Donnerstag, 25. März 2021

Von der Gnade des perfekten Geburtsjahres.

Früher beneidete ich die Unternehmergeneration, die in den 1930ern geboren wurde. Den zweiten Weltkrieg erlebten sie als Kinder, als sie noch zu jung waren, um die Schrecken richtig zu begreifen, bei Kriegsende war mein Vater acht Jahre alt, meine Mutter sieben und ihr Bruder 13 Jahre.

Sie wurden durch das Erlebte durchaus mit dem nötigen Ernst geboren, wuchsen ohne Luxus auf, so daß sie die kleinen Freuden des Lebens genießen konnten, wie ich mir das nicht mehr vorstellen kann.

Immer wieder erzählte meine Mutter mir beispielsweise davon, wie meine Oma nach dem Krieg die erste Orange nach Hause brachte. Meine Mutter sah des erste Mal so eine Frucht, die aber erst angeschnitten werden sollte, wenn alle Geschwister da waren. Durch ein unglückliches Missverständnis wurde die erste Orange aber ohne sie gegessen; die Enttäuschung vergaß sie ihr Leben lang nicht. Aber umso mehr blieb ihr in Erinnerung, als meine Oma einige Wochen später erneut eine Orange ergatterte, die meine Mutter dann zum Trost ganz allein essen durfte. Dieser Geschmack, die Frische, der Duft.

Ich denke immer wieder an diese Beschreibungen, wenn ich arglos im Gemüseladen stehe, mir achselzuckend die riesigen Berge voller Clementinen, Mandarinen, Pampelmusen, Pomelos und Orangen ansehe, die mich aber nicht so richtig locken können, weil Orangen ja so umständlich zu pulen sind. Davon kriegt man klebrige Finger.

Die jungen Männer, die Ende der 1940er Jahre, zum Start der Bundesrepublik Deutschland um die 18 Jahre alt waren, hatten improvisieren gelernt, vielfach waren die autoritären Familienstrukturen durch Abwesenheit der Väter aufgebrochen, so daß sie früher und freier als jede vorherige Generation unternehmerisch tätig werden konnten.

Es folgte ein paradiesisches halbes Jahrhundert in Deutschland. Es herrschte dauerhaft Frieden in Europa, man konnte überall hinreisen, der Umweltschutzgedanke war noch nicht entstanden, man rauchte und trank. Ökonomisch gab es nur eine Richtung: Aufwärts. Es wurde immer besser, ohne daß man hyperflexibel ständig neue Ideen entwickeln musste und nicht von globalen Veränderungen bedroht war.

Meine selige Elterngeneration! Ganz anders meine Großelterngeneration. Mein Opa, geb. 1890, hatte sich wirklich abgerackert und musste als Erwachsener gleich zwei Weltkriege über sich ergehen lassen, die seine berufliche Existenz komplett zerstörten.  Wie viel einfacher hatte es sein Sohn.

Erst in den 1990er Jahren schlug mit der Digitalisierung, Globalisierung und Überbevölkerung auf das deutsche ökonomische Paradies ein.

Viele Jobs, die über Jahrzehnte bestanden, fielen von eben auf jetzt weg, weil irgendein Land 10.000 km entfernt alles besser und schneller und billiger konnte, während gleichzeitig die Frachtkosten durch die Containerschifffahrt minimiert wurden.

Ganze Branchen brachen weg. Wer braucht heute noch die kleine Druckerei von nebenan? Fotogeschäfte, die Filme entwickeln? Videotheken? Plattenläden? Konzertkasse?

Die Multis und billiger.de-Portale ließen die Wertschätzung für Service schrumpfen.

Die Geschäfte meiner Teen- und Twen-Jahre, Buchläden, in denen die Inhaberin selbst alles gelesen hatte und mit der ich über die Inhalte diskutieren konnte, oder der Elektronikladen, dessen Fachverkäufer mir nicht nur alles über Stabmixer, Waschmaschinen und Cassettenrekorder erklärte, sondern der auch noch umstandslos zu mir nach Hause kam, wenn neue Sender einprogrammiert werden mussten, oder der Herd rumzickte.

Alles weg.    Die ewige Aufsteigergenration, geboren in den 1930ern, sollte möglichst inzwischen den Löffel abgegeben haben. Zu frustrierend ist es mit anzusehen, wie der kleine Familienbetrieb, der Zeitungskiosk, der Schusterladen, das Tante-Emma-Geschäft jedes Jahre weniger abwirft, weil die Margen kleiner werden und die Billig-Konkurrenz durch Milliardenschwere-Konzerne nebenan hockt.

So ein kleines Geschäft, das über Jahrzehnte die ganze Familie ernähren konnte und für bescheidenen Wohlstand sorgte – man hatte zwei Autos und ein Ferienhaus – trägt sich kaum noch, obwohl man immer mehr strampelt.

1950 musste man nur morgens die Ladentür aufschließen; die Kunden strömten von allein hinein und stürzten sich auf alles, das es gab.

 In der heutigen Überschussgesellschaft, in der jeder in Sekundenschnelle bei Amazon Preise vergleicht, geht das schon lange nicht mehr.

Man muss sich sehr spezialisieren, enormen Aufwand in Marketing und Werbung stecken, die Kunden umgarnen, Events veranstalten, Sonderkonditionen bieten.

Wenig überraschend haben die Millennials und die Generation Z (die um 2000 Geborenen) ohnehin keine Lust mehr auf Kaufmannsladen oder Serviceberufe.   Handwerksbetriebe und Krankenhäuser können überhaupt nur noch existieren, weil sie ihr Personal aus Migranten rekrutieren.

Die Zeiten der durchgängigen Erwerbslaufbahnen bei einem Arbeitgeber in demselben Job, den auch schon der Vater und Großvater ausgeübt hatten, sind vorbei.

Die Generation Praktikum und die Generation Z, die so handyaffin ist, daß sie keine Rechtschreibung mehr beherrscht, nie  ein Buch gelesen hat oder gar ein Gedicht auswendig kann, dafür aber nach zehn Minuten in Schnappatmung gerät, wenn das Internet down ist, läßt sich trefflich von meiner Generation auslachen.

Wie kann man nur so unselbstständig und weinerlich sein!

Aber der Dauerstress durch die sozialen Medien und ungewisse Zukunft mit immer größeren Bildungsanforderungen, sofern man sich nicht damit begnügt ein Leben als Geringverdiener zu führen, der niemals eine Stadtwohnungsmiete bezahlen kann und als Rentner von sozialen Transferleistungen abhängig zu sein, ist real.

Psychische Krankheiten nehmen exponentiell zu, jeder Teenager kennt die Begriffe „soziale Phobie“, „Burnout“ und „Depression“.

Heute wurde verkündet, das am 05.04. in Hamburg beginnende Sommersemester, fände erneut nur digital statt.

Das ganz große Mitleid bringe ich schwer auf, weil es Erstsemester des Jahres 2021 in vieler Hinsicht so viel leichter als ich haben.

Wie viele Myriaden endlose Stunden habe ich damals in Bibliotheken recherchiert, auf die Rückkehr ausgeliehener Bücher gewartet, irgendwelche riesigen Wälzer zu Copy-Shops geschleppt, nächtelang mit der Hand Protokolle und Arbeiten verfasst, in denen kein einziger Schreibfehler sein durfte, so daß man immer wieder eine ganze Seite neu schreiben musste, weil man natürlich in der letzten Zeile ein Wort vergessen hatte.

Und die Twens mit Laptop und MS WORD wollen mir erzählen, wie schwer sie es haben?

Aber sie haben es schwer, weil sie eine nicht digitalisierte Welt nicht kennengelernt haben, keine Vergleiche ziehen können.

So wie ich nie wirklich mitfühlen könnte, wie meine Mutter 1948 den Geschmack der ersten Orange ihres Lebens genoss.

Die emotionale und soziale Seite des Lebens scheint durch die unendlich große Auswahl des Onlinedatings auch nicht besser zu werden, weil durch die Möglichkeiten auch die Vergleichbarkeit exponentiell wächst.

Jeder junge Mann, der ein Mädchen kennenlernen will, kann sich anstrengen so viel er will – sie wird immer auf ihrem Klugtelefon jemand sehen, der noch bessere Bauchmuskeln, vollere Haare, schönere Zähne und ein fetteres Gehalt aufweist.   Umgekehrt natürlich genauso.

Ich bin froh ein „digital immigrant“ zu sein. Anders als die digital natives, kenne ich beide Welten, kann mich also mehr an einem neuen Song erfreuen, weil ich weiß welche wochenlange Mühe ich als Jugendlicher auf mich nehmen musste, um Plattenläden nach einer bestimmten Platte abzuklappern, statt immer alles per streaming zur Verfügung zu haben.

Anders als die 1930 Geborenen, war ich aber zu Beginn des Internetzeitalters gerade noch jung genug, um mir die Vorteile anzueignen.

Auch die Endlos-Pandemie erlebt man am bestens als 50-60-Jähriger.

Da ist man alt genug, um sich die Hörner abgestoßen zu haben.  Man muss nicht ausgehen, erlebt keinen „sexuellen Notstand“ mehr, muss niemand kennenlernen.   Man hat sich zu Hause eingerichtet und im letzten halben Jahrhundert ohnehin mehr Krams angesammelt als man braucht. Beschäftigung gibt es im Überfluss.   Es stehen in der Regel keine Prüfungen oder Abgabetermine an.

Die Zappeligkeit der Teens und Twens fehlt mir völlig. Twens, die so sehr ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, daß sie, wie ich heute wieder bei einer Fahrt entlang der Außenalster bei gutem Wetter um 19.00 beobachten konnte, zu 99% alle Abstands- und Maskenregeln ignorieren, sich ungeniert und ungeschützt zusammenballen, lachen, laufen, labern und lagern.

In meinem Alter bin ich kaum tangiert von den Maßnahmen, würde bei Aufhebung derselben auch nichts ändern.

Ich habe es aber nicht nur viel besser als Teens und Twens, sondern natürlich auch besser als die 80+Generation, da ich (noch) gesund genug bin (schnell auf Holz klopfen), um autark zu leben, keine Hilfe im Alltag benötige.

Die bisherigen SarsCoV-2 sind für meine Generation auch nicht so tödlich wie für Hochbetagte.  (Die verschiedenen Mutanten könnten das ändern.)

Nicht nur habe ich das perfekte Alter für eine Pandemie, sondern als Atheist, Misanthrop und Antinatalist auch den riesengroßen Vorteil keine Kinder zu haben.

Kinder ohne Kita und Schulen sind ein gewaltiger Zeitaufwand, der Millionen Eltern zur Verzweiflung bringt.

Fast noch schlimmer sind die noch rüstigen Großeltern getroffen, die in ihren 70ern eigentlich ihr Leben genießen möchten, nun aber täglich die Brut ihrer Kinder hüten müssen und sich nicht nur daran erinnern wie laut und anstrengend kleine Kinder sind, sondern auch feststellen, daß man diese Sonderbelastung mit 70 oder 80 weniger gut wegsteckt als mit 20, 30 oder 40.

Zumal viele der Dinge, die Opa und Oma üblicherweise mit den kleinen Rackern unternehmen, um sie zu bespaßen – Zirkus, Zoo, Spielplatz – auch den Corona-Regeln zum Opfer fallen, so daß man die Bälger die ganze Zeit in seiner Wohnung sitzen hat.

Zum Glück bin ich völlig sicher vor solchen Stressfaktoren. Es gibt keine Enkelkinder, die von einer Helikoptermutter morgens um 8.00 aus ihrem SUV-Hybrid an meinen Küchentisch getreten werden könnten.

Enkel machen in Coronazeiten nicht nur verdammt viel Arbeit, sondern sind zu allem Überfluss auch noch tödliche Virenschleudern.

[….] Kinder werden zur Gefahr für ihre Eltern   [….]  Die dritte Welle bricht, wie Virologinnen und Modellierer spätestens seit Januar prophezeien, mit Macht über Deutschland herein, die deutlich ansteckendere und gefährlichere Mutante B.1.1.7 überzieht das Land. Und anstatt die Kontakte drastisch zu beschränken, wird gelockert – vor allem bei den Schulen.   Was das bedeutet, lässt sich bereits an den Inzidenzkurven ablesen: »Der stärkste Anstieg ist bei Kindern zwischen 0 und 14 Jahren zu beobachten, wo sich die Sieben-Tage-Inzidenzen in den letzten vier Wochen mehr als verdoppelt haben«, heißt es im jüngsten Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (RKI).  Tatsächlich explodierte das Infektionsgeschehen bei den bis zu 14 Jahre alten Kindern geradezu: Die Fallzahlen sind auf durchschnittlich 110 hochgeschnellt; damit haben sie sich in den vergangenen fünf Wochen nahezu verdreifacht. [….] Eine weitere Folge des laxen Umgangs mit dem Virus zeigt sich in jenen Ländern, in denen die Mutante schon länger wütet: Die Kinder stecken ihre Eltern an, und die werden krank, manche sogar sehr krank. [….]

(Rafaela von Bredow, 25.03.2021)

Keine Kinder, in den 1960ern geboren. Alles richtig gemacht!

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