Donnerstag, 22. April 2021

Naturprodukte

Mein Nachbar kam schimpfend von der Ostsee, aus seinem Wohnwagenparadies zurück. Er wollte da zu Saisonbeginn einiges an seinem Geräteschuppen anbauen und freute sich diebisch, den strengen Hamburger Corona-Auflagen zu entkommen. In Hamburg sind die Baumärkte geschlossen, aber wenn man über die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein fährt, kann man in Günthers Locker-Land ohne Beschränkungen in den Baumärkten herumprassen.

Das ist ohnehin schon ein geflügeltes Wort in Hamburg, wenn sich jemand ärgert etwas nicht kaufen zu können: ‚Fahr‘ doch über die Grenze nach Rellingen. Fahr‘ doch über die Grenze nach Norderstedt.‘

In diesem Fall wurde nichts aus dem Baumarkt-Fun, weil das Holz entweder ausverkauft oder viel zu teuer war.

Deutsche Häuslebauer stöhnen noch lauter als sonst: Neben der unendlichen Bauauflagen-Flut gehen nun auch noch die Materialpreise durch die Decke.

[….] Während der Holzpreis im vergangenen Jahr derart am Boden war, dass so mancher Waldbauer erwog, die Arbeit in seinem Forst wegen Unrentabilität einzustellen, ist der Markt nun geradezu explodiert. Das liegt nicht nur daran, dass in Deutschland das Bauen mit Holz immer attraktiver wird. Sondern auch am immensen Holzhunger der amerikanischen Baubranche. Dort wird ohnehin deutlich mehr als in Deutschland mit Holz gebaut. Und mit Kanada ist einer der Hauptzulieferer für die US-Amerikaner nahezu ausgefallen – weil dort der kleine, aber gefräßige Bergkiefernkäfer Baumbestände von gigantischem Ausmaß vernichtet hat. Nun hat die USA den europäischen Holzmarkt für sich entdeckt.  [….]  Nun haben sich die Amerikaner auch mit deutschem Holz eingedeckt. „Gutes Holz ist mittlerweile Mangelware.“ [….] Tatsächlich liege der Preis für den Festmeter Rundholz derzeit wieder bei etwa 90 Euro, wie Johann Killer von der Waldbesitzervereinigung Wolfratshausen bestätigt. Zum Vergleich: In der Holzmarktkrise im vergangenen Jahr lag der Preis teilweise bei nur noch 25 Euro. [….]

(Merkur, 15.04.2021)

Holz ist ein Naturprodukt, ein nachwachsender Rohrstoff.

Wenn dies nicht mehr geschieht, weil ein Käfer die Bäume killt, bevor es die menschlichen Kettensägen tun, stiegen logischerweise die Preise.

[….] Der Plagegeist schimmert schwarz, ist kaum größer als ein Reiskorn, und wenn er mit seinem Gastgeber fertig ist, dann ist das an den rostroten Kiefernnadeln zu erkennen. In den Wäldern Nordamerikas hat Dendroctonus ponderosae, besser bekannt als Bergkiefernkäfer, bereits Wälder in einem Umfang zerstört, der das Wort "apokalyptisch" in den Sinn ruft. Allein in der kanadischen Provinz British Columbia hat der Käfer Wald auf einer Fläche von mehr als 180 000 Quadratkilometern niedergemacht. Vier Mal so groß wie die Schweiz. Der Klimawandel bietet dem Baumkiller so gute Lebensbedingungen wie nie zuvor. Bauholz ist auch deshalb so knapp und so teuer wie nie. [….]

(Thorsten Denkler, SZ, 24.03.2021)

Während Deutsche „Wein‘ leiser, Greta“-Aufkleber an ihre SUV-Hecks pappen und die Kanzlerin ohnehin jede Klimaschutzmaßnahmen abblockt, erhitzt sich der Planet immer weiter.

Der Klimawandel macht im Moment nicht nur das Holz teurer, sondern auch Paprika.   Die Bio-Variante kostet im Supermarkt gerade über 10 Euro und ist damit doppelt so teuer wie vor einem Jahr.

[…..] Vor wenigen Wochen gab es in Spanien einen massiven Wintereinbruch. Deshalb lagen die Temperaturen dort deutlich unter dem saisonüblichen Durchschnitt, was dazu führte, dass die Paprikas sehr viel langsamer wuchsen. Eine schlechte Ernte war die Folge. Weil jedoch die Nachfrage in den letzten Wochen konstant hoch blieb, steigt der Preis seit Tagen.  Ein Preisanstieg lässt sich aber nicht nur bei den Paprikas erkennen, sondern auch bei Gurken, Tomaten, Auberginen und Lauchzwiebeln. [….]

(Franken, 22.04.2021)

Als Vegetarier, der fast gar keine Fleisch-Ersatzprodukte konsumiert, sondern gleich auf Obst und Gemüse setzt, freue ich mich natürlich über die ganzjährige Auswahl.

Ich erinnere mich, als Kind bei meiner Oma gab es im Sommer oft Kopfsalat. Das war eben der einzige Salat, den man kannte. Dann schleppte meine Mutter irgendwann Eisbergsalat an. Wir waren begeistert von dem Zeug, weil man den nicht waschen musste und er so knackig war.
Nun hatte man außerdem zwei Salate zur Auswahl.

Im Jahr 2021 führt mein Gemüsemann gar keinen Eisberg-Salat mehr. Viel zu langweilig. Dafür gibt es keine Nachfrage. Der Großhändler bietet 130 Salatsorten kontinuierlich an. In meinem Laden um die Ecke gibt es stets um die 20, 25.    Natürlich habe ich meine besonderen Vorlieben, im Moment zum Beispiel frische Bunde Asia-Salatmix Baby Leafs aus dem Alten Land und französische rosa Wild-Radicchio.

Der Segen ist aber auch ein Fluch, da man den Sinn für das Regionale verliert und natürlich nicht klimafreundlich isst, wenn man Äpfel aus Neuseeland, Spargel aus Chile und Weintrauben aus Südafrika kauft.

Außerdem verliert man das Gespür für das Besondere, wenn es immer alles gibt.

Wenn nur einmal und nur für kurze Zeit im Jahr Erdbeeren oder Spargel oder Clementinen erhältlich sind, bieten sie die viel größere Gaumenfreude.
Es muss auch kein im Februar gestochener Folienspargel, bei dem jede Stange haargenau gleich aussieht. Sie dürfen auch natürlicher und langsamer wachsen, mal krumm oder kurz sein.

Sie sind dann wirklich Naturprodukte, die es dann gibt, wenn Jahreszeit und Wetter es erlauben.    Die Agrarindustrie in Kombination mit subventionierten Energiepreisen und lächerlich billiger Logistik, gaukeln uns vor, man könne jede Frucht immer und überall bekommen. Sie sieht auch immer gleich aus, schmeckt immer gleich.

Das funktioniert aber nur, wenn wir asoziale Bedingungen für die Erntehelfer, die chemische Keule auf den Feldern, abartige Energieverschwendung, aberwitzigen Energieverbrauch, astronomische Subventionen und die Bildung gewaltiger Nahrungsmittelkonzerne hinnehmen.

Eine naturschonenden Landwirtschaft der kurzen Wege und ohne Pestizide, kann nicht wie am Fließband funktionieren.   Sie ist wetterabhängig.

Daher finde ich es ganz schön, wenn größere Effekte wie der Bergkiefernkäfer oder ein Wintereinbruch in Spanien direkt auf die Verbraucherpreise durchschlagen und wir Städter im Supermarkt merken, daß es nicht immer alles geben muss.

Daß wir keine genormten Industrieprodukte wie Stahlnägel oder Plastikbecher beim Obst-Höker kaufen, sondern natürlich gewachsene Pflanzen.

Daß es einige davon vielleicht bald nicht mehr oder nur noch extrem teuer gibt, wenn wir nicht doch langsam mal auf Greta Thunberg hören.

Mittwoch, 21. April 2021

Corona-Obrigkeitshörigkeit

Als der Corona-Mist vor einem Jahr los ging, noch kein Heilmittel, kein Schnelltest und erst recht keine Impfung in Aussicht stand, gab es angesichts der Horrorbilder aus Italien nur eine Handlungs-Option:

Mit allen Mitteln die Verbreitung der Pandemie stoppen.  Das hieß natürlich, die Quantität der Mensch-Mensch-Kontakte drastisch herunterfahren.

Sehr schnell wurde beobachtet, wie extrem die Sterberate vom Alter der Infizierten abhing.   Die über 80-Jährigen starben wie die Fliegen und so war es für jeden einsichtig, daß Altenpflege-Einrichtungen abgeriegelt werden mussten. Senioren mussten strikt isoliert werden.

Als rechtlicher Betreuer einer dementen Person stellte ich die Maßnahme nicht in Frage. Sicherheit ging vor.

Natürlich ärgerten mich die dummerhaft-lapidaren Anregungen aus dem Spahn-Ministerium, nach denen man auf Videotelefonate ausweichen könne.

Das kann nur jemand empfehlen, der noch nie eine Demenzstation gesehen hat.  Natürlich fehlt den meisten Dementen und Alzheimer-Patienten nicht nur das technische Knowhow, sondern auch die Abstraktionsfähigkeit. Wenn ich dort auf den Handybildschirm auftauche und von einer Betreuerin dem Patienten vor die Nase gehalten werde, erkennt er mich bestenfalls und hält das für ein Foto. Er versteht aber nicht, daß ich hier vor ihm erscheine und rede, während ich aber gleichzeitig gar nicht da bin und mich weit weg aufhalte.

Wir gewöhnten uns aber an den neuen Alltag, hielten Abstand, bestellten fürchterlich viel online und trugen nach den ersten Monaten der Engpässe immer ein Fläschchen Sterillium in der Jackentasche und eine FFP2-Maske auf der Nase.

So lange aus dem Pflegeheim ausgesperrt zu sein, wurde aber zu einer riesigen Belastung. Egal, ob man Angehöriger, einzige Kontaktperson oder Generalbevollmächtigter war. Keine Ausnahmen.

Natürlich brachte ich immer mal wieder Geschenke kontaktlos vorbei.

Vorher anrufen, ‚ich stehe vor der Tür und stelle hier etwas ab‘, zurück zum Auto gehen und aus der Ferne zugucken, wie ein Pfleger die Sachen an sich nahm.

Einmal konnte ich einen dieser Geschenkübergabetermine nicht einhalten und bat eine gemeinsame Freundin, die in einem Obstladen arbeitet, für mich zum Pflegeheim zu fahren. Blumenläden waren geschlossen, aber Obstläden, die auch Blumen verkauften, offen.

Meine Freundin fuhr also mit einem großen Blumenstrauß los und erzählte mir anschließend freudestrahlend, sie wäre gleich reingelassen worden, durfte hoch in das Zimmer gehen und habe sich sehr nett mit der von mir betreuten Person unterhalten. Sie hätte sich so sehr über Besuch gefreut nach all den Monaten.

Ich dachte, sie erzählt Märchen.   Wieso wird sie, als völlig Fremde problemlos raufgelassen, während ich als zuständiger Mensch alle Register gezogen hatte und stets scheiterte?

Des Rätsels Lösung: Sie war mit dem Firmenwagen, der einen Obstkorb auf dem Dach als Krone trägt gekommen und galt daher nicht als „Besuch“, sondern als „Dienstleisterin“.

Dienstleister hatten aber immer Zutritt, weil sie notwendig sind.

Rechtlich verstehe ich das: Die Politik war gezwungen zu handeln, musste also strikte Grenzen des Zugangs zu Altenheimen aufstellen. Da man die Pfleger, Köche, Reinigungsleute, Ärzte logischerweise nicht aussperren kann, traf es die privaten Besucher.

Epidemiologisch war die Regelung aber in der Phase vor den Tests und Impfungen grober Unfug. Die Gefährlichkeit einer Besuchsperson hing schließlich von der Anzahl ihrer Kontakte ab.

Demnach war ich maximal ungefährlich, weil ich Single bin, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutze und ohnehin zu Hause arbeite.

Ich traf ohnehin nie einen Menschen.

Meine Freundin hingegen, hatte als Verkäuferin in einem sehr stark frequentierten Obstladen jeden Tag hunderte direkte Kontakte mit Fremden.

Sie wäre also diejenige gewesen, die man am allerwenigsten zu nicht geimpften über 90-Jährigen lassen sollte.

Aber sie durfte rein. Ich musste draußen bleiben. Dienstleisterin vs Privatbesuch.

Hätte ich ein Bein in der Aluhutszene gehabt, würde Covidioten-Telegrammeldungen lesen oder hätte eine Neigung zum Wutbürgertum, wäre dies der Zeitpunkt gewesen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Festzustellen, daß „die da oben nur Unsinn machen“. Hätte vielleicht aus Trotz fürderhin gar keine Corona-Regeln mehr akzeptiert.

Glücklicherweise bin ich aber habituell Naturwissenschaftler und habe nicht die allergeringste Neigung zu Metaphysik, Schwurbelei, Religion, Verschwörungstheorien, Esoterik und Extremismus.

Quantität schlägt Qualität.

Politiker müssen dafür sorgen die absolute Zahl der Kontakte zu reduzieren.   Es wäre wünschenswert, wenn dies nur durch perfekt durchdachte und praktikable Methoden geschieht.  So etwas zu erwarten ist aber aus vielen Gründen illusorisch.

Daher geht es nicht in erster Linie um die Logik und Qualität der Abstandsmaßnahmen, sondern darum das Gesamtkontaktgeschehen quantitativ runter zu regeln.   Es ist unterm Strich sinnvoller 1000 verschiedenen Menschen ein Treffen mit lediglich 2 Fremden zu verbieten, als zwei Menschen zu stoppen, die jeweils 100 andere küssen.

Trotz der Apps, der Desinfektion und den Impfungen, bleibt es angesichts der deutlich ansteckenderen verschiedenen Mutanten notwendig Kontakte zu reduzieren, um die Wellen zu brechen.

Die Alten sind geimpft und sterben nicht mehr an Covid19, aber nun liegen bald 5.000 mittelalte Patienten auf den Intensivstationen und kämpfen um ihr Leben.

Immer mehr Krankenhäuser müssen andere Operationen aufschieben. Hamburg nimmt jeden Tag Corona-Infizierte aus anderen Bundesländern auf, weil es dort keine Beatmungsplätze mehr gibt.

In den letzten Tagen musste ich mehrfach eine Arbeit abbrechen, um pünktlich vor 21.00 Uhr der Hamburger Ausgangssperre zu Hause zu sein.

Ich bin überfällig, in den Supermarkt zu gehen, weil ich das gewohnheitsmäßig spätabends tue.

Und es nervt mich. Statt um 23.00 Uhr einzukaufen, wenn da kaum noch Betrieb ist, man bequem Abstand halten kann, muss ich um 20.30 spätestens nach Hause und das Grocery Shopping auf den nächsten Tag verschieben – zu einer Uhrzeit, wenn es schon voll ist und sich alle aneinander drängen.    Statt Ladenschließung um 21.00 Uhr wäre es meines Erachtens sinnvoller die Öffnungszeiten auf 24/7 auszudehnen, so daß sich die Kunden mehr verlaufen können.

Aber, und es gibt ein großes Aber: Der strenge Hamburger Weg der allgemeinen Ausgangssperre ab 21.00 ohne Ausnahmen für Hunde und Jogger funktioniert.

Der habilitierte Labormediziner Peter Tschentscher, zurzeit Hamburgs Regierungschef, lag also richtig.

In Hamburg sinken die Infektionszahlen besser als in den Bundesländern, die lockern.

[….] Noch in dieser Woche soll die Pflicht zur Notbremse kommen: In Hamburg ist zu sehen, wie schnell die Infektionskurve abflachen könnte – vor allem die Ausgangssperre ist wohl effektiver als gedacht. [….]

(Julia Köppe, SPON, 19.04.2021)

Es ist also weniger relevant, ob ich jede einzelne Regel als sinnvoll erachte.

Wichtig ist vielmehr, die beschlossenen Maßnahmen konsequent zu befolgen und nicht immer aus der Reihe zu tanzen, wenn Einzelfälle absurd erscheinen.

[….] Die Entwicklung in Hamburg: Endlich mal ein Lichtblick.

Denn in der Hansestadt sind die Corona-Infektionszahlen seit Tagen rückläufig. Wurden vor einer Woche am 14. April noch 479 Corona-Infektionen bestätigt, sank die Zahl stetig bis auf 227 Neuinfektionen am Dienstag. Zwar sind am Mittwoch mit 400 erneut viele Infektionen gemeldet worden, dennoch sank die Sieben-Tage-Inzidenz im Vorwochenvergleich konstant weiter und lag zuletzt bei 130,3.  Auch deutschlandweit gehen die Zahlen der Neuinfizierten herunter. Doch Hamburg verzeichnet den stärksten Rückgang der Inzidenz – um 6,5 Prozent. [….] Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) führt die positive Entwicklung in der Hansestadt auf die bestehende Ausgangssperre zurück: „Als wir die Ausgangssperre hier angekündigt haben, hatten wir eine Inzidenz von über 160. Wir sind das einzige Bundesland, dass seit diesem Zeitpunkt kontinuierlich zurückgeht auf heute 134.“ Wenn man sich die zeitliche Korrelation ansehe, sei dies die naheliegendste Begründung, so Grote. […..]

(MoPo, 21.04.2021)

Also Querdenker, bitte sofort aufhören bei Aluhutmärschen Superspreader-Events anzuzetteln, sondern lieber das tun, was „die da oben“ wollen.

Dienstag, 20. April 2021

Jetzt beginnt schon mal das Rechnen.

Wir kennen alle diese lustigen Sprüche:
Traue keiner Umfrage, die Du nicht selbst gefälscht hast.

Prognosen sind schwer; insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.

Fast jeder erliegt der Versuchung, sich der unendlichen Flut der Umfragedaten zu bedienen, um irgendwie eine  Mehrheit oder zumindest steigende Zustimmung zur eigenen Meinung zu finden.

Keine Talkshow, kein politischer Journalist und schon gar kein Politiker, der nicht intensiv herunterbeten, was eine Mehrheit der Wähler, der CDU-Anhänger, der Erstwähler, der Kirchenmitglieder usw, denkt.

Das ist doppelt heikel, denn auf diese Weise kann man immer eine Majorität konstruieren.

Sehr beliebt sind auch Vergleiche mit früheren Ergebnissen. Das kennt man aus den Wahlabenden, wenn alle Parteien Zugewinne verbuchen – zumindest im Vergleich zu einer willkürlichen Referenzgröße. Der letzten Landtagswahl, den letzten Umfragen, der Europawahl, den Umfragen noch vor  vier Wochen, den Erwartungen. 
Jeder will gewonnen haben und zur Mehrheit gehören.
Dahinter verbirgt sich einerseits ein Machtanspruch; denn in einer Demokratie braucht es Mehrheiten, um Macht auszuüben. Insofern ist es legitim zur Durchsetzung seiner Ansichten Mehrheiten zu organisieren.

Im politischen Diskurs wird aber irrtümlicherweise auch angenommen, die Mehrheit habe Recht, entscheide sich richtig.

Leider ist das Unsinn.   Mehrheiten können sich fürchterlich irren.

In Sachfragen, aber auch in Personal-Vorlieben.

Seit Hitler 1941 war kein Politiker so beliebt von Karl-Theodor von und zu Guttenberg im Jahr 2010. Spielend überholte er die Kanzlerin, bekam die höchsten Zustimmungswerte. Bis zu 90% mochten ihn. Grüne und Linke schwärmten von dem feschen bayerischen Multimillionär, obwohl völlig offensichtlich war, daß er log und Sachpolitik betrieb. Es war ein Massenwahn. Rückblickend bin ich durchaus stolz, ihm in diesem Blog nie auf den Leim gegangen zu sein und ihn kontinuierlich scharf kritisiert zu haben.

Der 800 Millionen Euro schwere fränkische Adelige hatte zwar in zwei Ministerämtern rein gar nichts erreicht, aber selbst nachdem seine Megalügen und Plagiate aufflogen, lobpreisten ihn 75% der Deutschen, verlangten, er solle Minister bleiben, wollten ihn am liebsten per Akklamation zum Kanzler machen.

[…..] Deutsche halten weiter zu Guttenberg.   Die Plagiatsaffäre hat dem Ansehen von Verteidigungsminister Guttenberg bislang kaum geschadet. Einer Umfrage zufolge schätzen drei Viertel der Bürger seine Arbeit. […..]

(ZEIT, 22. Februar 2011)

Dieser Massenirrtum zeigt auch wieso plebiszitäre Elemente so eine schlechte Idee sind. Damit wird die Entscheidung an die Dümmsten delegiert. Es ist wie eine Diktatur der Inkompetenz.

Die Ächtung der Todesstrafe ist eine zivile und demokratische Errungenschaft.
Sie könnte schnell enden, wenn es dazu eine Volksbefragung gäbe; die Boulevard- und sozialen Medien ein paar Wochen Zeit hätten einige besonders grausige Kindersex-Morde auszumalen und die Täter zu Bestien hochschreiben.

Mehrheitsmeinungen als Totschlagargument zu missbrauchen ist sehr heikel.  Auch ich bin nicht frei davon, wenn ich zum Beispiel aus Ärger über kirchenfreundliche und menschenfeindliche Entscheidungen Roter und Grüner Abgeordneter im Bundestag auf Umfragemehrheiten hinweise, die ebenfalls für Sterbehilfe oder der Verbot von Kinderbeschneidung plädieren.

In dem Fall ist es eine polit-strategische Frage an die SPD und die Grünen, wieso sie eigentlich so eisern eine kirchliche Forderung erfüllen, während sie doch demoskopisch so viel gewinnen könnten, indem sie sich gegen die Kleriker-Lobby  stellten und für ein Recht auf assistierten Suizid einsetzte.

Dabei verwende ich ein rein willkürliches Argument. Ich bin extrem von „Mein Ende gehört mir“ überzeugt; halte es für zutiefst inhuman, abscheulich und sadistisch, nicht nur anders urteilende höchste deutsche Gerichte zu ignorieren, sondern jedes Jahr wieder Tausende Deutsche zu bestialischen Schmerzen und einen grausam hinausgezögerten Tod in der Unselbstständigkeit zu verurteilen.

Würde zufällig eine große Mehrheit der Deutschen Sterbehilfe ablehnen und die extrem sadistische Position der Kirchen teilen, bleibe ich dennoch von meiner Minderheitenmeinung überzeugt und würde von „der Politik“ fordern, sich gerade eben nicht nach der Majorität zu richten.

Man ist daher auch weder ein guter, noch ein qualifizierter Regierungschef, wenn man einmal eine Mehrheit erzielt hat und wieder gewählt wurde.
Kohl, Koch, Berlusconi, Merkel, Strauß, Stoiber, Seehofer, Söder.

Riesige Mehrheiten waren sich über Jahrhunderte völlig einig, daß Frauen minderwertig sind, Schwule kriminell sind, daß Juden Brunnen vergiften. Noch vor 20 Jahren gab es keine Mehrheit für die „Ehe für alle“.

Große Mehrheiten lehnen die Legalisierung von Drogen ab.

Es gab lange Zeit Einigkeit darüber, daß man Kinder schlagen müsse, daß Frauen keine Hosen tragen dürften und „der Franzose unser Erbfeind“ ist.

Was „die Mehrheit denkt“, ist also oft schlicht und ergreifend grundfalsch.

Die Mehrheit kann Recht haben und sich für einen guten Regenten entscheiden.

Die Mehrheit der US-Wähler war vernünftig, als sie trotz geringer Begeisterung für Joe Biden mit 81 Millionen zu 74 Millionen Stimmen Trump in den Ruhestand schickte.  Die Mehrheit entschied rational und richtig, als sie Oktober 2020 Jacinda Ardern einen Erdrutschsieg verpasste.

Gleichzeitig schickten Mehrheiten auch die zutiefst korrupten und destruktiven Mitch McConnell und Lindsey Graham in den US-Senat.

Der Umfrage-Rutsch zu Gunsten der Grünen, der die Baerbock-Partei auf 28% katapultiert und die Scholz-Partei auf 13% schrumpfen lässt, bedeutet also noch lange nicht, daß Baerbock eine bessere Kanzlerin als Olaf Scholz wäre.

[….] Die Nominierungen von Annalena Baerbock und Armin Laschet als Kanzlerkandidaten sorgen laut Forsa-Umfrage für extreme politische Erschütterungen. [….]  Bei einer Bundestagswahl würden die Parteien aktuell folgende Ergebnisse einfahren: CDU/CSU 21 Prozent (Bundestagswahl 2017: 32,9 %), SPD 13 Prozent (20,5%), FDP 12 Prozent (10,7%), Grüne 28 Prozent (8,9 %), Linke 7 Prozent (9,2%), AfD 11 Prozent (12,6%). Acht Prozent würden sich für eine der sonstigen Parteien entscheiden (5,2%). [….]

(MoPo, 20.04.2021)

Die Zahlen des SPD-Mannes Güllner zeigen nur, wie stimmungsanfällig das Wahlvolk ist, indem es diejenigen, die vorbildlich seriös regieren, die SPD-Bundesminister, abstraft und diejenigen, die gar nichts tun und nur in Hinterzimmern Personalien ausklüngeln, in den Himmel hebt.

Anderseits gefällt mir natürlich der Teil der Umfrage, in dem die Grünen acht Prozentpunkte vor der CDUCSU liegen. Das könnte lustig werden für Laschet.

Falls die CDU aber zu deprimiert ist, kann sie auch die ebenfalls heute erschienenen INSA-Zahlen verweisen. Das konservative Institut stellt genau das Gegenteil fest: Hier liegen CDUCSU meilenweit vor den Grünen.

CDUCSU: 28%, Grüne 21 %, SPD: 16%, FDP: 11%, Linke 7%, AfD: 12%

Montag, 19. April 2021

Erstaunliche Dinge passieren heute.

Die Grünen geben sich als politische Vollprofis, tüfteln die Kanzlerkandidatur lehrbuchartig im Hinterzimmer aus, ohne irgendein Parteigremium oder gar die Basis damit zu befassen, alle Eingeweihten halten sich streng an die Schweigepflicht, niemand sticht auch nur eine Andeutung an die Presse durch, kein Parteimitglied, keine Delegierte muckt auch nur im Geringsten auf, weil die Obermuftis gänzlich undemokratisch um Posten feilschen.

Dann gibt Annalena Baerbock perfekt vorbereitet perfekt rundgelutschte Interviews, in denen sie wie ein CDUler nach 40 Jahren in der Regierung, noch nicht mal ansatzweise auf die Fragen eingeht, sondern völlig allgemeingültige wolkige Phrasen ablässt, die auch 90% aller anderen Politiker so verwenden.    Sie mache ein „Angebot“, stehe für einen „Neuanfang“, man müsse „die Zukunft gestalten“. Welcher Kandidat von Linke bis CSU würde das nicht unterschreiben, wenn nach 16 Jahren die ewige Amtsinhaberin abtritt?

Heute Journal-Moderator Klaus Kleber konnte dementsprechend die seit Jahrzehnten eingeübte Replik „nun haben Sie lange gesprochen, aber mit keinem Wort auf meine Frage geantwortet“ anwenden.

Erstaunlich ist insbesondere die CDU-Grüne-Habitus-Rochade.

Während die Baerbock-Habeck-Partei diszipliniert wie Chinas KP agiert und jedes Mitglied einmütig die Parteichefs unterstützt, streiten sich die CDU-Funktionäre wie die Kesselflicker, bieten ein Bild des puren Chaos, sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, ihre persönlichen Eitelkeiten zu vergessen und an einem Strang zu ziehen!

Das Allererstaunlichste aber: Heute gehe ich vollständig mit der Ansicht des erzkonservativ-drögen Heute Journal-Redaktionsleiters Schmiese d’Accord.
Ich kann mich nicht erinnern jemals einer seiner politischen Analysen zugestimmt zu haben.

[…..] Die Grünen zeigen der Union, wie man es richtig macht. Ihnen ist heute gelungen, was CDU und CSU haltlos versprochen hatten.   […..] Vor einer Woche hätten CDU und CSU sich noch ähnlich elegant für die Bundestagswahl aufstellen können. Armin Laschet hatte - genau wie Annalena Baerbock bei den Grünen - das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur. Markus Söder hatte die Chance, genau wie Robert Habeck bei den Grünen, zu sagen: Grundsätzlich wäre ich zwar geeignet und bereit. Aber ich akzeptiere. […..]   [Söder] hat die große Schwester vorgeführt. Sie wirkt uneinig. Und treulos gegenüber ihrem eben erst gewählten Vorsitzenden Laschet. Ausgerechnet in dem Moment, wo die Stimmung wegen der anlaufenden Impfwelle für die Union besser wurde. Laschets Abfragen an diesem Abend, wer von den Führenden zu ihm als Kandidaten steht, ist eine Warnung. Wenn die Mehrheit ihm nicht folgt, war's das mit seiner Autorität und damit im Grunde als CDU-Chef. Egal wie es ausgeht: Der Schaden ist enorm für die letzte in Umfragen große Volkspartei ganz Deutschlands. Die Grünen haben heute gezeigt, dass sie geschlossen stehen - bereit zur Bundestagswahl als Erben der Union. […..]

(Wulf Schmiese, 19.04.2021)

Die CDUCSU hat sich tatsächlich in der letzten Woche unnötigerweise in ein nahezu unlösbares Problem geritten, das nun nur noch peinlicher wirkt, nachdem sie von den zuvor als „grüne Chaoten“ geschmähten Ökos vorexerziert bekommen, wie professionelle Politik geht.

Eigentlich akzeptiere ich nicht mehr, eine Frau für den Job als Kanzlerkandidatin vorzuziehen, bloß weil sie eine Frau ist.   Nachdem sogar die altbackene CDU 16 Jahre lang eine Frau amtieren ließ, eine weitere CDU-Frau als Merkels Nachfolgerin an der Parteispitze installierte und eine dritte CDU-Frau als Kommissionspräsidentin nach Brüssel schickte, kann man wohl kaum von sensationellen Neurungen sprechen, wenn sich die Grünen Jahrzehnte später auch mit einer weiblichen Spitze präsentieren.

Andererseits zeigen mir die drastisch gehässigen misogynen Reaktionen der ganz Rechten, daß Frauen an der politischen Spitze immer noch abenteuerlichen Kommentarmobbing ausgesetzt sind.

Ja, die gläserne Beförderungssperre, die Hillary Clinton auf ihrem Nominierungsparteitag 2016 mit so einem herzhaften Klirren durchbrach, wurde außerhalb der USA schon von Frauen durchbrochen; so auch in der Türkei, in Pakistan, in England und Deutschland.

 Aber diese glass-ceiling kann offenbar auch wieder zuwachsen.

[…..] Die Kanzlerkandidatin aller grünen Journalisten-Herzen hat das Rennen gemacht. Endlich mal eine richtige Frau, die das Kanzleramt erobern will. Nach 16 Jahren Angela Merkel besteht also endlich die Chance auf Politik aus der Sicht einer Frau. Oh nein, sorry: Aus der Sicht einer feminstischen Karrierist*in, die versehentlich Mutter geworden ist.  […..] Sind Männer ab jetzt bis zum September ins dritte oder vierte Glied degradiert? So wie der Erzeuger nach dem Geschlechtsakt mit einer lesbischen Frau, die für sich und ihre Partnerin nur noch ein Kind zum Familienglück benötigt, danach nur noch zahlen darf, falls das mit der Adoption nicht so schnell wie erhofft läuft? […..]

 (M.v. Laack, Phimosis Penis, 19.04.2021)

Ich glaube, es gibt durchaus noch ein Vorurteil gegen junge Frauen in schwierigen klassischen Männerjobs. Kann so eine das überhaupt? Ist sie dafür hart genug?

Natürlich ist es leichter, wenn 16 Jahre Merkel auf dem Thron saß, deren katastrophale Politik ich abendfüllend anklagen kann. Das einzige, das ich ihr wirklich nicht vorwerfe ist, daß sie keinen Penis hat.

Merkel hatte damals zwar schon acht Jahre Erfahrung als Bundesministerin im Kabinett Kohl aufzuweisen und war an der Spitze von Partei und Fraktion etabliert, aber sie wurde nur deswegen schon ins Kanzleramt gespült, weil Gerd Schröder die CDUCSU so kalt mit seiner Neuwahl-Ankündigung erwischte, daß sich der männliche Andenpakt nicht mehr rechtzeitig in Stellung bringen konnte.

Baerbock hat gar keine Regierungserfahrung, aber Glück.
Erstens ist ihre Partei nicht der verknöcherte CDU-Haufen von 2002/2005.

Zweitens zeigt das Totalversagen der seit Dekaden amtierender deutschen Politurgesteine in der Pandemie, daß Regierungserfahrung allein offenbar keine Garantie für gutes Regieren ist.
Drittens zeigen die Beispiele erfolgreicher Corona-Politik junger Regierungschefinnen wie Jacinda Ardern (Neuseeland), Mette Frederiksen (Dänemark), Tsai Ing-wen (Taiwan) und Sanna Marin (Finnland), wie gut eine unerfahrene enthusiastische Frau funktionieren kann.

Das Kirchenmitglied Baerbock tritt allerdings in einem strukturkonservativen veränderungsunwilligen großen Deutschland an; da vertraut man lieber alten, grauhaarigen Männern in der Krise.

Für die SPD dürfte die Grüne Entscheidung pro Baerbock ein Glücksfall sein. Umso mehr kann Scholz seine Stärken als extrem verlässlicher, beständiger und krisenerprobter Vollprofi, der sich nicht erst in irgendetwas einlesen muss, ausspielen

Sofern sich Söder und Laschet weiterhin so vorbildlich bemühen die CDU zu zerstören, sieht es heute wieder ein Stück mehr nach RGR, als nach GRR aus.

[…..] Die Grünen haben sich mit der Nominierung von Annalena Baerbock für ihre Prinzipien entschieden – und dagegen, im September wirklich auf Sieg zu spielen. Bei gleicher Qualifikation erhält die Frau den Job. Das ist einer der Grundsätze der Öko-Partei. […..]  Möglicherweise entscheiden wenige Prozentpunkte darüber, wer am Ende ins Kanzleramt einziehen darf. Laut Umfragen ist Habeck seit Jahr und Tag beliebter als Baerbock, auch wenn diese zuletzt aufholte. Er scheint also eine breitere Wählerschicht anzusprechen. Wahlforscher wissen, dass die Spitzenkandidaten die Stimmabgabe für eine Partei maßgeblich beeinflussen. In manchen Fällen deutlich stärker als inhaltliche Fragen. Die Grünen haben sich mit der Nominierung Baerbocks von dem Grundsatz verabschiedet, dass der Köder vor allem dem Fisch (also den Wählern) schmecken muss und weniger dem Angler. […..]

(MoPo Kommentar, 19.04.2021)

RGR mit einer Vizekanzlerin und Superministerin Barbock unter Bundeskanzler Scholz?

Finde ich gut!

Sonntag, 18. April 2021

Totalenttäuschung Teens

Die Floskeln, mit denen sich alte Leute über die jüngeren wundern, verwende ich immer gern mit einem ironischen Ton. Wohlwissend, daß sich meine Elterngeneration mit ähnlichen Worten über meine Altersgenossen wunderte, so wie sich meine Großelterngeneration über meine Elterngeneration echauffierte.

Die heutige Jugend!

Früher war alles besser!

Nicht einen Funken Respekt!
Das hätte es früher nicht gegeben!

In Deinem Alter habe ich schon…

Solche Klagen sind nicht nur ironisch, weil sie immer wiederkehren, sondern weil Kinder natürlich Produkte ihrer Eltern sind.

Der erschreckende Mangel an Umgangsformen, den ich an Teens beobachte – Danke/bitte sagen, Tür aufhalten, Anklopfen, etc – resultiert zweifellos in dem mangelnden Vorbild der vorherigen Generation.

Andererseits liegt es auch an der jeweiligen Jugendgeneration die von den Eltern vorgelebten Normen der Höflichkeit zu hinterfragen und möglicherweise abzuschaffen oder umzukehren.   Die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen brachen 1968 mit dem Schweigen ihrer Eltern zum Holocaust, stellten Militarismus und Obrigkeitshörigkeit in Frage.

Eine Generation später, als ich ein Teenager war, begannen wir Frauen ganz selbstverständlich als für alle Berufe tauglich anzusehen, enttabuisierten Schwulsein und stellten uns gegen Atomrüstung, Umweltzerstörung und Kernkraftwerke.

Anschließend kam die Generation Golf, die aus mir unverständlichen Gründen wieder unpolitisch wurde, danach trachtete möglichst eine Banklehre zu machen und ein Leben im eigenen Reihenhaus erstrebte. Das waren Typen, die schon als Twens gerne Urlaub auf Kreuzfahrtschiffen machen, statt zu interrailen oder zu trampen.

Wer um die Jahrtausendwende geboren wurde, wuchs als erste Generation digital auf.

Ich meine, dies ist im Gegensatz zu allen vorherigen und ganz natürlichen Generationenunterschieden, die größte Zäsur.   Mit dem Klugtelefon in der Hand groß zu werden, stellt einen fundamentalen Unterschied zur Vor-Generation dar. So groß waren die Unterschiede zwischen meiner Eltern- und Großeltern-Generation nicht.

Die ständige Verfügbarkeit aller Informationen bringt eine ungeheuerliche Vereinfachung und Erweiterung des Horizonts mit sich. Anderseits üben Twitter, TikTok und Co offenbar einen derartigen psychischen Druck aus, daß kaum ein Jugendlicher ohne Antidepressiva und Therapie auskommt.

(….) Hätte man einen Menschen der 1950er, 1960er oder 1970er für 20 Jahre ins Koma gelegt, würde ihm beim ersten anschließenden Spaziergang jeweils eine sehr veränderte Mode auffallen.   Aber die Menschen auf der Straße verhielten sich nicht grundsätzlich anders als 20 Jahre zuvor. Sie unterhalten sich, sitzen in Cafés, füttern Tauben, lesen in der S-Bahn ein Buch

Wie ich schon mehrfach schrieb gefallen mir a posteriori die 1980er Jahre am besten, weil sie so divers waren.

(….) In meiner Jugend war es ein großer Fauxpas Frisuren von Mitschülern nachzumachen und die gleichen Moonboots zu tragen.

„Wenn all von einer Klippe springen, tust du das dann etwa auch?“

Individualität war gefragt.

In der Abi-Zeitung gab es Bilder von Individuen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Mods, Popper, Punks, Ökos, Langhaarige, Grufties, Edel-Punks, Goths, Müslis und auch die zwei, drei Anzugsträger aus der JU.

Heute sind die Abi-Zeitungen meiner ehemaligen Schule online. Sie haben sich alle hübsch zusammen zu einem Gruppenfoto vor der Aula aufgestellt. (Schon das wäre vor 30 Jahren unmöglich gewesen, weil sich die meisten so einem Massenbild verweigert hätten).

Der nivellierende Effekt der sozialen Medien ist sagenhaft: Alle Mädchen tragen die gleiche Jennifer Aniston-Frisur und alle Jungs tragen streng einheitlichen Dreitage-Bart und Anzug.

Die Jugend wurde sanft gehirngewaschen und vermutlich ohne es selbst zu bemerken optisch in eine Lemming-Armee verwandelt. (….)

(Pimmel-Problematik 10.02.2019)

Die männlichen Twens der Gegenwart sehen hingegen alle gleich aus.   Und alle eint der Wahn rund um die Uhr am Klugtelefon kleben zu müssen. (….)

(Veränderungen, 07.09.2019)

Die Klage über „die Jugend“ ist a priori nicht objektiv, weil es natürlich keine homogene Jugend gibt und ist schon gar nicht fundiert, wenn man nicht dazu gehört.

Meine subjektiven Eindrücke decken sich aber sehr stark mit denen meiner Altersgenossen. Wir sind fassungslos über die Unselbstständigkeit heutiger Jugendlicher und staunen wie hilflos sie trotz all ihrer Technik durchs Leben stolpern.

Natürlich tragen sie auch daran nicht selbst die Schuld, sondern haben das ihren overprotective Helicopter-Eltern zu verdanken, die sie noch im Studentenalter jeden Morgen zur Uni fahren, ihnen die Wäsche waschen, die Zimmer aufräumen, ihnen Obdach geben und für sie Bausparverträge und Versicherungen abschließen.

Metaphorisch steht dafür das Fahrrad.

Während meine Generation im Grundschulalter irgendein altes gebrauchtes Rad in die Hand gedrückt bekam und dann zusehen konnte wie es zur Schule kam, fährt Muttern heute nicht nur in zehn Meter Abstand mit ihrem Panzer-SUV-hinterher, sondern das Rad kostet 2.500 Euro, ist vollgestopft mit Sensoren und Reflektoren. Das Kind trägt Knieschützer, einen ergonomischen Helm und wie ich gerade hörte, ist es in Hamburger Schulen sogar üblich eine polizeiliche Fahrradschulung zu bekommen. Dafür gibt es extra Fahrradpolizeieskorten, die die kleinen Racker die dreihundert Meter vom heimischen Gartentor bis zum Klassenraum begleiten, um ihnen genau zu zeigen, wo man klingeln, anhalten und sich umgucken muss.   Verrückterweise gewöhnt man sich schon so an das Bild radfahrender Kinder, die vorher erst dutzende spezielle Ausrüstungsgegenstände anlegen müssen, daß man empört ist, wenn man ausnahmsweise irgendwo noch ein Kind ohne Helm in die Pedale treten sieht und dessen Eltern für unverantwortlich hält.

Wie konnten nur die Generationen zuvor ihre Kindheit überleben, die ohne Radwege, Polizeischulung und ergonomische Helme stattfand?

Das Fahrrad wurde von einem simplen Fortbewegungsgegenstand zu einer Ideologie mit milliardenschwerer Zubehörindustrie.

Ich versuche mich gar nicht erst in die Teenager von heute hineinzudenken. Inzwischen bin ich fast zwei Generationen von ihnen entfernt und verstehe nicht, wie es sich anfühlt in einer Welt  zu leben; voller todbringender Gefahren (allein leben, Fahrrad) und dramatischer Abhängigkeit von Personal, das einem die Wäsche hinterher trägt, kocht und das Bad putzt.

Ich verstehe nicht wie es dazu kommen konnte.

Ich verstehe insbesondere nicht, wie diese asoziale, kriegerische, sich klimatisch drastische verändernde Welt mit Pandemie, bröckelnder Demokratie, 70 Millionen Flüchtlingen und sich überall erhebendem Rechtspopulismus dazu kommen konnte, daß Teenager in Deutschland nicht nur desinteressiert an Politik sind, sondern auch noch mit deutlicher Mehrheit wünschen, Angela Merkel bliebe weiterhin Kanzlerin. Eine repräsentative Fischerappelt-Umfrage unter 16-19 Jährigen ergab, daß unfassbare 82% Merkel gut finden. Sie ist beliebteste Politikerin bei den Teens. Auf Platz Zwei folgt Markus Söder!

[…..] Diese Generation ist mit Kanzlerin Angela Merkel groß geworden. Dem Ende dieser Ära sehen viele Jugendlichen nun skeptisch entgegen. Auf die Frage, wie sie zum anstehenden Führungswechsel stehen, antworteten rund 40 Prozent »Finde ich eher schlecht« oder »Finde ich schlecht«. Nur 21 Prozent können dem Abgang Merkels etwas Positives abgewinnen. [….]

(Spon, 18.04.2021)

Sie haben solche Angst vor Veränderungen, daß sie sich wünschen, die konservative CDU-Frau, die 16 Jahre Klimapolitik und Digitalisierung verschlief, dafür die Industrielobby pamperte und die Ehe für alle bekämpfte, dürfe keinesfalls abtreten.

Das ist in der Tat ein drastischer Unterschied zu vorherigen Generationen.   Oh wie sehr wünschten wir und neue politische Führungen herbei!

Zwischen Nachrüstungs-Demo, Anti-AKW-Aktionen und Engagement gegen die drohende Volkszählung von 1987 (Orwell läßt grüßen) diskutierten wir unablässig über die parteipolitische Lage, waren elektrisiert von den neu entstandenen Grünen und redeten uns die Köpfe darüber heiß mit welchen Kandidaten man endlich Helmut Kohl aus dem Kanzleramt werfen könnte.

Die schlimmsten Datenbefürchtungen, die ich in den 1980ern bezüglicher der 1987 anstehenden Volkszählung hatte, multipliziert mit 1.000 sind heute das, was jeder Teen ohnehin gern und freiwillig über sich preisgibt.

Die Grünen sind etablierte, disziplinierte Status-Quo-Bewahrer, die sich an die Seite der CDU wünschen.   Die „Jugend von heute“ interessiert das alles aber so wenig, daß sie noch nicht mal die Namen der Toppolitiker kennen.

[….]  Mehr als die Hälfte der Jugendlichen gab an, weder Robert Habeck noch Annalena Baerbock zu kennen, oder »keine Ahnung« zu haben, wer die Grünen in die Bundestagswahl führen sollte. Bei den Jugendlichen, die mit der grünen Spitze vertraut sind, liegen beide gleichauf, jeweils zehn Prozent würden sich Baerbock oder Habeck im Kanzleramt wünschen. Aber: Auch hier wollten immerhin 25 Prozent der Befragten weder Baerbock noch Habeck.    Auch bei der Bewertung einzelner Politikerinnen und Politiker zeigt sich, wie präsent Angela Merkel in der jüngeren Generation ist. Sie ist nicht nur mit Abstand die bekannteste unter den abgefragten Repräsentanten, sondern auch die beliebteste. 82 Prozent der Jugendlichen gaben an, Angela Merkel »okay« oder »gut« zu finden. Auf Platz zwei folgt der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder: Ihn finden immerhin 44 Prozent gut, 32 Prozent kennen ihn nicht. [….]

(Spon, 18.04.2021)

Die Heute Show zeigte vorgestern wie Jugendliche auf TikTok Markus-Söder-Fan-Videos verbreiten.

No Hope For The Human Race.

Samstag, 17. April 2021

Ey, Anne Will!

Journalismus macht Spaß im Moment. Ich empfinde die großen ausführlichen Wochenendgeschichten der großen Periodika zum Thema „Laschet vs Söder“ sehr erhellend und kurzweilig.

Insbesondere, wenn man bedenkt, daß die CDUCSU inzwischen über keinerlei erkennbare Programmatik verfügen, sondern einzig als devote Lobby-Erfüllungsgehilfen agieren.

Ist es nicht ausgesprochen kurios, wie sich ausgerechnet Corona-Versager Markus Söder vom Urnenpöbel als besonders Pandemie-Kompetent eingeschätzt wird?
Bayerns aktuelle Inzidenz liegt bei 182, die drei konservativen Freistaaten Sachsen, Bayern und Thüringen haben die schlechtesten Pandemie-Zahlen aller 16 Bundesländer, obwohl die dicht bevölkerten Staatstaaten erheblich schwierigere Bedingungen aufweisen.

Die Intensivstationen in den Freistaaten sind schon so überlastet, daß Corona-Patienten beispielsweise nach Hamburg geflogen werden müssen.

Der CSU-Chef gilt den Deutschen als Kanzler-tauglich, weil sie seine klare Linie schätzen. Ausgerechnet!

[….] "Wir wollen die dritte Startbahn, weil Bayern ohne sie langfristig große Nachteile bekommen wird." (2017)

"Da ist es aus meiner Sicht völlig illusorisch zu glauben, dass jetzt eine dritte Startbahn benötigt würde, noch, dass das in den nächsten acht bis zehn Jahren stattfinden kann." (2020) [….]

"Wir brauchen zunächst eine Art Bestandsschutzklausel für Länderkompetenzen. Es darf keinen weiteren Eingriff in Länderkompetenzen durch den Bund geben. (...) Der Föderalismus wird ausgehöhlt, und das belastet das Miteinander."  (2019)

"Ich hätte mir mehr Kompetenzen des Bundes über das Infektionsschutzgesetz vorstellen können, das die Länder auch zu klaren Regeln zwingt. Ich bin da sehr dafür und offen." (2021) [….]

(Markus Söder)

Kein Politiker ist so opportunistisch/populistisch wie Söder. Der Mann hat gar kein Rückgrat und vertrat zu allen von ihm behaupteten Thesen genauso vehement auch das Gegenteil dessen.

[…..] Söder hat noch vor Kurzem Kreuze an Behörden-Wände nageln lassen, weil er sich als Leitkultur-Hengst etablieren und gegen den Islam positionieren wollte. Populistisch und schädlich war das, in einem Land, in dem Religion und Verwaltung nichts miteinander zu tun haben dürfen. Er sprach im überaus hässlichen AfD-Slang von „Asyltourismus“, ganz so, als sei Flucht eine Variante von TUI-All-Inclusive, weil er meinte, ganz rechts seien wichtige Stimmen zu holen. Söder, so hat es die Autorin einer Söder-Biografie im „Spiegel“ sehr deutlich zusammengefasst, sei prinzipienlos, überehrgeizig, unsympathisch und ein Opportunist. Und die Leute lieben ihn zurzeit. […]   Das liegt wahrscheinlich daran, [….] daß Söder, der Erfinder der „Bavaria One“, einer bayerischen Weltraummission mit seiner Visage als Logo (!), sein gewaltiges Ego im vergangenen Jahr in eine für ihn perfekt passende Form gießen konnte: die des [….] Pandemie-Managers. [….]

(Mopo Chefredakteur Maik Koltermann, 17.04.2021)

Fünf Mal lud ihn die konservative Anne-Will-Redaktion 2020 in die wichtigste Talkshow, um an seinem Image zu feilen.

Nun ist Söder trotz seiner nicht vorhandenen Glaubwürdigkeit ein mächtiger Mann. Als Ministerpräsident und Chef einer der drei Groko-Parteien, redet er ein Wörtchen mit.

Man kann also argumentieren, daß er zwar im Gegensatz zu Karl Lauterbach über kein Fachwissen verfügt und daher nichts Erhellendes zur Pandemie beitragen kann, aber er ist ein bedeutender politischer Entscheidungsträger.

Schlechter Journalismus bleibt es dennoch, wenn man so einem Dampfplauderer immer wieder zur besten Sonntags-Abend-Sendezeit den Roten Teppich ausrollt, um sich zu inszenieren.

Vollkommen unsinnig hingegen ist Anne Wills Vorliebe für den AFDP-Chef Lindner, der ebenfalls in schöner Regelmäßigkeit bei ihr seinen opportunistischen Senf dazu gibt.

Christian Lindner hat in seinem politischen Leben, das immerhin auch schon 20 Jahre währt, noch bei jeder Prognose und Personalentscheidung vollkommen danebengelegen.

Sein Davonlaufen als FDP-Generalsekretär, nachdem er den total ungeeigneten Außenminister Westerwelle gepuscht hatte, der Rückzug von Jamaika, Linda Teuteberg, Kemmerich, die Feststellung FFF solle den Klimawandel Fachleuten wie ihm überlassen – es ist schon fast ein Gesetz: Wenn Lindner etwas ankündigt, wird das diametrale Gegenteil passieren.

Er ist aber nicht nur ein eitler Mensch ohne politische Urteilskraft; denn damit wäre er bloß ein schlechter, aber irrelevanter Politiker; sondern er ist gefährlich.

Lindner sucht immer wieder den Schulterschluss zu den Covidioten, stimmt zusammen mit der AfD ab, übernimmt rechtspopulistische Rhetorik.

Zur Freude Gaulands und Weidels übernahm er in der vergangene Woche deren Drohung gegen die von Merkels „Notbremsenplan“ vorgesehenen Ausgangssperren sofort zum Bundesverfassungsgericht zu rennen.

[….]  Merkel nannte den Plan zur gesetzlichen Notbremse verhältnismäßig und notwendig. Die Opposition widersprach aus unterschiedlichen Gründen. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel nannte die Mittel der Regierung primitiv und bezweifelte die Aussagekraft von Corona-Tests.  [….]   FDP-Chef Christian Lindner kündigte vorsorglich eine Verfassungsbeschwerde gegen mögliche Ausgangssperren an. [….]  (Tagesschau, 16.04.2021)

Die Bundesnotbremse, die laut einhelliger Meinung fast aller Virologen und Krankenhausärzte zu schwach und zu spät kommt, will Lindner Hand in Hand mit den hysterisch völkischen AfD-Extremisten aufhalten.  Lindner schert sich nicht um die Opfer der Pandemie, um die überfüllten Intensivstationen, um die Myriaden Ärzte, Schwestern und Pfleger, die in die grauenhafte Triage-Falle gejagt werden.

Lindner profitiert vom Corona-Chaos, von Frust und Tod, da er daraus sein populistisches FDP-Süppchen kocht.

Durchaus erfolgreich: Die FDP liegt bei der Sonntagsfrage wieder um die 11%

Christian Lindner betätigt sich inzwischen als geschulter Demagoge, streut gezielt Falschinformationen.

[….] Christian Lindner kritisiert wieder und wieder die geplante Notbremse der Bundesregierung. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, nutzt die Chance im Bundestag und macht dem FDP-Chef eine klare Ansage.

 

  Lauterbach hat genug von Lindners ewigem Protest – und macht das im Bundestag mehr als deutlich: „Mit dieser Haltung, das wir uns hier gegenseitig kompliziert erklären, was alles in Deutschland nicht funktioniere, was aber im Ausland funktioniert hat – mit dieser Debatte kommen wir nicht weiter“, sagt der SPD-Politiker an Lindner gerichtet.  Er appelliert an die FDP, genau wie an alle anderen Parteien: „Wir brauchen Pragmatismus und keine Gegenseitige Aufklärerei, was alles nicht funktioniert.“ Er bitte darum, dass man in der Ausgangssperre eine „notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahme“ sehe. Es brauche auch zusätzliche Maßnahmen.  „In keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit einer B.1.1.7.- Mutation noch mal in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht auch das Instrument der Ausgangsbeschränkungen genutzt hätte“, sagt Lauterbach. [….]

(MoPo, 16.04.2021)

Und Anne Will?
Sie geht morgen wieder auf Sendung und lädt zum Thema „Bundesnotbremse“ Peter Altmaier und Christian Lindner ein.

Altmaier ist auch nicht viel kompetenter, aber Mitglied der Bundesregierung und Wirtschaftsminister. Seine Stimme hat qua Amt Gewicht.

Lindner hingegen ist rein destruktiv und überflüssig.

Der Mann hat sich bekanntlich zickig der letzten Bundesregierungsbildung verweigert und sitzt nun machtlos in der Opposition.

Freitag, 16. April 2021

Nicht jammern, Mieter!

Der aus Süddeutschland stammende Politikwissenschaftler Prof. Thomas Biebricher forscht und lehrt an der der Copenhagen Business School (CBS) und gilt als Koryphäe für den deutschen Konservatismus.

Seine letzten Buchtitel lauten: „Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus“ (2020), „Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ (2019), „Die politische Theorie des Neoliberalismus“ (2021).

Biebricher sieht die CDU/CSU derzeit in einer gewaltigen Krise und gibt im SPIEGEL-Interview mit Susanne Beyer interessante Denkanstöße dazu.

Nur eins versteht er nicht; wieso profitiert die SPD nicht von dem totalen CDU-Chaos und der sagenhaften Unfähigkeit der Unions-Minister?

[….] Es trägt zur Brisanz der Situation bei, dass die Union sehr ermüdet wirkt und in den Augen der Wählerinnen und Wähler an Attraktivität eingebüßt hat, ohne dass irgendjemand anders sich klar als Alternative herauskristallisiert: Ich kann es nicht genau sagen, warum die SPD so gar nicht von der Schwäche der Union profitiert, denn sie macht ja seit Jahren gute Regierungsarbeit. [….]

(Th. Biebricher, 14.04.2021)

Ich könnte vielleicht weiterhelfen: Der deutsche Urnenpöbel ist unrettbar strukturkonservativ und verzeiht der CDU/CSU die hundertfache Skandal-Quantität, für die er die SPD auf Jahrzehnte ächten würde.

„Der Wähler“ zeigt sich gerade wieder von seiner allerdümmsten Seite.

Auf das totale CDUCSU-Chaos, die feste Umklammerung der CDU durch die erzkonservativen Grünen, die fassungslos machende Unverantwortlichkeit des Nichtstuns reagiert er wie folgt:

 [….] Vom Personalgerangel in der Union können die anderen Parteien aber bislang offenbar kaum profitieren. Wäre am Sonntag Bundestagswahl, würden derzeit 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler CDU oder CSU ihre Stimme geben. Das bedeutet eine leichte Verbesserung zu den Ergebnissen Ende März, als die Union zwischenzeitlich nur noch bei 27 Prozent lag und infolge der Maskenaffäre und mehrerer Abgeordneten-Rücktritte beinahe täglich neue Negativschlagzeilen machte.

Die SPD rutscht von zuletzt 16, zeitweise sogar 17 Prozent wieder tiefer in den Umfragekeller auf nunmehr 14 Prozent. Zweitstärkste Kraft würden der Erhebung zufolge weiter klar die Grünen mit 23 Prozent. Bei ihnen hat sich das Ergebnis ebenso wie bei AfD, FDP und Linken nicht oder nur minimal verändert. […..]

(Spon, 14.04.2021)

Was man von den konservativen Parteien erwarten kann, zeigte heute das Bundesverfassungsgericht klar:

Die CDUCSU- und die FDP-Bundestagsfraktionen klagten gegen den RRG-Mietendeckel in Berlin und bekamen Recht.   Der Deckel ist ab sofort hinfällig; Hunderttausende Mieter müssen deftige Nachzahlungen fürchten, Immobilienspekulanten jubeln.

[….] Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel gekippt hat, haben am Donnerstagabend mehrere tausend Menschen gegen das Urteil und für eine Veränderung in der Wohnungspolitik protestiert. Nach Tagesspiegel-Schätzung versammelten sich zum Auftakt rund 10.000 Menschen. Die Polizei sprach zunächst von einer Teilnehmer:innenzahl im unteren vierstelligen Bereich, der Veranstalter von 15.000 Teilnehmer:innen. [….]

(Tagesspiegel, 16.04.2021)

Dabei musste sich das BVG gar nicht mit den Berliner Details befassen; im Gegenteil, politisch ist noch Luft für einen viel strengeren Mietendeckel.

Das Problem ist aber das existierende Bundesgesetz, die Groko-Mietpreisbremse, die von der CDUCSU extrem verwässert wurde.

Die SPD kämpfte hart dafür viel mehr für die Mieter zu erreichen, konnte sich aber selbstverständlich nicht vollständig durchsetzen, weil der Urnenpöbel sie mit 20% zur sehr viel kleineren Groko-Partei gemacht hat. Lieber wollte der Urnenpöbel einen größeren Einfluss der CDU und CSU.

Als Hamburg 2011 die Grün-Schwarze Landesregierung loswurde – mit den Grünen war der soziale Wohnungsbau in der Hansestadt komplett aufgegeben worden, es wurde keine einzige Sozialwohnung mehr gebaut – konnte in der SPD-Alleinregierung von 2011-2015 sofort ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm gestartet werden. Scholz ließ jährlich 10.000 Wohnungen bauen – das sind pro Kopf mehr Wohnungen als in jedem anderen Bundesland.

Das ist aber das einzige, das Länder tun können.   Der Bundesbauminister heißt Seehofer und lässt nicht nur gar nicht bauen, kümmert sich überhaupt nicht um günstigen Wohnraum, sondern agiert durch das wässrige Mietpreisbremsen-Bundesgesetz noch viel perfider: Damit blockiert er nämlich jede Einflussnahme der SPD-geführten Bundesländer auf die Mieten.

Bundesrecht schlägt Landesrecht.

Die CDU und CSU steht fest an der Seite der Immobilienspekulanten und ist daher auch glücklich über den kräftigen Tritt des BVG in die Magengrube von Millionen Mietern: Nun können sie von Immobilienhaien wieder richtig ausgenommen werden.

[…..] Bundesbauminister Horst Seehofer (CSU) begrüßte das Ende des Mietendeckels, der "der völlig falsche Weg" gewesen sei. "Er hat für Unsicherheit auf den Wohnungsmärkten gesorgt. Investitionen ausgebremst und keine einzige neue Wohnung geschaffen." [….]

(SZ, 16.04.2021)

[…..] „Ich war erleichtert heute, dass das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel verworfen hat“, sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) in einer Pressekonferenz. Die Entscheidung sei ganz wichtig gewesen, weil der Eindruck entstanden sei, dass mit diesem Mietendeckel der Staat immer mehr und immer stärker in die privatwirtschaftliche Gestaltungsfreiheit eingreife. „Wir alle wollen, dass es bezahlbaren Wohnraum gibt. Das geht aber nicht durch Deckelung“, so Altmaier weiter. [….]

(BZ, 15.04.2021)

Traditionell stehen CDU, CSU und FDP fest an der Seite der Immobilienspekulanten.   Sie waren es, die in Bund und Ländern (Berlin! Diepgen!) Millionen im Staatsbesitz befindliche Wohnungen an Konzerne wie Vonovia vertickten.

Wir wissen auch genau, wieso sich CDU/CSU so für die Immobilienmilliardäre einsetzen.

[….] Lobbyismus: Immobilienwirtschaft ist größter CDU-Spender   [….] Die Immobilienwirtschaft hat im Jahr 2020 mehr als 1,25 Millionen Euro an die CDU gespendet. [….] Demnach kommen fast 80 Prozent der veröffentlichten Parteispenden an die CDU inzwischen von Bau- und Immobilienunternehmern. Erstmals machten sie den größten Anteil aus. Zu den Einnahmen zählen mehrere Großspenden von Bauunternehmern und Immobilienhändlern zwischen 70.000 Euro und 800.000 Euro. Die Berechnungen lagen dem SPIEGEL vorab vor.   Seit 2000 hätten die Unionsparteien 5,4 Millionen Euro aus diesem Sektor erhalten, so die Linksfraktion. [….]

(SPON, 16.04.2021)

Der Urnenpöbel hat es in der Hand. Er kann sich für den Kanzlerkandidaten entscheiden, der Scholz heißt, der als Bürgermeister Myriaden Wohnungen bauen ließ, dessen Partei sich wirklich für bezahlbaren Wohnraum einsetzt.

Oder er kann auf Laschet/Söder setzen, die den Mietendeckel blockieren, sozialen Wohnungsbau stoppten und als Lobbyhuren der Immobilienwirtschaft passende Gesetze für Spekulanten machen.

Der Urnenpöbel möchte offenbar lieber letzteres und macht in allen Umfragen die CDUCSU doppelt so stark wie die SPD. Bei der Forschungsgruppe Wahlen legte die CDU heute kräftig auf 31% zu, die SPD liegt bei 14%.

Also nicht jammern, wenn man keine Wohnung findet und die Mieten durch die Decke gehen. Der Urnenpöbel hat es in der Hand und will es so!

Donnerstag, 15. April 2021

Amerikas Amerika

Es ist inzwischen eine Binsenweisheit; die USA sind tief gespalten. Das demokratische Amerika und das Trumpmerica haben kaum noch Berührungspunkte. Man kann sich über nichts einigen, geht sich konsequent aus dem Weg, misstraut sich gegenseitig zutiefst. Eine Seite akzeptiert noch nicht einmal die US-Verfassung oder auch nur die schlichte Realität; muss das auch nicht, weil sie in einer außerhalb der Wirklichkeit operierenden Medienblase existiert.

 
Die beiden Amerikas haben sogar jeweils eigene Sportarten, eigene Musik, Mode und Autos.

Es gibt nur noch wenige gemeinsame Nenner. Da sind zum Beispiel der Exzeptionalismus und das damit verbundene Desinteresse am Rest der Welt.

Auch Demokraten wissen so gut wie nichts über die Geschichte anderer Nationen, haben keinerlei geographische Kenntnisse.

Die offene und pathetische Religiosität ist ebenfalls auf beiden Seiten der Politik immanent. Christen und Pfarrer werden hartnäckig als positiv assoziiert, Ungläubige verachtet. Mit größter Selbstverständlichkeit beendet auch jeder demokratischer Politiker seine Rede mit „God bless America!“

Schließlich ist da noch das hysterisch positive Verhältnis zur Armee.

Jedem Uniformierten wird mit Ehrfurcht begegnet. Stellt sich ein Kandidat einer Realityshow als Veteran vor und erzählt, er habe zwei Jahre als Army-Sergeant in Fort XY gedient, brechen 99,99% aller Amerikaner pawlowsch in devotes „thank you for your service“ aus.

Taucht in irgendeiner Nachrichtengeschichte ein ehemaliger Armee-Angehöriger als Zeuge, als Opfer oder auch nur am Rande Beteiligter auf, leuchten jedem Journalisten von ganz links bis ganz rechts die Augen und es wird die gesamte Klaviatur der positiven Konnotation abgespielt: besonders ehrenhaft, glaubwürdig, qualifiziert, treu.

Man kann sich um kein politisches Amt bewerben, ohne unablässig zu bekunden, sich ganz und gar den Anliegen „our troops“ zu verschreiben.

Selbst die radikalsten deficit hawks nicken jede Erhöhung des Militär-Etats ohne zu zögern ab.

Die exorbitanten US-Militärausgaben sind legendär.

Die Mädels und Jungs schwimmen im Geld. Das amerikanische Militär bekommt so viel Geld wie alle Militärausgaben der nächsten elf Nationen zusammen.

Armee-Angehörige werden nicht nur bewundert, sie erhalten auch zahllose Privilegien, wie zum Beispiel eine Krankenversicherung für die gesamte Familie – davon können die meisten Angestellten in den USA nur träumen. Dazu kommt sechs Mal so viel Urlaub wie normale Amerikaner und eine Fülle finanzieller Privilegien.

Sie bekommen fast überall Rabatte und werden bevorzugt behandelt.

[….] You may be surprised by the range of benefits you'll receive in the Army. We offer 30 vacation days, comprehensive healthcare, housing, cash allowances to cover the cost of living, money for education, family services, and even career support after you serve. […..]

(GoArmy.com)

Ich würde gern einen US-Politiker-Kandidaten wählen, der mir sagt, er bemüht sich um jeden anders als Army-Veterans. Denn die leben ohnehin auf der Sonnenseite des Systems und haben am wenigsten Bedarf an zusätzlichen Wohltaten.

Sicher, die US-Army wurde in den 1940ern dringend in Europa gebraucht und noch es existieren durchaus Völkermord-Situationen, in denen eine funktionierende "schlagkräftige" Armee gebraucht wird.

Man denke nur an die serbischen Genozide auf dem Balkan der 1990er Jahre oder das Abschlachten der Jesiden, als das Kalifat große Teile Syriens und des Iraks besetzte.

Annegrets Gurkentruppe hätte da nichts ausrichten können. Dafür braucht man schon fähige Militärs wie die Russen, Israelis oder eben Amerikaner.

Ihr eigentliches Handwerk, den Krieg, beherrschen die US-Soldaten allerdings nicht mehr.

Nach 1945 haben sie eigentlich jede größere militärische Auseinandersetzung verloren.

In Vietnam und Korea bekamen sie von technisch und finanziell hoffnungslos entlegenen Verlegenheitssoldaten voll aufs Maul.

Die Irakkriege führten bloß zu einem gewaltigen Chaos mit Millionen Toten.    Hätte man mal lieber Saddam Hussein den Irak beherrschen lassen.  Damals gab es keinen Terrorismus, religiöse Toleranz und schon gar keine Millionen zivilen Opfer.

Diese Woche kündigt Joe Biden an zum 11.09.2021 nach genau 20 Jahren alle Truppen aus Afghanistan abzuziehen.

Klar, die Bundeswehr muss dann auch gehen. Allein wären sie völlig hilflos und würden binnen Tagen überrannt. Bekanntlich verfügt Deutschland mit seinen mickrigen 50 Milliarden, also 50.000 Millionen Euro jährlichen Militärausgaben über so gut wie keine flugtauglichen Maschinen, schon gar nicht Truppentransporter oder Raketenabwehrsysteme.

Wenn die US-Army abzieht, müssen AKKs Jungs an deren Rockzipfel mitgehen.

Die US-Afghanistan-Bilanz nach zwei Dekaden und einigen Trillionen versenkten Dollar – so viel, daß man jedem einzelnen Afghanen, vom Greis bis zum Säugling auch eine halbe Million Dollar in die Hand drücken könnte – ist einfach zu ziehen:
Eine blamable militärische Niederlage.

Ohne die Amerikaner werden die Taliban das Land in ca zwei Jahren wieder vollständig unter Kontrolle haben.

Afghanistan ist heute chaotischer und mörderischer denn je.

Im ersten Quartal 2021, Januar, Februar, März; gab es 30% mehr zivile Opfer des Krieges als im Vorjahr -  570 Tote und 1210 Verletzte. In drei Monaten.

Tolle Leistung, US-Army.