorgegangen. Wenn ein Priester gestorben sei, habe man sich die Akte angesehen und das Schlimmste rausgenommen – bevor sie ins Archiv gewandert sei.  Die Person im Wohnzimmer lacht ein bisschen über die eigene Teufelskerlhaftigkeit. [….]

(SPIEGEL, Nr. 50/2021 s.12f)

Man kann nur zukünftige Generationen vor den geistlichen Verbrechern schützen, indem man jetzt aus der Kirche austritt. (….)

(Der kriminelle Sumpf von Trier, 12.12.21)

Es wird sich nichts ändern, so lange die RKK Deutschland von 25 Millionen zahlenden Mittätern geschützt wird.

[….] Die Leitung der Diözese München und Freising hat den Missbrauch von Kindern systematisch geduldet und vertuscht. Nicht zuletzt unter Kardinal Joseph Ratzinger. Sie zeigte über Jahrzehnte viel Verständnis für die Täter - aber leider nicht für die Opfer.  Päpste und ehemalige Päpste müssen damit leben, dass sie an strengsten moralischen Maßstäben gemessen werden, immerhin sehen sie sich als Vertreter Jesu Christi auf Erden. Das gilt auch für den Umgang mit eigenen Fehlern. Gerade Benedikt XVI. könnte sich dabei Größe leisten, er hat das Amt längst hinter sich. Doch die Gelegenheit, Demut zu zeigen, hat der frühere Papst versäumt: In seiner Stellungnahme zum neuen Gutachten über sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising, für die er einst verantwortlich war, klingt Benedikt wie der Chef eines Autokonzerns, der von der jüngsten Abgasaffäre nichts gewusst haben will.  Das neue Gutachten überführt den früheren Papst nun sogar offenbar falscher Angaben. Mit der Übernahme eines pädophilen Priesters in der Seelsorge hatte er als Erzbischof 1980 nach eigenen Worten nichts zu tun, er habe auch an der maßgeblichen Sitzung nicht teilgenommen. Nun beweist das Sitzungsprotokoll wohl das Gegenteil. Ein früherer Pontifex, der sich mutmaßlich mit einer Unwahrheit seiner Verantwortung entziehen will? Es ist für die seit Jahren von Skandalen gebeutelte Kirche ein neuer Tiefpunkt. [….]  Die Leitung der Diözese München hat den Missbrauch von Kindern systematisch geduldet. Sie war oft informiert, stemmte sich aber nicht dagegen. [….] Die Kirche versuchte sogar, die staatliche Justiz zur Milde zu bewegen mit der Andeutung, Katholiken müssten doch zusammenhalten. Nächstenliebe also ließ die Kirche nicht den Missbrauchten zukommen, sondern den Tätern und der eigenen Organisation. [….]

(Nicolas Richter, SZ, 20.01.2022)

Mittwoch, 19. Januar 2022

Booster-Psychos

Meine Oma erkrankte in den 1950er Jahren an einer sehr seltenen Form der Sklerodermie (M34 Systemische Sklerose). Das ist eine wirklich miese Sache, bei der sich Haut und Bindegewebe verhärten und zusammenziehen. Der Mund wird ganz klein, Finger und Zehen werden krumm streif und unbeweglich.   Die Krankheit ist immer noch unheilbar. Irgendwann beginnen auch innere Organe (Verdauungstrakt, Lungen, Herz und Nieren) zusammengequetscht zu werden und dann ist die Prognose sehr schlecht. Ich bin nicht mit den heutigen Behandlungsmethoden vertraut, aber meine Oma wurde mit unfassbaren Mengen von Kortison vollgepumpt, bis sie am ganzen Körper angeschwollen war.

Eine Tortur.  Entgegen aller Erwartung kam die Krankheit aber irgendwann zum Stehen und sie lebte weitere drei Jahrzehnte. Sie war geschickt darin, ihre entstellten Hände zu verbergen, litt aber keine Schmerzen mehr. Sie aß vorsichtig und wenig, weil sie Verengungen in der Speiseröhre und dem Magen hatte, aber das war alles mit normaler Kost möglich.

In den 1970ern erkrankte Jan, einer ihrer Großneffen im Teenageralter ebenfalls an genau dieser Sklerodermie. Der Vater, ein Cousin meiner Mutter, war verzweifelt, besuchte uns natürlich, um zu erfahren wie meine Oma 20 Jahre zuvor eigentlich genau die Krankheit besiegt hat.

Jan war wenige Jahre älter als ich, hatte noch einen kleinen Bruder, mit dem ich gern spielte.  Jans Krankheitsverlauf war allerdings dramatischer. Er wurde immer krummer, die Hände waren nur noch schmale Fäuste und die Organe schrumpften. Er starb nach einer grauenvollen Leidenszeit mit 16 Jahren.

Meine Oma wurde damals erneut zu einigen Tests in die Uniklinik gerufen. Zwei Fragen stellten sich; erstens konnten sich die Ärzte nicht erklären, wie es zu ihrer Dekaden andauernden Remission kam. Wie hatte sie das bloß geschafft? Zweitens dachte man nun an genetische Ursachen, nachdem in einer Familie zwei Mal eine so seltene Krankheit aufgetreten war. Wie gefährdet waren eigentlich die anderen Nachkommen meiner Oma?

Wir Kinder mussten alle in die Uniklinik, uns wurde jede Menge Blut abgepumpt und schließlich schnitt man uns ein zweimal zwei Zentimeter großes Stück Haut und Gewebe aus dem Oberarm. Das fand unter Lokalanästhesie statt und ich konnte nicht anders, als direkt drauf zu starren, während ich zerschnitten wurde.

Das Schlimmste widerfuhr aber meiner Mutter: Ihr wurde in einem dramatischen Gespräch  - „ihre Kinder könnten bald unter fürchterlichen Qualen sterben und wir müssten dann hilflos wie bei Jan zugucken“ – eine lange Liste mit frühen Anzeichen von Sklerodermie übergeben.  Ihr Auftrag lautete, uns mit Argusaugen zu beobachten und bei kleinsten möglichen Sklerodermie-Symptomen sofort ins Krankenhaus zu fahren.

Spoiler-Alert; es gibt bisher keine weiteren Fälle in der Familie. Aber in den folgenden Jahren konnten Eltern und Oma die Befürchtungen natürlich nie ablegen. Ständig löste irgendeine Hautstelle, eine minimale Appetitlosigkeit oder eine leicht steife Bewegung eine Panikreaktion aus: DAS KÖNNTE SKLERODERMIE SEIN! So ging es bei Jan damals auch los.

Heute bewundere ich meine Vorfahren dafür, diese Sorgen von mir fern gehalten zu haben. Ich habe als Kind nie befürchtet, bald sterben zu müssen. Nur die Narbe auf meinem linken Oberarm erinnert noch an das Drama.

Als Kind wußte ich noch nichts von Psychologie. Heute kenne ich die Begriffe „Phobie“ oder „Trigger“ und kann mir vorstellen, welche Streiche einem die eigene Phantasie spielen kann, wenn einem besorge Medizin-Professoren mitteilen ‚eins dieser 27 Symptome könnte bedeuten, daß ihr Kind bald stirbt‘.

Wir leben in Westeuropa nicht mehr in den Zeiten, in denen Frauen  üblicherweise sowieso zehn bis 20 Mal schwanger sind. Ein Teil geht schon vor der Geburt verloren, einige sterben währenddessen, noch ein paar an Infektionen als Kleinkinder und von den vier bis sechs erwachsenen Söhnen, verreckt noch einmal die Hälfte im Krieg.

In unseren Breitengraden zu dieser Zeit hat man eher nur ein oder zwei Kinder, von denen man nicht annimmt, daß sie vor einem selbst sterben. Wenn doch einmal die Eltern ihr Kind überleben, gilt das als größtmögliches Unglück.  Dementsprechend schlecht können wir mit Bedrohungen unseres physischen Wohls umgehen. Selbst, wenn es nur die theoretische Möglichkeit ist, daß etwas passieren könnte, obwohl alle kerngesund sind, genügt das schon, um einem halben Dutzend Familienmitgliedern Psychopharmaka gegen Angststörungen und Depressionen verschreiben zu müssen.

Das dürfte die längste Einleitung aller Zeiten gewesen sein.

Die Pandemie, das mutierende Sars-CoV-II, ist auch so eine Angelegenheit, bei der viele junge und gesunde Menschen mit der realen Möglichkeit schwer zu erkranken und zu sterben konfrontiert werden.

Plötzlich wird detailliert über Symptome und erste Anzeichen gesprochen, daß man „es“ auch haben könnte. Wer nicht gerade ein Aluhut auf Spaziergang ist, nimmt zur Kenntnis wie viele Millionen Menschen schon an Covid 19 gestorben sind, liest die Berichte von den hoffnungslos überlasteten Krankenpflegern, weiß welch monatelange Tortur das Corona-Virus selbst für diejenigen bedeuten kann, die anschließend wieder völlig gesund werden.  Oder auch nicht, wenn einen Long Covid erwischt.

Ich halte es für Zufall, daß ich gar nicht zur Hypochondrie neige, aber natürlich verfolge auch ich die Berichte über Long Covid mit etwas mehr emotionaler Beteiligung, seit ich selbst von Omikron erwischt wurde, frage mich vier Wochen nach der Infektion bei einem kleinen Niesen, ob das nun einfach nur mal ein Niesen war, weil man nun mal manchmal niest, oder ob es nicht langsam auf Long Covid hindeutet, wenn ich niese.

Nicht nur der Covid-Krankheitsverlauf selbst, sondern auch die Impfung ist nach dem gewaltigen politischen Bohei um das Thema psychologisch aufgeladen. Millionen Menschen sind so irregeleitet, daß sie aus Angst vor der Spritze lieber in Kauf nehmen, von dem Virus getötet zu werden.

Aber auch bei der Mehrheit, den Geimpften, fragt sich die meisten, wie gut oder wie schlecht sie die Impfung vertragen werden. Wird es mich komplett aus den Socken hauen? Schüttelfrost, Fieber? Muss ich mit Grippesymptomen tagelang darniederliegen? Wie viele Antihistamine und Aspirin sollte ich vor der Impfung, insbesondere vor dem legendären Booster einwerfen, um den Pieks zu überstehen?

[…..] Zum Smalltalk gehört in diesen Zeiten auch, sich nach dem Befinden nach der jüngsten Impfspritze zu erkundigen. Man kann dann erstaunliche Geschichten hören, von tagelanger Malaise, von Kribbeln an diversen Körperteilen, von Schmerzen in jenem Arm, in den gar keine Nadel drang. Wen ein leiser Zweifel an diesen Schilderungen beschleicht, der liegt womöglich nicht ganz falsch: Nicht alles, was Geimpfte als Nebenwirkungen wahrnehmen, muss vom Vakzin herrühren.  [….]

(SZ, 18.01.2022)

Wären wir Menschen nicht mit „der Psyche“ behaftet, sondern bloß biologische Maschinen, würden die meisten von uns die Corona-Impfung kaum bemerken. Aber wir sind glücklicherweise keine Roboter, sondern Psychos, die mit Placebo- und Nocebo-Effekten leben.

Eine große im Fachblatt Jama Network Open veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern rund um Winfried Rief, Psychologieprofessor der Universität Marburg, berichtete von einem Doppelblind-Impftest an über 23.000 Teilnehmern.   35% der Teilnehmer, die nur das Placebo, also eine Kochsalzlösung gespritzt bekamen, berichteten von den typischen Impf-Nebenwirkungen Kopfschmerzen und starke Müdigkeit, Gelenkschmerzen, Übelkeit, Schüttelfrost und weiteren Beschwerden. Bei denjenigen, die tatsächlich das BioNTech-Vakzin bekommen haben, waren es mit 46% nicht sehr viel mehr, die über diese Beschwerden klagten.

[….]  Ungefähr zwei Drittel der Beschwerden nach den Impfungen seien unabhängig vom Wirkstoff aufgetreten, berichten Fachleute um Julia W. Haas von der Harvard Medical School in Boston im Fachmagazin »Jama Network Open«. Das Team hatte Nebenwirkungen von knapp 45.400 Probandinnen und Probanden aus zwölf Studien analysiert. Ungefähr die Hälfte hatte einen Wirkstoff erhalten, die andere ein Placebo. Die Leute wussten nicht, wer in welcher Gruppe war. Einbezogen in die Analyse wurden Daten der Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca, die alle auch in Deutschland angewendet werden. Die Fachleute analysierten übliche, vorübergehende Impfreaktionen wie Abgeschlagenheit und Kopfschmerzen, die innerhalb von sieben Tagen nach der Impfung auftraten.  Unter den mit Wirkstoff Geimpften traten, wie zu erwarten war, demnach insgesamt häufiger Beschwerden auf als in den Placebogruppen, die Kochsalzlösung bekommen hatten. Allerdings war der Unterschied zwischen Wirkstoff- und Placebogruppen besonders nach der ersten Dosis gering. Die Inhaltsstoffe der Impfungen hatten die Reaktionen der mit Wirkstoff Geimpften demnach meist gar nicht hervorgerufen.  76 Prozent der sogenannten systemischen Nebenwirkungen, wie Kopfschmerzen oder Abgeschlagenheit, die bei den Impfungen mit Wirkstoff dokumentiert worden waren, traten ebenso in den Placebogruppen auf. Anders gesagt: Nur 24 Prozent der Beschwerden, die nach Erstimpfungen dokumentiert wurden, lassen sich ursächlich auf die Wirkstoffe zurückführen.   [….]

(SPON, 19.01.2022)

Dienstag, 18. Januar 2022

Wohin mit der Kohle?

Das Problem an der (bedauerlicherweise unverzichtbaren) FDP ist nicht nur, daß sie Tempolimit verweigert, eine gerechtere Gesundheitspolitik blockiert (Stichwort „Bürgerversicherung“) und eine stringente Pandemiebekämpfung unmöglich macht, sondern sie steht leider auch für ihre bekannte Voodoo-Ökonomie, die durch Steuersenkungen für die Superreichen drastisch von unten nach oben umverteilt. Gleichzeitig will sie durch „schwarze-Null“-Fetisch und Schuldenbremse die ohnehin angeschlagene Konjunktur abwürgen. Lindner und Co glauben hartnäckig an die Trickle-Down-Ideologie, die seit 50 Jahren widerlegt ist und noch nie irgendwo funktionierte.

Zunächst einmal traf Lindner gestern in Brüssel ein, um mit seinen 26 Amtskollegen die Zukunft des Stabilitätspaktes zu besprechen. Was der neue deutsche Finanzminister dazu denkt, ist und bleibt allerdings ein großes Rätsel.

Die finanzpolitischen Regeln aus der Merkel-Zeit haben bereits eine deutliche Lenkungsfunktion nach ganz ganz oben. Olaf Scholz hatte vor zwei Jahren seine Milliarden-Bazooka abgefeuert und nun kennen wir die Ergebnisse:

Immer mehr Menschen rutschen in Armut, während die Konsum-Fantastillionen in den Netzen der Deutschen Milliardäre hängenblieben.

[…..]  Die Hilfsorganisation Oxfam zieht eine erschütternde Bilanz: Die Corona-Pandemie hat aus Sicht von Oxfam soziale Ungleichheiten verschärft. Während sich das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre verdoppelt habe, lebten über 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut, heißt es in einem Bericht, den Oxfam kurz vor Beginn einer digitalen Konferenz des Weltwirtschaftsforums vorstellte. Auch in Deutschland habe die Konzentration der Vermögen weiter zugenommen. […..]  Manuel Schmitt, Referent für soziale Ungleichheit bei Oxfam Deutschland, kommentierte: „Für Milliardäre gleicht die Pandemie einem Goldrausch. Regierungen haben Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, doch ein Großteil ist bei Menschen hängengeblieben, die von steigenden Aktienkursen besonders profitieren. Während ihr Vermögen so schnell wächst wie nie zuvor und manche Ausflüge ins All unternehmen, hat die weltweite Armut drastisch zugenommen.“ […..] 

(dpa, 17.01.2022)

Dieses massive Umverteilen zu dem obersten 0,1 Prozent geschah und geschieht nach den Merkel-Regeln.

Daher wollten SPD und Grüne richtigerweise Vermögensabgaben und höhere Spitzensteuersätze für die Superreichen.

Die Wähler wollten das aber keinesfalls und erzwangen ein Wahlergebnis, mit dem Steuererhöhungen für Superreiche in keiner Konstellation möglich sind.  Im Gegenteil, der Urnenpöbel sorgte dafür, daß gegen die FDP, die diese drastische Ungerechtigkeit sogar noch mit Milliardengeschenken für die Multimilliardäre verschärfen will, nicht regiert werden kann.

Die Linke ist marginalisiert, vom Wähler auf unter 5% gedrückt. Die Grünen machen jetzt schon Politik für die Reichen (verlangen teurere Lebensmittel), weil ihre Wähler die Wohlhabendsten sind und die Grünen mittlerweile mit 3,5 Millionen Euro (2021) Groß-Parteispenden mehr Geld von den Superreichen zugeschanzt bekommen, als die CDU (3,4 Millionen). Weit abgeschlagen liegt die SPD mit 225.000 Euro. Die Merz-CDU, die Söder-CSU und die Lindner-FDP stehen ohnehin für Multimillionäre.

Ausgleichende soziale Gerechtigkeit geht nur mit der SPD und die bekam dafür gerade mal 25% und keine absolute Mehrheit.

Daher werden zukünftig die Familien Hertz, Kühne, Quandt, Klatten, Schwarz, Albrecht, Porsche, Otto und Co weiterhin ihre Geldspeicher mit Milliarden volllaufen lassen. Das war schon 2020/2021 so und der Trend verschärft sich.

Der olle Kühne hat mal eben 13,4 Milliarden Dollar in einem Jahr dazu "verdient".  Das sind 1,12 Milliarden pro Monat. Das sind 248 Millionen Dollar mehr pro Woche, oder 37 Millionen Dollar mehr PRO TAG.

Herr Schwarz nahm um 14,4 Milliarden Dollar zu.  Das sind 1,2 Milliarden pro Monat. Das sind 275 Millionen Dollar mehr pro Woche, oder 39 Millionen Dollar mehr PRO TAG.

Menschen mit lumpigen 20 oder 30 Milliarden Euro Privatvermögen darf man natürlich nicht mit ketzerischen Gedanken wie MINDESTSSTEUER oder VERMÖGENSSTEUER erschrecken.

Über Einkommenssteuer und Erbschaftssteuer lachen die Herrschaften dieser Größenordnung ohnehin sehr herzlich. Diese Steuern werden nur von der Mittelschicht bezahlt, die ein Haus oder drei vermietete Ferienwohnungen vererben. Wer aber Milliarden sein Eigen nennt, entzieht sich diesen Steuerpflichten durch Doppelstiftungsmodelle, Scheinfirmen in Steueroasen und findige Steuerberater.  Dennoch achten Katten und Co darauf, daß sie auch weiterhin genügend Millionen an die INSM spenden, um zu verhindern, daß der Urnenpöbel auf dumme Ideen am 26.09.2021 kommt. (….)

(Über das Wahlvolk kann ich mich nur wundern, 14.06.2021)

Wenn man jeden Tag (sic!) um 30 oder 40 Millionen Euro reicher wird, hat man ein echtes Problem. Ein Problem, die Phantasie dafür aufzubringen, was man mit den unfassbaren Geldbergen anfangen soll. Kein Wunder eigentlich, daß Leute wie Branson, Bezos (200 Milliarden Dollar) oder Musk (300 Milliarden Dollar) damit begannen ihr Geld buchstäblich in den Weltraum zu schießen - während immer mehr Menschen in Armut fallen, in den USA obdachlos in Zelten leben oder zu Hunderttausenden in Afrika verhungern.

[….] Oxfam: Deutsche Armutsquote mit Höchstwert [….]

Wie Oxfam weiter berichtete, vermehrten alle Milliardäre und Milliardärinnen weltweit zusammen ihr Vermögen stärker als in den 14 Jahren vor der Pandemie. [….] Während das weltweite Vermögen zwischen 2019 und 2021 um ein Prozent angewachsen sei, hätten die reichsten 0,001 Prozent - etwa 55.000 Menschen - ihr Vermögen um 14 Prozent gesteigert.  Die "Kluft zwischen den Reichsten und dem Rest der Menschheit" habe sich somit dramatisch vergrößert. In Deutschland nehme die "sehr starke Konzentration der Vermögen" ebenfalls weiter zu.  So hätten die zehn reichsten Personen Vermögen seit Beginn der Pandemie von umgerechnet rund 125 Milliarden Euro auf etwa 223 Milliarden Euro gesteigert und somit um rund 78 Prozent. Dieser Gewinn entspreche annähernd dem Gesamtvermögen der ärmsten 40 Prozent, also von 33 Millionen Deutschen. Die Armutsquote in Deutschland erreiche derweil mit etwa 16 Prozent und mehr als 13 Millionen Menschen einen Höchststand. [….]  

(ZDF, 17.01.2022)

Fast kann einem Klaus-Michael Kühne, der Hamburger, der sich in die Schweiz absetzte, weil ihm in Deutschland offenbar die Verarmung drohte, leidtun.

[….] Auch für den HSV-Mäzen Klaus-Michael-Kühne brachte die Pandemie Gewinne. Allein zwischen Oktober 2020 und Oktober 2021 vergrößerte sich der Besitz des Unternehmers (Logistik-Konzern Kühne & Nagel) um 20 Milliarden Euro! Das Magazin „Forbes“ schätzt das Vermögen des Wahl-Schweizers aktuell auf 32 Milliarden Euro.  [….]

(Mopo, 18.01.2022)

20 Milliarden in 12 Monaten und nun kommt auch noch Lindner, der noch mehr Kohle zu den Unternehmern schaufeln will.

[….] Die Ungleichheit sei auch eine Frage von Leben und Tod, heißt es in dem Bericht. Schätzungsweise 17 Millionen Menschen seien an Covid-19 gestorben. Von ihnen könnten Millionen noch am Leben sein, wenn sie eine Impfung bekommen hätten. Der Oxfam-Bericht gibt unter anderem der ungerechten weltweiten Impfstoff-Verteilung die Schuld dafür. Die Vakzine müssten als öffentliches Gut behandelt werden, auch weil Regierungen ihre Entwicklung mit viel Steuergeld gefördert hätten, erklärt die Organisation.  [….] Mehr als 100 Länder haben laut Studie in der Krise die Sozialausgaben gekürzt und in mindestens 73 Ländern drohen mit der Rückzahlung von Covid-19-Krediten des Internationalen Währungsfonds weitere Sparmaßnahmen. Das Nachsehen hätten besonders die Frauen, von denen 13 Millionen weniger erwerbstätig seien als vor zwei Jahren. Gleichzeitig habe die unbezahlte Arbeit von Frauen und Mädchen, die beispielsweise für die Familie sorgten, erheblich zugenommen. [….]

(Tagesschau, 17.01.2022)

Montag, 17. Januar 2022

Woke in Russland

Helen Mirren, 76,  gehört für mich in eine Kategorie mit Meryl Streep oder Glenn Close. Schauspielerische Klasse A+ und daher lohnt es sich auch für mich, als Nicht-Cineast, drauf zu achten, was für Filme sie macht.

In ihrem neuesten Projekt „Golda“ spielt sie die legendäre israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die eine faszinierende historische Figur ist. Hätte mich durchaus interessiert. Das Werk des israelisch-amerikanischen Regisseurs und Produzenten Guy Nattiv ist fertig und soll in die Kinos kommen.

Nur ist es leider 2022 und da sind wir ja woke.

Meir war Jüdin, Mirren nicht. Da kommen sofort Bedenkenträger, die so eine Besetzung glatt ablehnen. Man müsse auf „Authentische Besetzung“ achten.

[….] Die britische Schauspielerin Maureen Lipman ist der Ansicht, die Besetzung der Hauptrolle des Films Golda über das Leben der israelischen Außenministerin und späteren Ministerpräsidentin Golda Meir mit ihrer Schauspielerkollegin Helen Mirren sei falsch. Ihre Landsfrau zwar eine hervorragende Schauspielerin und habe die Aufgabe sicher mit Bravour gemeistert, sagte sie dem »Jewish Chronicle«. Als Nichtjüdin sei Mirren aber nicht die Richtige, um Meir zu verkörpern.  »Das Jüdische an der Figur ist so wesentlich«, meinte Lipman und fügte hinzu: »Ich bin sicher, dass sie großartig sein wird, aber es wäre Ben Kingsley niemals gestattet worden, Nelson Mandela zu spielen.« […]

(Jüdische Allgemeine, 06.01.2022)

Darren Criss, 34, kalifornischer Schauspieler ist ein sehr guter Tänzer und Sänger, wurde einige Niveau-Klassen niedriger als Mirren/Streep in der semi-queeren Teenagerserie „Glee“  bekannt. Er spielte 2009–2015 für das

Produktionsunternehmen 20th Century Fox Television den schwulen Musical-Sänger Blaine so gut, daß weltweit die Fans orakelten, Criss wäre vermutlich selbst schwul.  Jahrelang äußerte er sich nicht zu seiner eigenen sexuellen Identität. Zu Recht, denn das geht niemanden etwas an und bei diesen Serienhypes steht der fiktionale Charakter im Vordergrund. Ich hörte vor ein paar Jahren erstmals von der Angelegenheit, als im Feuilleton zu lesen war, Criss habe sich zur Überraschung seiner Fans als „hetero“ geoutet. Ich fand es sympathisch. Wir sind also gesellschaftlich so weit, daß sich niemand mehr für seine Sexualität schämen muss und ein Darsteller einer schwulen Figur nicht mehr hysterisch betonen muss, selbst aber auf gar keinen Fall schwul zu sein.

Nur ist es leider 2022 und da sind wir ja woke.

Die Glee-Figur „Blaine“ ist schwul, Criss nicht. Da kommen sofort Bedenkenträger, die so eine Besetzung glatt ablehnen. Man müsse auf „Authentische Besetzung“ achten.

Criss erkannte es schon vor drei Jahren, entschuldigte sich dafür, so gut schwule Rollen gespielt zu haben und gelobte, nun nur noch Heteros darzustellen.

[….] Darren Criss has played numerous characters on TV, film, and stage, but he is best known for his roles as Blaine in Glee and his recent turn as the real-life Andrew Cunanan in The Assassination Of Gianni Versace: American Crime Story for which he has won an Emmy and, most recently, a Golden Globe nomination. In addition, he played the titular character in Broadway’s Hedwig and the Angry Inch. The characters are members of the LGBTQ community and Criss, who identifies as heterosexual, said that those will be the last queer characters he will play.  During a recent event for Clorox’s What Comes Next in New York, Criss said that the gay roles that he has played are wonderful. He followed that up with saying, “But I want to make sure I won’t be another straight boy taking a gay man’s role.” Hollywood is currently in transition when it comes to authentic representation of LGBTQ characters, people of color and other members from marginalized communities — and Criss is very cognizant of that. He admits that he no longer feels comfortable playing these roles and that it is “unfortunate.” [….]

(Dino-Ray Ramos, 24.12.2018)

An dieser Stelle muss ich Bill Maher ins Spiel bringen, der seit Jahren vor dem Wahnsinn der WOKENESS warnt. Schon 2015 sagte er den „Social Justice Warriern“ den Kampf an.

Die Linken trieben es mit ihrem Betroffenheitskult und der „Cancel Culture“ viel zu weit, machten sich lächerlich und wären ein Grund für den Erfolg Donald Trumps. Die Wähler wären dermaßen von der political correctness genervt, daß sie Trump schon dafür liebten, daß er sich darum nicht schere.

Heute wären so viele Menschen in Angst vor dem „woke mob“, daß sie sich von liberalen Ideen abwendeten.

Eine fatale Entwicklung, denn, die „linken Anliegen“ Gleichberechtigung, Kampf gegen Rassismus und Sexismus und Homophobie sind absolut berechtigt. Aber wenn man es derartig übertreibt, daß sich Mirren und Criss grämend für ihre Rollen entschuldigen, spielt das nur den Rechten in die Hände, die lieber weiterhin Frauen, Schwule und Schwarze diskriminieren wollen.

In Deutschland brauen sowohl AfD, als auch der rechte CDU/CSU-Flügel (Merz, Ploß) ihr antiliberales Süppchen, indem sie gegen Gendersprache agitieren.

Es ist inzwischen leider so leicht, sich über die Linken, die Woken, die Gutmenschen lustig zu machen, daß sich sogar einst Linke wie Lafontaine, Wagenknecht, Schwan und Thierse so sehr über sie aufregen, daß sie viel Applaus bekommen, wenn sie 30 Jahre zurück gehen und gegen Schwule. Lesben und „noch so skurrile Minderheiten“ wettern.

Es ist etwas gewaltig schief gelaufen auf der Wokeness-Seite, wenn religiotische Geronten wie Thierse vom gesamten Feuilleton dafür gefeiert werden, sich gegen den angeblich schwulen Mainstream aufzulehnen.

(….) Auf dieser Welle surft nun leider auch Wolfgang Thierse, der seiner Methode treu bleibt, stets nun mit den ultrakonservativsten Organen der rechten Presse zu reden – gestern im Cicero – um dann pathetisch-unschuldig damit zu prahlen wie viel Zuspruch er bekomme. Seine erste Attacke gegen die Queer-Community, fand genau wie seine NS-Pöbelei wider das Bundesverfassungsgericht in der rechten FAZ statt. In der konservativen weißen männlichen Mehrheitsgesellschaft fühlt Thierse sich am wohlsten.

[….] Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) erlebt im Streit mit der Parteispitze um den richtigen Dialog mit sexuellen und anderen Minderheiten nach eigenen Worten „überwältigende Zustimmung“. In einem Interview des Magazins „Cicero“ bekräftigte er zugleich Kritik an der Gesprächs- und Debattenkultur einer sogenannten Identitätspolitik, weil diese nicht auf Versöhnung und konkrete Fortschritte ziele. […..]

(TS, 06.03.2021)

Nach dieser Logik darf man also Schwule und Lesben diskriminieren, weil sie so wenig sind?  Man darf andere mobben, wenn man in der Mehrheit ist?  Da hatte ich das Wort "Solidarität" wohl bisher völlig falsch verstanden.  Die quantitative Argumentation der Thierse-Fans ist abstoßend. Queere wären ja nur eine kleine Minderheit,  vielleicht 5% der Menschen in Deutschland; die Majorität sehe es wie Thierse. Nein, sozialdemokratische Solidarität gilt nicht nur den Starken und den Mehrheiten! Auch als weißer Cis-Hetero fühlt man sich absolut solidarisch mit LGBTIQs und stellt sich vor sie, wenn Thierse auf sie losgeht.

[…..] Falls die SPD-Legenden Gesine Schwan und Wolfgang Thierse wirklich vorhatten, mit ihren Thesen zu Identitäten und Minderheiten dem Auseinanderdriften der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, dann scheinen sie zumindest in einer Hinsicht einen Erfolg verbuchen zu können: Selten war sich – zumindest in der veröffentlichten Meinung – die Mehrheitsgesellschaft in der letzten Zeit so einig: In ihrer Empörung gegen Minderheiten. […..]

(Johannes Kram, 06.03.2021)

Die Mehrheit hat nicht automatisch auch Recht.  Große Mehrheiten wählten Hitler, Berlusconi, Orbán.   Wir wissen doch, wie noch vor ein paar Jahrzehnten große Mehrheiten über Schwulenrechte, Sinti und Roma, Feministinnen und Schwarze dachten. (….)

(Thierse, Social Media und Sprachpolizei, 07.03.2021)

Die woken Grünen finden ausgerechnet im antisemitischen, homophoben Nationalisten Alexander Nawalny einen geistigen Verbündeten.

[….] Nawalny [….] sind anti-liberale und fremdenfeindliche Positionen mindestens genauso wichtig. Mit seiner Agenda unterscheidet er sich nicht besonders von europäischen Rechtspopulisten: die Hetze gegen Moslems, Migranten oder kritische Medien. Menschenrechte oder Rechtstaatlichkeit kommen bei ihm überhaupt nicht vor. Er hat die Grenzen des Zulässigen und Tolerierbaren in liberalen Kreisen unglaublich erweitert und machte offene Fremdenfeindlichkeit hoffähig. Rechtlose Arbeitsmigranten aus Zentralasien, aber auch russische Bürger aus dem Nordkaukasus, die häufig Opfer von Polizeigewalt und Erpressung werden, stellt er als eine wichtige Quelle eben dieser Missstände dar. [….]

(Nikolai Klimeniouk, MDR, 05.03.2021)

Nicht auszudenken, wie sie über einen Deutschen urteilen würden, der so klar extremistische und antisemitische Positionen bezieht, wie Nawalny, herziehen würden.

[….] Freiheit für Nawalny! [….] Dass das Europäische Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit zuletzt an Alexej Nawalny verlieh, bleibt ein wichtiges Signal. Es zeigt, dass wir an der Seite der Menschen in Russland stehen, dass wir keine Gräben zur Gesellschaft ziehen lassen wollen und einen ehrlichen und zugewandten Austausch mit den Menschen wollen. Der Preis demonstriert, dass die offene und demokratische Zivilgesellschaft Russland gesehen und nie vergessen wird. Denn sie leben unsere Werte und tragen die europäische Idee. [….]

(Robin Wagener, AG EU, PM DIE GRÜNEN; 15.01.2022)

In Russland selbst gibt es natürlich auch eine liberale Opposition gegen Putin. Menschen, die unter Lebensgefahr für Pressefreiheit und Demokratie eintreten.  Von der aus den USA nach Europa geschwappten Wokeness sind aber viele von ihnen derart genervt, daß sie sich bei den Themen LGBTI-Rechte, Me Too und Sexismus auf die Seite Putins schlagen.

Es bahnt sich also der gleiche fatale querfrontische Zusammenschluss gegen die Liberalen an, der schon in den USA Trump an die Macht brachte.

[….] Regimekritiker diffamieren alles, was im Westen als "woke" gilt: Schwule, Queer-Aktivisten, Feministinnen. [….] Viktor Schenderowitsch gibt auf. Er, der Satiriker, verkündet seine Flucht aus Russland standesgemäß kühl-ironisch. Er habe sich entschlossen, "draußen zu warten", [….]  Für die russische Intelligenzia ist Schenderowitsch eine Legende. In den Neunzigern schrieb er das Drehbuch zu der Puppen-TV-Show "Kukly", die den damaligen Premier Wladimir Putin als Gnom mit winzigen Äuglein und Riesenhänden zeigte. Bei den Duma-Wahlen sprang Schenderowitsch als Kandidat für den gerade verurteilten Michail Chodorkowskij ein, er kritisierte sogar, was wenige wagten, die Annexion der Krim. [….] Insofern ist es also durchaus überraschend, dass es einen Punkt gibt, in dem Schenderowitsch und und Putin übereinstimmen. Von der "Neuen Ethik" halten beide gar nichts. "Nowaja Etika" ist ein Kampfbegriff, unter den Russlands Kulturschaffende, Intellektuelle, Wissenschaftler, aber eben auch Politiker nicht nur all das fassen, was im Westen als "woke" rubriziert gilt - Feminismus und LGBT-Aktivismus, Minderheitenrechte, Gender- und rassismussensible Sprache -, sondern vor allem Cancel Culture, westliches Denkdiktat, Dekadenzphänomen. [….] Spätestens seit der Regisseur Konstantin Bogomolow vor einem Jahr ein "Manifest" verfasst hatte, in dem er proklamierte, dass der Westen zwar den Nationalsozialismus hinter sich gelassen habe, aber dafür aufs Aggressivste einen neuen "ethischen Sozialismus" propagiere, dass "Queer-Aktivisten, Fem-Fanatiker und Ökopsychopathen" eine neue "totale Umformatierung der Welt" anstrebten, hatte das Thema ein Publikum gefunden. [….] Der Topos der drohenden "Revolution" durch den moralischen Terror des Westens aber ist inzwischen ein Standard der Putin-Rhetorik, den man bei seinem Auftritt im Waldai-Klub in Sotschi ebenso hören kann wie auf seiner jährlichen mehrstündigen Pressekonferenz. Dort verglich er die Gender- und Gleichstellungsdebatte mit dem Coronavirus. Beides komme von außen und sei bedauerlicherweise nicht aufzuhalten. [….]

(Sonjia Zekri, SZ, 13.01.2022)

Wenn sich die Kulturschaffenden, Intellektuellen und Aktivisten bei Kampf gegen die "Nowaja Etika", Neue Ethik aus dem woken Westen lieber auf die homophobe Seite Putins schlagen, haben wir wirklich versagt.