„Meine Zeit“ waren die 80er, weil ich damals Teenager war und die Kultur der Adoleszenzphase besonders prägend ist. Deswegen mögen wir „Coming of Age“-Bücher/Filme so sehr. Aber es gab auch ein Leben vor den 80ern. In den 70er Jahren war ich Kind und absolvierte die Interessens-Phasen, die viele Blagen der Zeit damals durchmachten. Lesen, Fahrradfahren, Lego, Playmobil, draußen spielen. Ganz toll fand ich einen kleinen Emaille-Ofen. Mein Kinder-Teeservice aus der Zeit habe ich, nach einem halben Jahrhundert des Einstaubens, tatsächlich erst vor ein paar Wochen endgültig weggeworfen.
Besonders gern fuhr ich mit dem Fahrrad „ins Dorf“; also den Ladenzeilen, die zwei km weiter von unserer reinen Wohngegend entfernt angesiedelt waren.
Am Bahnhof war nämlich „die Post“ und in der heißen Phase meiner Briefmarken-Sammelleidenschaft wußte ich genau, wann Sondermarken herauskamen, die ich versuchte zu bekommen. Natürlich waren die nicht immer vorrätig und so musste man oft dahin, um in der Warteschlange zu hoffen. Dabei studierte ich immer die RAF-Fahndungsbilder und prägte mir die Namen ein. Baader, Meinhof, Ensslin, Klar, Mohnhaupt, Möller. Ehrfürchtig gruselte ich mich vor den Terroristen.
So sahen also Verbrecher aus. Sogar die Vornamen Gudrun, Brigitte und Irmgard deuteten für mich schon auf die kriminelle Energie hin. Die Allerschlimmsten von ihnen sah man in der Tagesschau auch in bewegten Bilder. Das waren die „Mutmaßlichen“. Lange bevor mir die wahre Bedeutung des Wortes bewußt wurde, hielt ich „mutmaßlich“ für die maximale Steigerung des Teuflischen. Das waren keine normalen Räuber oder Schläger. Nein, „mutmaßlich“ wurden nur die Allergefährlichsten in den Nachrichten genannt. Vor denen fürchtete sich die ganze Welt.
Wer das Missverständnis aufklärte, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich noch an das unbefriedigende Gefühl. Wieso wurde so vorsichtig von ihnen geredet und wieso durfte man so einen Fahndungsaufwand betreiben, wenn die Leute nur vielleicht irgendwas getan hatten?
Als wir in der Oberstufe Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ lasen (im Anschluss an Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ – seltsame DDR-Literatur), stolperte ich immer noch über das böse Wort „mutmaßlich“, weil es extrem negativ konnotiert wird:
Anführer Attentäter Betrüger Brandstifter Dealer Dieb Drahtzieher Drogendealer Drogenhändler Einbrecher Entführer Erpresser Extremist Haupttäter Islamist Kinderschänder Komplize Kriegsverbrecher Mitglied Mittäter Mörder Opfer Schütze Spion Terrorhelfer Terrorist Täter Täterin Unterstützer Vergewaltiger.
Heute freue ich mich hingegen, wenn ich in Artikeln über aktuelle Geschehnisse ausdrücklich lese, es handelte sich um Mutmaßungen.
Denn damit geht nicht nur ein juristischer Schutz der bis zum Beweis des Gegenteils Unschuldigen einher, sondern es deutet auch auf verantwortungsvollen Umgang mit Quellen hin. So sollte Journalismus eigentlich funktionieren: Nur wenn eine Tatsache gründlich recherchiert und gegengecheckt wurde, kann über sie als Fakt berichtet werden. Alles, das man nur hört, das irgendjemand anders gesagt hat, das bei Wikipedia steht, ist lediglich möglicherweise eine Tatsache. Vielleicht. Eventuelle. Ein konkreter Verdacht, ist eine Mutmaßung. Mutmaßlich hat Ministerin Warken gelogen, der CDUCSU-Fraktionsvorsitzende Spahn ist mutmaßlich ein Lügner.
Ein Internetblog liegt auf der Seriositätsskala unter dem Profi-Journalismus. Hier wird nicht scharf zwischen Reportage und Meinung unterschieden.
Hier verlinke ich zwar immer die Fakten, damit jeder selbst nachprüfen kann, aber es wird mit meiner Meinung angereichert und die Sprache darf auch derber sein. Die CDU folgt bei Frauke Brosius-Gersdorf mutmaßlich einer radikal misogynen Agenda. So muss es in der Zeitung heißen. Im Blog kann ich auch schrieben „die CDU ist eine frauenfeindliche Partei“ oder „Merz ist ein dummerhafter Prahlhans“.
Die Tagesschau wird zum Glück vom Beitragszahler finanziert und muss hohe journalistische Standards einhalten, um ihrer ohnehin schwer angeknacksten Gatekeeper-Funktion gerecht zu werden.
Die ARD darf nichts behaupten, dessen sie sich nicht absolut sicher ist. Es sei denn, sie kennzeichnet es ausdrücklich als Spekulation, bzw Mutmaßung.
Es ist nicht hinnehmbar, daß jemand, der so häufig wie Markus Söder lügt, immer leichter damit durchkommt, weil „seriöse“ Medien ungeprüft seine Bullshittereien nachplappern.
[…..] Markus Söders Fleischlüge. […..] Immer wieder behauptet der CSU-Chef, die SPD habe bei den Koalitionsverhandlungen „nur veganes Essen“ serviert – und Medien berichten das. Aber kann das wirklich sein? Wir haben mal nachgefragt. […..] Vermutlich braucht Markus Söder einfach ein neues Feindbild. Das ständige Schimpfen auf die Grünen wird halt irgendwann langweilig. Also ist jetzt die SPD dran.
Der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident macht sich aber nicht einmal die Mühe, sich etwas Neues auszudenken. Was beim Lästern über die vermeintliche „Verbotspartei“ funktioniert, zieht auch beim Sticheln gegen die Genossen. Und so fokussiert sich Söder auch hier auf das Thema Fleisch. Genauer gesagt: auf angeblichen Fleischverzicht.
Seit Wochen tourt Markus Söder durchs Land und behauptet bei verschiedenen Veranstaltungen öffentlichkeitswirksam, bei den Koalitionsverhandlungen im Hause SPD sei die Stimmung stets am schlechtesten gewesen. Der Grund? Es habe immer nur „veganes Essen“ gegeben. Ein Thema, mit dem sich leicht Politik machen lässt. Und Schlagzeilen. […..] Beim „Schweinefest“ im bayerischen Viechtach sagte Söder im Mai:
„Bei der SPD gab es immer veganes Essen, immer miese Stimmung. Bei der CDU gab es ordentliches, aber zu wenig Essen. Aber wir: Ich habe immer auftischen lassen! Es ging in der Früh mit Weißwurst los. Dann gab es Schweinsbraten, Leberkäs.“
[…..] "Focus"-Schlagzeile: Söder spottet über SPD: "Da gab's immer veganes Essen, immer miese Stimmung"[…..] Vergangene Woche wiederholte Söder die Behauptung im Gespräch mit „Welt“-Chefredakteur Jan Philipp Burgard und nannte es: „Saskia-Esken-Küche“. Und auch beim CSU-Bezirksparteitag in Oberfranken gab es großen Applaus, wie der „Fränkische Tag“ berichtet:
„Bei der SPD gab es immer veganes Essen“, berichtete Söder von den Koalitionsverhandlungen. Die Folge: „miese Stimmung.“ Applaus im Saal. […..] Alle lassen Söder reden und berichten munter drüber, aber niemand fragt sich, ob das denn überhaupt stimmen kann: Kein Fleisch bei der SPD? […..] Wir haben beim SPD-Parteivorstand nachgefragt, ob die Koalitionsverhandlungen tatsächlich so fleischlos waren, wie Söder behauptet. Die Antwort der Pressestelle – wenig überraschend: Nein, zu den Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus wurde auch Fleisch serviert. […..] Doch das interessiert Markus Söder wenig. Hauptsache, er kann Stimmung machen. Seine Fans lieben ihn dafür. Und Journalisten fressen die kleine Fleischlüge brav aus der Söder-Hand. […..]
Söders Lügen nachzuäffen, ist nicht bloß eine journalistische Nachlässigkeit, sondern Puzzlestein zum Untergang der Demokratie. Söder und Merz sind gefährlich. Da dürfen TV-Nachrichten und Zeitungen niemals leichtfertig sein.
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