Das ist wirklich einem Arbeitskollegen meines Vaters so
passiert.
Er hatte eine deutlich jüngere Frau geheiratet und deren
dämliche Freundinnen hingen ständig bei ihnen rum. Eine davon war eine
hoffnungslos chaotische Person. Schule abgebrochen, dem Alkohol zugetan, alle
drei Tage eine neue Affäre. Eines Tages erschien sie völlig aufgelöst, war
schwanger und pleite. Wer der Kindsvater sein könnte, war unklar. Was sie denn
nur tun solle. Da sie nicht im Entferntesten in der Lage war, auch nur
für sich selbst zu sorgen, empfahl ihr der Kollege meines Vaters, rational
abwägend, lieber abzutreiben. Man verlor sich aus den Augen bis einige Jahre später die
junge Dame wieder bei ihnen klingelte, einen entzückenden drei-jährigen Jungen
an der Hand hielt und mit den Ratgebern von früher abrechnete: „Kevin ist mein
ein und alles! Das liebste Kind der Welt und IHR WOLLTET DAMALS, DASS ICH IHN
TÖTE!“
Die Moral von der Geschichte: Rate niemals einer
Schwangeren, was sie tun soll. Man kann es nur falsch machen.
Inzwischen habe ich eine ähnliche Story mit ganz anderen
Protagonisten gehört. Die Bekannte der Cousine meiner Nachbarin. Oder so. Vielleicht
kommt es öfter vor, daß mit der
Entscheidung für oder wider Kind, schlecht beratene Frauen sich später bitter
beklagen. Vielleicht ist es auch nur ein urbaner Mythos wie die Spinne in der
Yucca-Palme.
Die vollkommen wahnsinnigen US-Republikaner mit ihrem „Don’t say gay“-Gesetz und ihrem Vorhaben,
Schwangerschaftsunterbrechungen unter drakonische Strafen zu stellen, stellen
diese Grundsatzfragen wieder auf die Tagesordnung. Weiße alte Männer sollen über
den Körper einer jungen Frau entscheiden. Ich hatte schon vor Jahrzehnten
gedacht, die Moraldebatte über Abtreibungen wäre endgültig entschieden.
Drei Aspekte sind und waren dabei für mich immer entscheidend:
1.) Was mit ihrem Uterus zu geschehen hat, geht nur die Besitzerin des Organs
etwas an.
2.) Weltweit zeigen die Erfahrungen, daß es bei liberalen
Gesetzen und offener Sexualaufklärung sehr viel weniger Abtreibungen gibt, als
bei drakonischen Gesetzen, weil dadurch Schwangere so unter Druck gesetzt
werden, daß sie sich nur noch darauf konzentrieren, wie man einen Abbruch
überhaupt bewerkstelligen kann.
3.) Bei einer
Schwangerschaftsunterbrechung wird eben kein Kind getötet, sondern ein kleiner
Zellhaufen nistet sich nicht an einer bestimmten Stelle ein. Das ist ein völlig natürlicher Vorgang.
Daher heißt es auch „Gott ist der größte Abtreiber.“
Den Christen sei an dieser Stelle ins Stammbuch
geschrieben, daß auch die meisten menschlichen Embryonen ganz natürlich
absterben, bevor sie geboren werden. Das hat Gott so eingerichtet.
Gott ist somit der größte Abtreiber überhaupt.
Letztendlich läßt er 9 Embryos absterben, um ein Kind zu erzeugen
How many embryos and
fetuses never make it to birth? How many
babies die in natural childbirth? How
many infants die before reaching age five?
The statistics are not good. The
most hazardous journey of life is the first few months. According to the
calculations of Gregory Paul (see his published articles here), who used the
best figures from embryology and neonatal doctors, as few as one-quarter of all
conceptions avoid reabsorption or miscarriage, and of those fetuses that do
make it to full-term, another large percentage die during natural
childbirth. It’s obvious that embryos
are not well-designed for making it to infancy. The female body was
not well-designed for childbirth, either, since the ratio of fetal skull size
to female hip size doesn’t make for great odds for the mother. Every year, more than half a million women
die in pregnancy or childbirth. Natural
evolution, not religion, explains the tough compromises forced on the human
body, and why few embryos make it to infancy and so many mothers die in the
process. Although the odds of a
fertilized egg making it to a live birth are less than 1 in 5, another
hazardous journey through infancy lies ahead.
Before modern medicine, around 20% of children in England and the United
States died before the age of five, and that number was much higher in
pre-industrial societies. For most of
the existence of our human species, over the past one hundred thousand years or
so, probably only around half of all born babies reached the age of five. All these poor odds
add up to the fact that for most of human existence there had to be 10
pregnancies or more to guarantee the life of a single five year old child.
(John Schock, 27.04.2011)
Die Geschichte des Arbeitskollegen meines Vaters habe ich
immer in diesem Sinne verstanden. Es ist ein unlauterer und ungerechter
Vorwurf, irgendjemand habe dafür plädiert, den kleinen süßen Kevin zu töten.
Genau das ist nie passiert, denn als es um die Frage „Abbruch oder nicht“ ging,
existierte kein Leben, kein Kind, kein Kevin. Man diskutierte in einem ganz
anderen System.
Sobald Kevin da ist, erübrigt und verbietet sich
selbstverständlich sofort jede Erörterung, ob er leben darf.
Kein halbwegs anständiger Mensch würde sich anmaßen, über
das Lebensrecht eines existierenden Homo Sapiens zu diskutieren.
Allein schon das Wissen um Kevin verunmöglicht rückwirkend
die Ratschläge zum Thema Abtreibung zu rekapitulieren.
Jede diesbezügliche Überlegung gehört in die Zeit, als
niemand eine Vorstellung von Kevin haben konnte, weil er schlicht nicht
existierte. Dabei ist es unmöglich einen ganz genauen Zeitpunkt anzugeben, an
dem ein Zellhaufen, wie er etwa in einem Ejakulat existiert, ein lebensfähiger
Kevin geworden ist.
In dieser Geschichte gibt es Parallelen zum Umgang mit
Wladimir Putin. Abgesehen von seinen Fans und Freunden unter Europas Rechtspopulisten,
müssen sich auch der Nazi-Hetze völlig unverdächtige Politiker wie Angela
Merkel und Frank-Walter Steinmeier heute heftiger Vorwürfe erwehren.
[….] Die Russland-Politik von Ex-Kanzlerin Merkel steht in der Kritik. Nach
dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj wirft auch Polens Regierungschef
Morawiecki ihr schwere Fehler vor. Nun verteidigte Merkel sich. Altkanzlerin Angela Merkel hat sich trotz massiver Kritik des
ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hinter die Entscheidung gestellt,
die Ukraine 2008 nicht in die NATO aufzunehmen. "Bundeskanzlerin a.D. Dr.
Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel
2008 in Bukarest", teilte eine Sprecherin Merkels der Nachrichtenagentur
dpa mit. [….]
(Tagesschau, 04.04.2022)
Anders als die ehemalige Kanzlerin, die ihre frühere
Haltung rechtfertigt, gibt sich ihr ehemaliger Außenminister fürchterlich
zerknirscht.
[….] Ein
Staatsoberhaupt in der Defensive. Denn seine Entscheidungen aus der
Vergangenheit holen ihn ein: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war
eindeutig ein Fehler“, erklärte er bereits am Montag mit Blick auf die
deutsch-russische Gaspipeline durch die Ostsee. „Wir haben an Brücken
festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere
Partner uns gewarnt haben.“ Seine Einschätzung sei gewesen, dass Putin nicht
den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes
für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen werde. „Da habe ich mich, wie andere
auch, geirrt.“ Am Dienstagmorgen setzte
Steinmeier seine „Beichte“ im ZDF-Morgenmagazin fort. „Wir müssen unterscheiden
zwischen dem Putin, der 2001 im Deutschen Bundestag geredet hat, der den
Eindruck erweckt hat, es gebe die Chance für einen gemeinsamen Weg zur
Freiheit, Demokratie und zur Beachtung der Menschenrechte, und dem
eingebunkerten Kriegstreiber Putin des Jahres 2022“, warb der ehemalige
SPD-Politiker für Verständnis. Dann aber räumte Steinmeier ein: „Das wirklich Traurige ist, dass wir
in vielen Punkten gescheitert sind.“ Dies betreffe den vergeblichen Versuch,
Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, ebenso wie
jenen, demokratische Werte in Russland voranzutreiben. „Das ist eine bittere
Bilanz, vor der wir stehen“, fuhr der 66-Jährige fort. […..]
(MOPO, 05.04.2022)
Bekanntlich war ich nie ein Fand von Merkel und
Steinmeier. Den Bundespräsidenten habe ich stets wegen seiner abstrusen Frömmigkeit kritisiert
und Merkel war ohnehin 15 Jahre die böse Nemesis dieses Blogs.
Aber bei aller Lust an Häme; Botschafter Melnyks Attacken
auf den deutschen Bundespräsidenten sind ungeheuerlich. Steinmeier sollte sich
solche Ausfälle nicht von Nazi-Fan Melnyk gefallen lassen. Es ist sehr billige Häme, nun von Vorwürfen ätzende Händeschüttel-Bilder
deutscher Regierungspolitiker mit Putin auszugraben.
Lächerlich. Mit guten Freunden ist es leicht politische Kontakte
zu halten. Aber noch viel wichtiger ist es, daß Kanzler, Minister und Präsident
Kontakt zu den feindlich gesinnten Mächten halten. Man sollte Politiker nicht dafür kritisieren, ihre Arbeit
getan zu haben.
Aber es gibt auch den Kevin-Aspekt. Dem 2022er Putin, der
alle Beziehungen zertrümmert, Kriege anzettelt, Butscha verantwortet, die Europäische
Friedensordnung vom Tisch fegt, würden Merkel und Steinmeier nicht die Hand
reichen.
Der gegenwärtige Kreml-Herrscher hat sich selbst so weit
außerhalb unserer Anstandsregeln abgestellt, daß ihn kein westlicher Politiker
bei Verstand als Partner oder auch nur Partnerschaft-tauglich betrachtet.
Der 2000er Putin hingegen war ein Mann, mit dem man sich
vorstellen konnte, eine enge europäische Kooperation einzugehen und
selbstverständlich war es damals vollkommen richtig auch genau das zu
versuchen.
Hätte das funktioniert, wäre es womöglich nie zu den
russisch-westeuropäischen Krisen 2008, 2014 und 2022 gekommen. Wir hätten alle
profitiert.
A posteriori ist es leicht, zu behaupten, dafür habe es
nie eine Chance gegeben, denn nun existiert der Ukraine-Krieg-Putin. Mit dem
Wissen von heute darf man aber nicht die durchaus fruchtbare
deutsch-französisch-russische Friedens-Zusammenarbeit von 2003 beurteilen, weil
damals kein Horror-Wladimir existierte.
Wie auf dem Weg vom irrelevanten Zellklumpen zum realen
Kevin, kann niemand genau sagen, wann aus dem kooperativen Putin, der Paria
wurde, mit dem man nichts mehr zu tun haben will.
Ich bin sehr skeptisch, wenn ich heute höre „Putin habe
ich nie getraut; der wollte doch immer Krieg!“ Es handelt sich vermutlich um Autosuggestion, wenn jemand
heute glaubt, den Ukraine-Krieg von 2022 seit 20 Jahren vorausgesehen zu haben.
Es gibt psychologische Untersuchungen darüber, wieso
Menschen so gern Quizshows sehen. Sie fühlen sich klug und den Kandidaten
überlegen, weil sie sich bei den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten kurz nach
der Auflösung der Richtigen selbst suggerieren, sie hätten auch richtig
gelegen. Dadurch hält man sich für gebildet, auch wenn man eigentlich die a
posteriori so logisch erscheinende Antwort eben nicht gewußt hätte. Ein solche
Show funktioniert aber nicht, ohne Multiple-Choice; ohne Auflösung, weil man
sich dann nicht schlauer fühlen würde als man ist.
Ich erinnere mich nicht, daß einer der „ich habe es doch
immer gewußt“-triumphierenden Putin-Verächter in Parteien und Presse, 2008 oder
2014 lautstark dafür plädiert hätte, die
Bundeswehr um 100 Milliarden Euro aufzurüsten, NATO-Truppen an der Ostgrenze zu
stationieren, die Wehrpflicht zu behalten und einen ökonomischen Einbruch von
10% zu befürworten, damit man von russischen Öl-, Gas- und Kohle-Lieferungen
unabhängig wird.
Haben die NATO-Einsatz-fordernden WELT-Journalisten etwa
in den letzten Jahren auf Flüge und Benzin verzichtet, die Wintermonate ohne zu
heizen in Daunenjacken verbracht? Haben sie ihre Netrebko-CDs geschreddert und
Schalke04-Spiele wegen des Gazprom-Logos boykottiert?