Dienstag, 21. Juli 2020

Frauenklischees


Das war immer anstrengend, als wir noch kleine Kinder waren und diese herkömmlichen Familienurlaube machten: Irgendwo hinfliegen, irgendeine Unterkunft und ein Auto mieten und damit umherfahren.
Das Problem war, daß natürlich mein Vater am Steuer saß und meine Mutter ob seiner Fahrweise tausend Tode starb.
 Wir erklärten es uns so, daß er in den USA nur auf dem Land mit endlosen breiten gerade Straßen ohne Verkehr gefahren war. Mit Automatik-Getriebe. Später in New York hatte er kein Auto – wie die meisten Bürger Manhattans.
Kleine winkelige sich mäandernde Straßen mit enorm viel Verkehr, Serpentinen, Schaltgetriebe und das alles ohne Geschwindigkeitsbegrenzung war da schon eine andere Nummer.
Ich erinnere mich insbesondere an einen Sommer in Irland, weil mein Vater nicht in der Lage war sich an den Linksverkehr anzupassen und nach jeder Kreuzung auf der falschen Spur landete. Mein Bruder und ich waren schon heiser, weil wir vom Rücksitz ständig „drive left!“ krähten.

Jahrzehnte später fragte ich meine Mutter wieso sie sich das eigentlich bieten ließ. Denn groteskerweise war sie im Gegensatz zu ihm eine ausgezeichnete Autofahrerin. Sie war schon mit Anfang 20 Jahrelang im Käfer durch Südeuropa, den Nahen Osten und den Maghreb gefahren.
‚Kind, wie haben uns Anfang der 60er kennengelernt und er war doch der Mann, also musste er auch fahren‘ war ihre Antwort. Es war eben so. Mein Vater stammte aus der US-amerikanischen Macho-Kultur und war von seiner Mutter als kleiner Prinz erzogen worden.
Er war dafür sehr liberal. Sonst wäre er schließlich nicht durch Europa gereist und meine Mutter erkannte es auch immer an, daß er sich nie darum drückte die Babys zu wickeln oder uns umher zu schleppen.
Das war zu der Zeit durchaus noch ungewöhnlich für Männer.
Aber Kochen war Frauensache, Autofahren Männersache.

Wieso waren meine Mutter und ihre Schwestern ausgezeichnete Autofahrerinnen?
Dafür muss ich zwei Generationen zurückgreifen. Mein Uropa Wilhelm, geboren 1850 war ein Freigeist, der auch schon viel reiste und sich für Technik begeisterte. Er hatte eins der ersten Autos und er war stolz darauf seinen Töchtern fahren beizubringen.
Meine Oma, die auch noch im 19. Jahrhundert geboren wurde, lernte während des ersten Weltkrieges fahren und war sehr traurig, als das Auto von der Wehrmacht eingezogen wurde.
In den 1920ern hatte sie aber wieder eins; ein Cabrio mit einem kleinen ausklappbaren Notsitz, in den meine Tante (*1921) und mein zwei Jahre jüngerer Onkel gesetzt wurden, wenn Oma zum Einkaufen fuhr.
Sie war auffällig wie ein bunter Hund mit dem Auto und den kleinen Gören hinten im Notsitz, aber ganz offensichtlich selbstbewußt genug, um sich nicht irritieren zu lassen. Mein Opa (*1889) war ebenfalls ein Kind seiner Zeit. Daß seine Töchter in seiner Firma mitarbeiten könnten oder gar als Erbinnen in Frage kämen, war außerhalb seiner Vorstellungskraft. Die Mädchen sollten Hauswirtschaft lernen und er suchte einen passenden Ehemann unter den Kindern seiner Geschäftsfreunde aus.
Funktioniert hat das allerdings nicht. Meine Tante und später meine Mutter warfen die von ihrem Vater offerierten Verlobten empört hinaus und suchten sich beide selbst einen Ehemann. In beiden Fällen jemand, der so gar nicht den Vorstellungen meines Opas entsprach. Künstler, Ausländern, arm, unregelmäßiges Einkommen.
Aber mein Opa liebte seine Ehefrau und hatte sie sich schließlich ausgesucht. Offenbar gefiel ihm ihr Selbstbewußtsein und tatsächlich überließ er meiner Oma das Steuer und amüsierte sich über die abfälligen Blicke der Passanten, wenn sie ihn auf dem Beifahrersitz und die Frau am Steuer sahen.
Die Toleranz der Menschen  seiner Alterskohorte hatte Grenzen; vermutlich hätte er nie einen schwulen Sohn akzeptiert.
Aber er war doch seiner Zeit so weit voraus, daß seine Töchter nicht nur Autofahren lernten, sondern er sich alle Mühe gab die letzten Groschen zusammen zu kratzen, damit sie auch einen klapprigen alten Käfer bekamen und mit seinem Segen loszogen, um sich die Welt anzusehen.

Ja, meine Oma konnte wirklich ausgezeichnet Autofahren, hatte sicher Talent und Selbstbewußtsein dafür. Aber ehrlicherweise hätte das allein nicht ausgereicht. Sie hatte zudem das Glück erst einen Vater, dann einen Ehemann zu haben, der ihr diese Freiheit ließ.

Wie ich in diesem Blog schon 100 mal erwähnte, verehre ich die Autorin, Zeit-Herausgeberin, Hamburger Ehrenbürgerin, Trägerin des Theodor-Heuss-Preises, des Four Freedoms Awards, des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, des Heinrich-Heine-Preises, die Ehrensenatorin der Universität Hamburg, das Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und bis ins höchste Alter passionierte Porsche-Fahrerin Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) über alle Maßen.
Ich halte sie für einen der weltweit größten Geister des 20.Jahrhunderts.
Sie hat das alles aus eigener Kraft erreicht und ihren eigenen Fähigkeiten zu verdanken.
Aber es kommen zwei Aspekte dazu. Sie erreichte so viel, obwohl sie eine Frau war, weil

1.) Auch ihr die Umstände zu Gute kamen. Ihr Vater war liberal und sie stieg in den 1930ern zur Verwalterin der gewaltigen Dönhoff-Güter, des Schlosses Friedrichstein und des Gutes Quittanien auf, weil die Männer der Familie tot oder im Krieg waren.
2.) Sie sich de facto wie ein Mann benahm. Sie bekam keine Kinder, verschrieb sich vollkommen der Karriere, heiratete nie und war das Gegenteil aller Eigenschaften, die man damals negativ den Frauen zuschrieb: Emotional, unzuverlässig, Irrational.

Natürlich will ich meine Familie nicht mit den großen Dönhoffs vergleichen, aber ich behaupte, daß die (wenigen) Frauen, die sich schon vor über 100 Jahren in vermeidlichen Männerdomänen durchsetzen, wenigstens ein bißchen Toleranz in ihrem engeren Umfeld brauchten.

Im Jahr 2020 kann es anders als zu den Zeiten als meine Oma Autofahren lernte keine Zweifel mehr daran geben, daß Frauen für genauso qualifiziert sind Busfahrerin, Ärztin, Generalin, DAX-Chefin oder Bundeskanzlerin zu werden wie Männer.

Erstaunlich ist viel mehr, daß Frauen nach so langer Zeit immer noch an vielen Positionen so unterrepräsentiert sind.
Ganz Bibliotheken sind über die Ursachen dafür geschrieben worden; daher will ich das nicht alles nacherzählen, sondern mich auf den Aspekt des Autofahren konzentrieren.
Der wer kennt nicht das Klischee von den Frauen, die nicht Auto fahren und insbesondere nicht einparken können?

Ich habe mich ob der geschilderten Fahrkünste meines Vaters sehr amüsiert, wenn er mal abfällig äußerte „typisch Frau am Steuer“, wenn jemand nicht einparken konnte.
Eine andere seiner Erkenntnisse war, daß Frauen in Hamburg deswegen bevorzugt riesige SUVs fahren, weil sie nicht eben nicht Auto fahren könnten. Das mache sie so unsicher, daß sie sich in einem so gewaltigen Panzer-artigen Wagen einfach besser fühlten. Ich ließ ihn in dem Glauben, ob wohl ich ihm hätte widersprechen sollen. Aber es war so unfreiwillig komisch diese Bemerkungen ausgerechnet von dem schlechtesten Autofahrer, den ich kenne zu hören.

Aber mein Vater konnte als Künstler sehr gut beobachten.  Immer wieder staunte ich welche Details er wahrnahm mit seinem geschulten Auge.
Bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland erklärte er mir „nur Frauen haben Fennschn“ am Auto. Ein typischer Spruch meines Vaters, dachte ich zuerst. Aber dann fing ich an systematisch nach FÄHNCHEN (Fennschn in der Aussprache meines Vaters) an Autos zu gucken und die mit dem Geschlecht des Fahrers abzugleichen.
Und potzblitz, es stimmte.
95% der schwarzrotgold-beflaggten Autos wurden von Frauen gefahren.
(Ausnahme Geschäftswagen von zB Handwerkern).
Konnte das sein?
Klischees und Vorurteile bestätigen sich üblicherweise durch selektive Wahrnehmung.
Man bemerkt also nur die Fälle, die ins eigene Vorurteil passen.
Ein xenophober Mensch, der neunmal nacheinander auf sehr höfliche Dunkelhäutige trifft, wird seine Meinung nicht ändern, aber wenn die Zehnte zufällig unhöflich ist, wird er sagen: „Typisch Ausländer!“
Wer also glaubt, Frauen könnten nicht einparken, bemerkt nicht die 99 Frauen, die perfekt einparken, sondern beißt sich an der einen fest, die Dutzende mal rangiert, bis sie irgendwann senkrecht zur Parklücke steht.
Um nicht diesem Effekt anheim zu fallen, habe ich versucht im Straßenverkehr während der unsäglichen internationalen Sportveranstaltungen, die zur Autobeflaggung führen systematisch auf jedes Fahrzeug zu achten und ich meine, es stimmt: Frauen tun das; Männer eher nicht.
Ich erkläre mir das mit der bizarren fetisch-artigen Beziehung vieler Männer zu ihrem Auto. Es soll nicht verunstaltet werden, während Frauen eher den praktischen Wert des Autos sehen und dazu neigen Dinge zu dekorieren (um gleich drei weitere Geschlechterklischees zu bemühen).

Über die Jahre habe ich viele Freunde auf diesen Zusammenhang hingewiesen und erbeten selbst drauf zu achten. Ich wurde ausschließlich bestätigt.

Inzwischen habe ich neben des Frauen-Fähnchen- (1) und des Frauen-Einparken-Klischees (2) drei weitere Autofahrer-Eigenschaften detektiert, die offenbar auf dem XX-Chromosomenpaar liegen:

3) Hamburg ist deutsche Cabrio-Hauptstadt. Sobald es über zehn Grad und sonnig ist, fahren die Hamburger oben ohne. Das gilt für Frauen und Männer als Fahrer. Aber wenn ein gegengeschlechtliches Pärchen Cabrio fährt, sitzt in 99% der Fälle der Mann am Steuer und die Frau spielt auf dem Beifahrersitz mit dem Handy.

4) Schlaglöcher. In vielen kleinen Straßen gibt es so heftige Straßenschäden, daß man sie schon vorher erkennen kann. Daher sieht man gelegentlich, daß der vor einem fahrende Wagen urplötzlich kurz ausschert, um zu vermeiden genau durch das Schlagloch zu fahren – mußmaßlich um die Reifen zu schonen. Ich behaupte 99% dieser Ausweicher sind Männer. Frauen am Steuer brettern ungerührt genau durch die Schlaglöcher.

5) Enge, zugeparkte Straßen mit Gegenverkehr. Es gibt auch mehr und mehr fest installierte „Schikanen“, also künstliche Fahrbahnverengungen, die verhindern, daß zwei Autos aneinander vorbei fahren. Ich konnte keinen geschlechterspezifischen Unterschied bei der Bereitschaft zur Seite zu steuern, um erst mal den Entgegenkommenden durchzulassen erkennen.
Das ist eher eine Frage der Automarke und des Fahrzeugwertes. Große Mercedesse lassen einen nie vor, je kleiner und billiger das Fabrikat, desto höflicher der Fahrer. Aber wenn ich derjenige bin, der den Entgegenkommenden erst fahren lässt sind 99% der Derjenigen, die sich mit einer Höflichkeitsgeste (Hand heben) bedanken Männer. Frauen tun das nie.

Ich schließe aus den Beobachtungen, daß Frauen immer noch nicht von ihrer Umwelt so selbstverständlich als Autofahrerinnen, bzw Autokennerinnen angesehen werden wie Männer.

Kann das sein im Jahr 2020????

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Feedback an Tammox