Donnerstag, 6. April 2023

Die Alten von heute

Da Markus Söder heute in unfassbar peinlicher Anbiederung, seine Lieblings-Hits in einer #Södersongs Playlist veröffentlichte  - Abhotten mit DJ Söder – dachte ich mit Wehmut an meine prä-digitale Jugend zurück, als glücklicherweise nichts durch playlists und streaming-Plattformen nur einen Klick entfernt war, sondern vergleichsweise großen logistischen Aufwand bedeutete. Um Musik mit einigermaßen gutem Klang zu hören, benötigte man die elterliche Stereoanlage und wurde daher zwangsläufig auch durch der Musikgeschmack der Erzeuger frühgeprägt. In meinem Fall war das viel Klassik, Jazz und vereinzelte aktuellere Popmusik-Schallplatten wie Joan Baez, Simon And Garfunkel, Elton John, Carol King, Cat Stevens, Joni Mitchell. Mit einem halben Jahrhundert Abstand, kann ich ihnen nur posthum gratulieren. Die Platten sind alle gut gealtert, erstaunlich wenig Schrott dabei.

Aber, die Pubertät will es so, natürlich emanzipierte ich mich davon und hörte auf meinem kleinen Ghettoblaster, der es möglich machte, aus dem analogen Radio mit Zimmerantenne selbst Musik auf Cassette aufzunehmen, die Songs nach meinem Geschmack. Die eigenen Lieblingslieder „zu erwischen“ war eine Kunst und ein Glückspiel. Ergiebig waren nur die „Norddeutschen Top Ten“ am Samstagvormittag.

Dadurch war man up to date, hatte allerdings oft das Pech, die Lieder nicht in Gänze aufzunehmen, weil der Moderator hereinsprach oder eine Verkehrsmeldung dazwischen kam.

Obwohl ich keineswegs in prekären Verhältnissen lebte, bekam ich meine erste eigene Stereoanlage zu meinem 16. Geburtstag geschenkt: Verstärker, Cassettendeck, Dual-Plattenspieler, zwei Miniboxen für die Höhen und einen Subwoofer.

Believe it or not, dasselbe Ding steht heute noch in meinem Wohnzimmer. Etwas eingestaubt. Das Cassettendeck wurde einmal ausgetauscht, ein CD-Deck kam hinzu.

Schon bevor ich 16 wurde, kaufte ich mit Schalplatten, beispielsweise genau vor 40 Jahren, zum Erscheinungsdatum im März 1983, „The Hurting“ (Tears for Fears), die ich aber meinem Alter entsprechend keinesfalls immer in Gegenwart meiner Mutter im Wohnzimmer hören wollte. Also fuhr ich mit meiner Schallplatte und Leercassetten zu meiner liebsten Schulfreundin, die bereits einen eigenen Plattenspieler besaß und ließ mir dort alles überspielen. So wie ich schon zuvor meine Lieblingsmusik in der Zeit; Helen Schneider, Kate Bush, David Bowie, Depeche Mode und The Cure; immer auf Cassette umformatieren musste, um sie in meinem Zimmer hören zu können.

Eine Single-Platte kostete sechs D-Mark, Langspielplatten an die 20 DM. Kein Pappenstiel für Taschengeld-abhängige Jung-Teenager. Man musste darauf sparen. Zudem war es nicht unbedingt leicht, die Objekte der Begierde überhaupt zu bekommen. Zunächst einmal musste man sich durch Zeitschriften informieren und dann mit Bus und Bahn durch die Stadt fahren, die wenigen guten Plattengeschäfte aufsuchen, in die Alben reinhören und hoffen, daß noch ein Exemplar da war. Das erforderte oft viele Anläufe, viele Stunden Bahnfahrt und viele vergebliche Stunden Stöberei.

Für die Generation Klugtelefon mag das extrem umständlich klingen, aber der Gedanke kam mir logischerweise nie, weil ich es nicht anders kannte. Auch a posteriori möchte ich die Erfahrung nicht missen, da wir unsere neuen Schätze eben auch wie einen echten Schatz schätzten. Ich erinnere mich an eine Verabredung mit einer Mitschülerin, die vorher noch nie bei mir war, so daß ich üblicherweise einigen Aufwand betrieben hätte, um es ihr angenehm zu machen. An dem Tag bekam ich aber die lang ersehnte „The Head in the Door“ (The Cure, 1985), so daß ausführliche Untersuchungen des Covers, Lesen der Texte und ununterbrochenes Hören notwendig wurde.

Ich weiß noch genau, wie ich mich entschuldigte, nicht fragen zu können, was meine Besucherin gerne hören würde, aber nun müsse ich nun einmal ununterbrochen „in between days“ und „close to me“ hören. Aber selbstverständlich akzeptierte sie das, da es ihr auch immer so mit einer neuen Platte ginge; damit beschäftige man sich über Tage intensiv.

Das Schlafzimmer meiner Mutter lag genau nebenan und die Bausubstanz des Hauses war übel. Alles nur dünne Trockenbauwände. Hohle Sperrholztüren. Sie verstand selbstverständlich meinen Wunsch, mit meinen Freunden meine eigene Musik zu hören, aber einerseits war die dafür angemessene Lautstärke umstritten und zum anderen, hielt sie das frühe 1980er Jahre Elektrozeug für eine schwere Geschmacksverirrung und wünschte sich, ihr Erstgeborener möge doch Kompositionen höherer Qualität konsumieren.

Das ärgerte mich, weil ich zwar leichten geschmacklichen Abwegen frönte, aber immerhin nie etwas wirklich Grauenhaftes wie Schlager, Modern Talking, CC Catch spielte. Außerdem hatte meine Mutter gar keine Ahnung von guter aktueller Musik. Insgeheim war ich aber auch verärgert, weil ich befürchtete, einiges könnte wirklich schlecht sein. Als Teenager war ich selbstverständlich schizophren, wollte mich vollständig von meiner Mutter und ihren Vorlieben abgrenzen, aber dennoch sollte sie auch meine Lieblingssongs mögen.

Vereinzelt kam das vor. Sie mochte ein paar Sting-Songs (Englishman in New York –History Will Teach Us Nothing – They Dance Alone – Fragile) und eigenartigerweise „Road to nowhere” (Talking Heads, 1985). Sie fand Terence Trent D'Arby sexy und akzeptierte, daß Mick Hucknall (Picture Book, 1985) eine tolle Stimme hatte.

Aber das führte zu nichts, denn der Wunsch, sie möge endlich akzeptieren, welch gutes Ohr ich für Musik hatte, würde unweigerlich dazu führen, zusammen Musik zu hören und genau das will man in dem Alter natürlich gar nicht.

Als emanzipiertes Kind wohnte ich nach meinem 18-Geburtstag natürlich allein, verfolgte weiter intensiv das Pop-Geschehen, trat ins CD-Zeitalter ein, hörte Chicago House und zweifelte bei Acid House erstmals an meiner eigenen Jugendlichkeit.

Als Techno und Loveparade kamen, war ich bereits auf die Seite der „älteren Generation“ gewechselt. Das war nichts für mich. Zumal es dann mit den deutschen Versionen (Blümchen, Marusha) noch viel unerträglicher wurde. Kaum zu glauben, aber die Geschmacksspirale bohrte sich immer tiefer hinab in akustischen Orkus. Es folgten noch Deutsch-Rap, der zweite Schlagerfrühling und dann die wirklich üblen Wohlfühlpop-Deutschsänger, die unablässig von „MENSCHEN! LEBEN! TANZEN! WELT!“ textliche Plattitüden trällerten. Sehr schlimm.

Heute gehöre ich zu den Alten, die sogar noch älter sind, als meine Eltern zu dem Zeitpunkt, als ich sie erstmals nicht mehr als totale Autorität akzeptierte.

Akustische Verbrechen wie Max Giesinger und Philipp Poisel können heute geschehen, weil die universelle, billige und superschnelle Verfügbarkeit jeder Musik das Urteilsvermögen der jungen Generation zerstört haben.

Daß ich vor 40 Jahren ein großen Aufwand für eine neue Schallplatte trieb und mich tagelang intensiv nach dem Kauf damit beschäftigte, korrespondierte mit den Ebenen der Plattenfirmen und der Künstler. Schallplatten waren ihre Haupteinnahmequelle und dementsprechend viel Mühe steckten auch die Musiker in ein neues Album. Sie wußten, es würde von jedem Käufer auf Herz und Nieren geprüft. Heute kommt das Geld durch Konzerte und Merchandising rein. Ein Popmusiker ist nicht mehr auf die Verkaufszahlen seiner CDs angewiesen. 12 ausgefeilte Songs aufwändig zu produzieren, ist pure Verschwendung. Ein radiotauglicher Track reicht. Der Rest wird lieblos zusammengesampelt, um das Album zu füllen. Die Konsumenten downloaden ohnehin nur das eine Lied. Da alle vernetzt sind, mögen ohnehin alle dasselbe. Social Media nivelliert die Jugend nicht nur optisch, sondern auch in jeder anderen geschmacklichen Hinsicht.

Wer, wie ich, in den 1980ern seinen Schulabschluss gemacht hat, möge die Website seiner alten Schule aufrufen und sich Schulabschlußbilder von heute ansehen. Während es damals eine auf den ersten Blick sichtbare große Heterogenität aus Punkern, Mods, Poppern, Grufties, Mods, Ökos etc gab, sehen die Abiturienten von heute völlig einheitlich aus. Alle Jungs tragen Bart, Tattoos und Uppercut. Alle Mädchen die gleiche Schminke und die gleiche Jennifer Anniston-Gedächtnis-Frisur.

Während in den 1980ern nur eine Handvoll echter Spacken auf solchen Bildern Anzüge trugen, stecken die durch amerikanische Social-Media-Plattformen gehirngewaschenen Schulabgänger heute zu 99% in den gleichen Anzügen.

Eine so angepasst denkende Jugend, die nicht mehr liest und lernt, sondern googelt und klickt, kann folgerichtig auch keine geschmacklichen Urteile fällen.

So kommt es dann zu Katastrophen wie „Intimate“, der Joyn/Pro7-Show zum professionellem Mitschämen.

Ich erfuhr davon, weil ich erstens jeden Artikel der großartigen Sprachkünstlerin Anja Rützel lese und zweitens die fünf Twen-Protagonisten alles Hamburger sind, die durch die hiesige Boulevardpresse in meine Wahrnehmungsperipherie eindrangen. Oskar und Emil Belton, 24, sind Zwillinge und Jungschauspieler aus gutem Hause, die einen gewissen Wiedererkennungswert haben, da sie echte Schönheiten sind. Weswegen sie berühmt, oder eher „bekannt“ wurden, kann ich nicht sagen, weil ich, siehe oben, ein der Jugendszene längst entwachsener Opa bin. Durch den SPIEGEL erfuhr ich also:

[….]  Peinlichkeiten für alle [….] Natürlich gleichen sich die blanken Hintern. Das verdruckste Strap-on-Shopping, die unsachgemäßen Fremdgehvertuschungen, Sätze wie »Arschficken reicht noch nicht, um ein wahrer Künstler zu sein« kommen einem natürlich bekannt vor – es scheint unmöglich, die neue Cringe-Exploitation-Serie »Intimate« zu schauen, ohne an die alte Cringe-Exploitation-Serie »Jerks« zu denken. Trotzdem wäre es grundfalsch, »Intimate« einfach als verdiggerte und zielgruppenmäßig auf die Generation Y schielende Version des bereits Bekannten zu sehen, erdacht und produziert nun eben von jungen Menschen: Den Brüdern Oskar und Emil Belton und Bruno Alexander  nämlich, die zuletzt schon das tragikomische Supermarktkammerspiel »Die Discounter« schufen, und die »Intimate« nun zusammen mit Max Mattis und Leo Fuchs als Produktionsfirma »Kleine Brüder« nicht nur hinter der Kamera verantworten, sondern die Hauptfiguren als verpeinlichte Versionen ihrer selbst auch selbst verkörpern. Das ist keine Nachmache, keine bloße Skalierung auf eine andere Lebenswelt, auch wenn sich die Geschichten freilich zumindest strukturell ähneln und als größter Unterschied vor allem die schnelleren Schnitte auffallen, sondern in erster Linie eine Erleichterung: Das Recht auf Peinlichkeit steht jedem und jeder zu, das ist die Kernbotschaft dieser acht knapp halbstündigen Folgen. [….] So spontan und frisch das weitgehend improvisierte Spiel der Hauptfiguren wirkt, so erprobt ist die Idee, mit »Intimate« in schnipseliger Erzählweise dahin zu stochern, wo es weh tut. [….] Wer immer noch zweifelt, ob »Intimate« beim Zuschauen auch funktioniert, wenn man eher im »Jerks«-Alter ist und, ein noch gewichtigeres Skepsisargument, sämtliche dramaturgischen Autsch-Manöver nach fünf Staffeln schon derart verinnerlicht zu haben glaubt, dass man sich unschockbar wähnt, für den oder die nur noch ein Tipp: Warten Sie auf die Urinierszene im Park. Danach sprechen wir weiter. [….]

(Anja Rützel, SPON, 24.03.2023)

Frau Rützel muss als ständige freie Autorin des SPIEGEL Trash-TV gucken. Das ist eine ihre Kernkompetenzen. Damit erfüllt sie zwei wichtige Aufgaben. Sie unterhält mich mit ihrer großartigen Formulierungskunst und informiert mich zuverlässig über die Abgründe, die ich mir nicht antun muss.

Die US-amerikanische Lust an „Farting-Jokes“, also dem Humor, bei dem Menschen in unerträglich peinliche Situationen gebracht werden, so daß man sich als Zuschauer mitschämt, erschließt sich mir nicht. Ich erfreue mich nicht daran, andere in äußerst beschämenden Umständen auszulachen und hatte „Intimate“ dementsprechend schnell wieder verdrängt. Aber dann tauchten durchaus wohlwollenden Berichte auf den Medienseiten der seriösesten Presse auf.

[….] Wir sind also wieder im aktuellen Lieblingsgenre anspruchsvollerer Filmemacher und -kritiker: Nennen wir es mal "Cameo-Mockumentary auf mittelstarkem Crack". Vulgo: Jerks oder in sonst mit mehr Humor gesegneten Ländern eben Klovn oder Curb Your Enthusiasm. Konzept: ein grobes Skript mit den Namen realer Personen, ein wenig soziale Raumverengung und ab da viel Improvisation. Mit Blick auf die Dialoge, die sonst oft in deutschen Drehbüchern stehen, ist es ja zunächst keine schlechte Idee, seinen Schauspielern, was das betrifft, zu vertrauen. Was den genannten Serien darüber hinaus gemein ist, ist der Anschein, echten Menschen dabei zuzusehen, wie sie angenehm ungehemmt und enorm tief in den Eingeweiden der Peinlichkeit herumwühlen. Sprich: viel Fäkal-Witz. Auch sonst spielt sich viel untenrum ab, aber, so es denn glückt, und bei den Genannten glückt es oft, landet man trotzdem selten bei Pipi-Kacka-Humor. Und da wird es jetzt, wie man neudeutsch sagen würde: tricky.  [….]

(Süddeutsche Zeitung, 01.04.2023)

Nun habe ich doch, wegen des Hamburg-Kolorits, die erste Folge „Intimate“ gesehen. Es war noch schlimmer, als nach dem Rützel-Text befürchtet.

Diese deutsche Freude am Mitschämen, wenn andere in unerträglich peinliche Konstellationen geraten, ist verstörend. Es ist nicht nur unlustig dabei zuzusehen, wie jemand anderes vor Peinlichkeit zergeht, sondern regelrecht abartig. Ich kann und will das auch nicht sehen.

Das ist der Humor der GenZ und Generation X? Damit bin ich offiziell ein alter Knacker, der die Jugend nicht versteht.

In der FAZ wurde „Intimate“ sogar als „zum Brüllen komisch“ bezeichnet. Explizit eine Szene, in der ein Pädophiler in der Kaifu-Lodge-Sauna sitzt und heimlich mit der GoPro Nackte filmt:

[…..] „Auch sonst geben sich Gaststars die Klinke in die Hand, Jonas Nay steht in seiner Rolle auf Drogen und Sex, Marc Hosemann spielt einen erpresserischen Vermieter, und zum Brüllen komisch ist Martin Brambach als Sauna-Spanner: „Jetzt kommen gleich die Pilatesmädels, zehn bis fuffzehn geile nackte Frauen.“ [….]

(FAZ, 24.03.2023)

Gerade die Szene fand ich so schlimm, daß ich sofort vorspulen musste.

Die von Rützel angeteaste Szene mit Strap-On und Analsex geht so, daß Freundin unbedingt ihren abgeneigten Freund mit einem umgeschnallten Dildo von hinten nehmen will. Der will aber nicht.  Sie hat aber einen reichen Vater und verspricht, Papa um Geld anzuhauen, wenn Freund das mit sich machen lässt. Also willigt er ein und findet es so schrecklich, daß er, mit dem ungewohnten Poppers vollgepumpt, mitten dabei in Ohnmacht fällt.

Ich bin der humorlose Opa, über den die heutige Jugend den Kopf schüttelt.

Daß Teens und Twens andere Sachen lustig finden, als ich, ist vollkommen normal, soll so sein, die Gesellschaft entwickelt sich. Aber wieso lobpreisen FAZ, Spiegel, ZEIT und Süddeutsche Zeitung sowas?

Mittwoch, 5. April 2023

Migrapositiv

Als Nordlicht muss man sich wohl nicht schämen, wenn man noch nie von der 2.500-Seelen Gemeinde Ostelsheim, tief in der südwestlichen Provinz Deutschlands, gehört hat.

Als Hamburger verstehe ich die dort gesprochene seltsame Sprache nicht; mir ist es dort zu christlich, zu warm, zu konservativ, ich trinke keinen Wein und kann noch nicht mal „Calw“ (zu dem Landkreis gehört Ostelsheim) aussprechen.

Und das ist auch gut so. Der gemeine Calwer kann vermutlich auch nichts mit „Lurup, Poppenbüttel, Curslack, Hammerbrook, Rothenburgsort, Entenwerder, Ochsenwerder oder Francop“ anfangen.

Ich bin ein Gegner der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland. Es lebe die Heterogenität, möge es eine Vielfalt geben.

[….]  Ich habe schon bei 1037 Gelegenheiten Lobhymnen auf die Heterogenität der deutschen Lebensverhältnisse angestimmt. Zum Glück, ist das Leben in der Hamburger Innenstadt nicht genau wie in einem oberpfälzischen katholischen Dorf. Eine wunderbare Sache ist es, daß die Menschen sich entscheiden können, ob sie lieber an einem dünn besiedelten Nordseeküstenort mit wortkargen Menschenschlag oder einem Kuddelmuddel aus rheinischen Frohnaturen wohnen möchten.

Auch zu dieser ziemlich debilen „Angleichung der Lebensverhältnisse“-Litanei gibt es, sich seit Jahren wiederholende müde Witze. [….]

(Post-Nationalität, 03.10.2022)

In einem Dorf zu leben, hat Vor- und Nachteile. In einer Großstadt zu leben, hat Vor- und Nachteile. Möge jeder sich ein Plätzchen suchen, das ihm am besten gefällt. Ich mag die Internationalität und die Anonymität Hamburgs. Ich will nichts über meine Nachbarn wissen und die sollen sich auch nicht für mein Leben interessieren. Es erfreut mich, in der Vielfalt der Nationen und Sprachen und Lebensentwürfe untertauchen zu können.

In Ostelsheim ist das sicher nicht möglich. Bei so wenigen Menschen, hat jeder jeden schon einmal gesehen, werden individuelle Veränderungen bemerkt, geschieht weniger im Verborgenen.

Für die Integration von Migranten hat auch das Vor- und Nachteile. Da die Dorfgemeinschaft homogener ist, sind die Menschen konservativer. Neue fallen mehr auf, werden eher als Störung empfunden, weil die Tolerierung anderer Sprachen und Hautfarben nicht eingeübt ist.

Der Vorteil ist aber, daß ein Neuer, anders als in der anonymen Großstadt, in der Lage ist, sich individuell zu präsentieren und Vorurteile entkräften kann, indem er aktiv auf die Eingeborenen zugeht und sie einzeln kennenlernt.

Das gelang Ryyan Alshebl geradezu mustergültig.

[…..]  Liebe Ostelsheimerinnen und Ostelsheimer,

mein Name ist Ryyan Alshebl. Ich bin 29 Jahre alt, ledig und arbeite in der Verwaltung der Gemeinde Althengstett. […..] Ich wurde 1994 in Syrien geboren, als Sohn einer Gymnasiallehrerin und eines Agraringenieurs. Meine Eltern gehören der drusischen Glaubensgemeinschaft an, die etwa 3 Prozent der Bevölkerung Syriens ausmacht. Bis zum Alter von 20 Jahren verlief mein Leben so, wie es sich jeder ambitionierte junge Mensch hierzulande vorstellt. Ich ging zur Schule, legte 18jährig das Abitur ab und nahm danach ein Studium der Finanzwissenschaft und der Bankbetriebslehre auf.

Bereits mit 21 Jahren, also in einem Alter, in dem ein junger Mensch üblicherweise entweder gerade mit einer Berufsausbildung fertig wird und mit dem ersten, moderat bezahlten Job beginnt, vielleicht auch sich mitten in einem Studium befindet; in dieser Lebensphase, in der meine größten Sorgen darin bestehen könnten, mir die attraktivste Party am Samstagabend nicht entgehen zu lassen oder möglicherweise die Championsleague-Spiele zu verfolgen und mit meiner Lieblingsmannschaft mitzufiebern, musste ich mich einem Überlebenskampf stellen.

Denn im Jahr 2015 stand ich wie viele Menschen meiner Generation in Syrien vor einem Dilemma: Entweder musste ich den Kriegsdienst leisten und somit mich gezwungenermaßen zu Gunsten einer Kriegspartei im Krieg verheizen lassen, oder das Land verlassen und mich einem ungewissen Schicksal hingeben. Bedingungslos habe ich mich diesem Schicksal hingegeben und mich auf den Fluchtweg begeben. […..] Nach einer mehrere Wochen dauernden Flucht, in der es von der einen Not- zur anderen Sammelunterkunft ging, landete ich bei den Schwaben. Dort hatte ich das Privileg, gleichzeitig zwei neue Sprachen erlernen zu dürfen. […..] In einer Gemeinschaftsunterkunft, in der der Anspruch nicht über ein Bett, ein Dach und ein paar Lebensmittel hinausgehen darf, für die man aber selbstverständlich sehr dankbar ist, kann man nur eines tun: Schnell wieder auf die Beine zu kommen, und zu beginnen rasch in die eigene Zukunft zu investieren. Man muss erst die Sprache beherrschen, und erst dann kann man sich dem Arbeitsmarkt stellen.

Das Studium konnte ich nicht weiterführen.  Doch ich hatte das Glück, dass mir die Gemeinde Althengstett eine duale Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten ermöglichte, worin ich meine Leidenschaft für Politik und Rechtsstaatlichkeit erfüllt fand. Da ich zu den besten fünf Prozent meines Abschlussjahrgangs gehörte, bot mir das Land Baden-Württemberg ein Stipendium im Rahmen der Begabtenförderung an.[…..]

Während meiner Ausbildung wurde ich in unterschiedlichen Abteilungen der Gemeindeverwaltung eingesetzt, von den Bürgerdiensten bis zur Bauleitplanung. […..] Zuletzt habe ich mit meiner Kollegin Franziska Binczik ein aus Landesmitteln finanziertes Programm zur Verbesserung der Kita-Infrastruktur Althengstetts entwickelt.

Ich habe ein großes Interesse an Informationstechnologie und habe bereits in Syrien aus diesem Hobby während des Studiums eine Einkommensquelle gemacht. Die Zeit der Corona-Pandemie hat gezeigt, dass in öffentlichen Verwaltungsbetrieben in puncto Digitalisierung viel Aufholbedarf herrscht.

Digitalisierung der Behörden ist nun vor allem eine zentrale gesellschaftliche Forderung. Durch meine Vorkenntnisse und diverse, im Laufe meiner Tätigkeit erworbene Qualifikationen, ist es mir gelungen, auf die Schiene der digitalen Verwaltung umzusteigen. […..]

(Ryyan-Alshebl.de)

Alshebl ist nicht nur sympathisch und kompetent, sondern auch ein Glücksfall für seine Gemeinde, da es an Kommunalpolitikern mangelt und sich schon gar keine jungen Menschen mit IT-Fachkenntnissen für ehrenamtlichen Posten in der Provinz finden lassen.

Da war es geradezu naheliegend für Alshebl, sein Engagement offiziell zu machen, indem er sich für das Bürgermeisteramt bewarb. Es blieb nicht bei der Bewerbung. Die Wahl fand am 02.04.2023 statt und er gewann mit absoluter Mehrheit.

[…..] Das Dorf Ostelsheim im Landkreis Calw in Baden-Württemberg hat Ryyan Alshebl zum Bürgermeister gewählt. Wie die Gemeinde am Sonntagabend mitteilte, erhielt der aus Syrien Geflüchtete mit 55,41 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Der 29-Jährige neue Rathauschef war als parteiunabhängiger Kandidat zur Wahl angetreten. Privat sei er aber Mitglied bei den Grünen. Die Erfahrungen im Wahlkampf beschreibt er als »überwiegend positiv«.[…..] Alshebl ist wohl der erste syrische Bürgermeister im Südwesten Deutschlands. […..] Bei der Wahl am Sonntag setzte sich Alshebl gegen die ebenfalls parteilosen Kandidaten Marco Strauß und Mathias Fey durch. […..]

(Spon, 03.04.2023)

Glück für die Nord-Schwarzwälder, Glück für Alshebl. Nächste Station Landrat in Calw.

Dienstag, 4. April 2023

Nützt oder schadet ihm der Mugshot?

Trump war heute nicht sehr amüsiert, als er sich in New York dem Gericht stellen musste und ihm 34 Anklagepunkte verlesen wurden.

[….] Die US-Fernsehsender sprechen von einem Where-were-you-when-Moment, also einem Moment, in dem Geschichte geschrieben wird. Das hat es in den Vereinigten Staaten tatsächlich noch nie gegeben: Ein ehemaliger Präsident, der vor einem Strafgericht erscheint und der Verlesung einer Anklageschrift zuhören muss, in der ihm schwere Straftaten vorgeworfen werden - auch solche, die ihn ins Gefängnis bringen könnten. der Secretary of State Trump erklärt sich in allen Anklagepunkten für "nicht schuldig". Nach gut einer Stunde, gegen 21.30 Uhr deutscher Zeit, verlässt der frühere Präsident den Saal wieder - damit hat die Anklageverlesung für US-Verhältnisse ungewöhnlich lange gedauert. Bei der Abfahrt vom Gericht äußert sich Trump nicht öffentlich; er steigt in den Wagen und fährt mit seinem Konvoi davon, wie auf CNN-Bildern zu sehen ist. der Secretary of State Der New Yorker Bezirksstaatsanwalt Alvin Bragg hat 34 Punkte zusammengetragen, die unter dem Begriff felony laufen, also nach US-Recht als Verbrechen anzusehen sind. Die hohe Zahl erklärt sich möglicherweise mit der Zahl der falschen Einträge in Geschäftsunterlagen oder Steuererklärungen. der Secretary of State Als Höchststrafe drohen dem 76-jährigen Ex-Präsidenten den Gesetzen des Bundesstaats New York zufolge maximal vier Jahre Haft. Weil er keine Vorstrafen hat, gilt es eher als unwahrscheinlich, dass er hinter Gitter muss. Es könnte auch zu einem Freispruch oder nur zu einer Geldstrafe kommen. der Secretary of State h nach der Anhörung vor der Presse: "Die Beweisaufnahme wird zeigen, dass Trump die Geschäftszahlen gefälscht hat, um eine andere Straftat zu verdecken". Das Recht des Staates New York verbiete es, eine Wahl durch anderes ungesetzliches Verhalten zu beeinflussen. "Jeder ist vor dem Gesetz gleich, das ist ein amerikanisches Grundprinzip. Kein Geld der Welt und keine Macht der Welt kann das ändern", sagt Bragg.  [….]

(SZ, 04.04.2023)

Das Verfahren gegen Trump verschafft ihm Aufmerksamkeit und niemand vermag das Medieninteresse so gut in bare Münze umzusetzen, wie er. Über sieben Millionen Dollar Spendengelder haben ihm seine fanatisierten Fans für seine Anwaltskosten zugeschickt, seit er aufgefordert wurde sich in NY vor Gericht zu zeigen.

Der Milliardär Trump nutzt die Anklage wie üblich schamlos aus, um seine verblödeten Fans zu melken – und die Medien helfen dabei.

[….]  Sein Leben ist eine einzige Gratwanderung zwischen Recht und Ruin, die als trashige US-Realityshow begann, doch längst zum realen Horrorfilm geworden ist. der Secretary of State Das wird sich kaum ändern mit der Schweigegeld-für-einen-Pornostar-Anklage, die New Yorks Bezirksstaatsanwalt Alvin Bragg  gegen Trump erhoben hat. Sicher, es ist erstmals eine Konsequenz, doch auch die wird er zu seinen Gunsten verdrehen. Und sicher, sie ist beispiellos. Doch alles, was Trump betrifft, ist beispiellos. So ist diese Zäsur in Wahrheit gar keine, sondern nur die nächste Bestätigung, dass er weiter mietfrei in unseren Köpfen lebt, obwohl wir dachten, ihn im Januar 2021 nach Mar-a-Lago verbannt zu haben, sein Palm-Beach-Elba. Ladies and gentlemen, willkommen im Zirkus Trump! [….]

(Marc Pitzke, 03.04.2023)

Die New Yorker Anklage hilft Trump, die Reihen der Republikaner zu schließen, ein Erfolg bei den Vorwahlen war ohnehin wahrscheinlich, wird nun noch wahrscheinlicher.

[….] Dass Trumps jahrzehntelange Streitereien mit der Justiz  – er geriet bereits wegen windiger Immobiliendeals, Steuerbetrug und Behinderung der Justiz in den Fokus – nun schließlich in einer weitreichenden Anklage münden könnten, schlägt indes offenbar nicht auf seine Beliebtheitswerte durch.

Im Gegenteil: Etwas mehr als ein Drittel der Befragten (34 Prozent) sieht den Ex-Präsidenten wohlwollend – 58 Prozent dagegen nicht. Damit ist Trump im Vergleich zu einer vorherigen Umfrage aus dem Januar offenbar sogar noch etwas beliebter geworden: Damals sahen 32 Prozent den Ex-Präsidenten wohlwollend und 63 Prozent nicht. […]

(SPON, 04.04.2023)

Schließlich ist der Prozess eine großartige Gelegenheit für die rassistischen Top-QTrumpliKKKans Marjorie Taylor Green und George Santos, sich als Trumps Superfans zu inszenieren, bei der Basis zu punkten, ebenfalls Spendengelder einzusammeln.

Daß Staatsanwalt Alwin Bragg den Ex-Präsidenten ins Gefängnis bringt, ist ebenfalls unwahrscheinlich.

Es gibt aber auch schlechte und sehr schlechte Neuigkeiten für Trump.

Schlecht:

Die 34 Anklagepunkte von heute sind das kleinste Problem.

Die weiteren drei strafrechtlichen Ermittlungen

·        Anzetteln der Insurrection vom 06.01.2021

·        Georgias Secretary of State Brad Raffensperger zur Wahlfälschung auffordern

·        Entwenden hochgeheimer Unterlagen nach Mar A Lago

sind sehr viel ernstere Anklagen.

Sehr schlecht:
So sehr Trumps Basis nun elektrisiert ist und ihn noch fanatischer bejubelt, so sehr werden ihm die Anklagen bei der Präsidentschaftswahl selbst schaden.

Wenn Demokraten und Unabhängige dabei sind, hilft es nicht, neben zwei Impeachments auch noch diverse strafrechtliche Ermittlungen im Gepäck zu haben.

Trump darf zwar selbst als verurteilter Krimineller zur Wahl antreten, darf aber in seinem neuen Heimatbundesstaat Florida nicht wählen. Peinlich.