Sonntag, 17. Mai 2020

Schöne neue Sozi-Welt


Als digital immigrant, der nicht mit Twitter und Co aufgewachsen ist und ein halbes Jahrhundert ohne Smartphone lebte, sehe ich unter welch fundamentalem Wandel nicht nur die Kommunikation untereinander, sondern auch die Interaktion von „denen da oben“ mit „denen da unten“ unterliegt.
Die Konsumenten haben sich gegenseitig ausschließende Wünsche an ihre Volksvertreter und Regenten.
Es gibt gleichzeitig die Klage von den altmodischen Parteien, die noch auf Papier gedruckte Zeitungen herausgeben, per Fax kommunizieren und Briefe schreiben und von den neumodischen Parteien, die auf jeden Trend springen und weite Teile ihrer älteren Wählerschaft im Stich lassen, weil sie nur noch Social Media machen.
Aber ein Kompromiss ist nur gut, wenn niemand völlig zufrieden ist.
Verschiedene Kommunikationsebenen schließen einander aber nicht aus. Eine Partei ist kein Einmannunternehmen.
So wurde mir eine Parteivorsitzende Andrea Nahles verkauft.
Sie verstünde sich auf alle klassischen SPD-Kommunikationswege, habe ein Gefühl für alle Gremien. Als Ergänzung gab es Generalsekretär Klingbeil, den jungen Mann für’s Digitale, der Teens und Twens anspreche.
Das war allerdings eine Doppelpleite, da Andrea Nahles wie niemand anders in der Partei nur auf einen winzigen Kreis Getreuer hört und eben gar keine Antennen für die Mitglieder an das Basis hat. Immer wieder sorgte sie für Stürme der Entrüstung (Müntefering absägen, Schulz wird Außenminister, Maaßen wird Staatssekretär), setzte sich in die Pfälzer Provinz ab und war über Tage nicht zu erreichen – nichts ahnend von dem Aufschrei, den sie provoziert hatte.
Das berühmte Gespür für die Partei, das Gerd Schröder hatte, ging ihr vollkommen ab.
Wie sich herausstellte, sind die Digitalboys Klingbeil und Kühnert genauso unfähig. Keineswegs konnten sie die Partei zu einer angesagten modernen Twitter-Tiktok-Insta-Partei machen, die auf junge Leute anziehend wirkt.
Dabei bin ich mit Klingbeil seit dem Amtsantritt Eskens und Borjans durchaus versöhnt, da er als einziger lautstark politisch gegen AfD, aber auch Schwarzgelb vorgeht und in den klassischen Medien bemerkenswert bemerkbar dagegenhält.
Das wäre eigentlich die Aufgabe des Bundestagsfraktionsvorsitzenden und der Bundesparteivorsitzenden, aber alle drei erwiesen sich bekanntlich als TOTALAUSFALL.
Also liebe SPD; ihr habt mehrere Aufgaben. Da ist einerseits das Regieren. Das klappt hervorragend. Die Minister sind ein ganz großes Plus und viele Landesregierungschefs – Tschentscher – brillieren ebenfalls.
Das zweite Standbein ist die parlamentarische Arbeit, die siehe Causa Högl/Bartels/Kahrs ein einziger Trümmerhaufen ist.
Dritter wichtiger Faktor ist der Parteiapparat, der ganz unabhängig von den parlamentarischen Arbeit und  den konkreten Regierungsmaßnahmen innerhalb des Kräfte-kosmos im Plenum mit „den Menschen draußen im Lande“ auf Tuchfühlung gehen soll.
Die Partei muss kommunizieren können, für ihre Positionen werben, ihre Konzepte so bekannt machen, daß der Bürger auch unabhängig von Wahlterminen weiß wofür die SPD steht und welche Köpfe sie vertreten.
Dabei geht es nicht nur um ausgefeilte Steuermodelle und Rentenkonzepte, sondern auch um die Vibes, ein Gefühl, das man mit Sozialdemokratie verbindet.

Wie leider auch die übergroße Mehrheit empfinde ich Saskia Esken persönlich als außerordentlich unsympathisch. Das muß an sich noch nicht bedeuten ein schlechter Regierungspolitiker zu sein. Aber als Parteipolitiker ist das von großem Nachteil, da die meisten Wähler eben gerade nicht die Regierungskonzepte der Parteien studieren, sondern aus dem Bauch entscheiden.
Es kann nur von Nachteil sein, wenn während eines quälend langen Urwahl-Prozesses für eine neue SPD-Doppelspitze ausnahmslos jeder, der schon persönlich mit Esken zusammenarbeite – sei es bei ihrem Job als Elternvertreterin, in ihrem BW-Landesverband, oder auch ihre Fraktionskollegen in Berlin – dringend davon abrät diese Frau zur Chefin zur machen.
Niemand, der sie kennenlernte, mag sie.
Gewählt wurde sie dennoch, weil Kühnert für sie trommelte und weil sie nicht Olaf Scholz ist.
Olaf Scholz ist nämlich mit weitem Abstand der beliebteste SPD-Politiker und zudem auch noch der mit großem Abstand erfolgreichste Wahlkämpfer (absolute SPD-Mehrheit in Hamburg). Erfolg und Zustimmung bei den Wählern ist aber nach der verqueren Logik der abgebrochenen Juso-Studenten ein Ausschlusskriterium. Daher hassen sie 22 Jahre nach seinem rotgrünen Durchmarsch mit 41% für die SPD immer noch Gerd Schröder. Der Mann gewann Wahlen, brachte parlamentarische Mehrheiten für Rotgrün zusammen.
Das kann Kühnert gar nicht leiden.
Dementsprechend ist er natürlich glücklich mit seiner Parteichefin Esken, die beim Projekt Einstelligkeit sehr hilfreich sein wird.
Wir haben es am 23.02.2020 in Hamburg erlebt was passiert, wenn eine Landespartei ein kategorisches Auftrittsverbot für Esken erteilt und sie konsequent totschweigt: Sofort gab es wieder fast 40% für die SPD.
Vor solchen Zahlen sind der Berliner Kühnert (SPD 15%) und die Baden-Württembergerin Esken (SPD 11%) in ihren Landesverbänden absolut sicher.

Gibt es irgendetwas Positives, das sich über Esken sagen lässt?
 Ja, sogar zwei miteinander zusammenhängende Aspekte: Sie ist eine „Digitalexpertin“, die im Gegensatz zu anderen in der SPD-Spitze fast ausschließlich in den Social Media unterwegs ist und die dadurch zum Glück auch persönlich nie auftaucht.

[……]  Wer von Parteikollegen wissen will, mit wem die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken viel Zeit verbringt, bekommt keine Namen genannt, sondern zu hören: "Mit ihrem Handy". Ob in den Sitzungen der Bundestagsfraktion oder in den Runden der Parteispitze - Teilnehmer berichten, es vergehe kaum ein Treffen, bei dem sie nicht darauf herumtippt. Sie twittert aus Sitzungen ihre Standpunkte; Anfang März etwa, als es um die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus griechischen Camps ging und sie mehr Einsatz von Innenminister Horst Seehofer forderte.
Esken streitet im Internet, [……] Wer sie anspricht, kann mit einer Antwort rechnen, egal, wie bedeutend sie oder er ist. Das gilt selbst für jene, die ihr "ans Schienbein" treten, wie sie mal schrieb. Einer fragte, wo denn in Corona-Zeiten die SPD-Chefs seien, man höre so wenig von ihnen; anders als von Familienministerin Franziska Giffey oder Finanzminister Olaf Scholz. Esken antwortete: "Ich bin hier. Womit kann ich helfen?"
"Das ist gerade ihr Ding", sagt ein Weggefährte über die derzeitige Lage
Es gibt Politikerinnen und Politiker, die erleben diese Tage und Wochen als große Durststrecke, weil die Corona-Krise sie aus ihren Routinen herausgerissen hat: Plötzlich keine wuchtigen Auftritte vor großem Publikum mehr, keine langen Abendtermine oder Gremiensitzungen bei Keksen und Kaffee. Und es gibt Saskia Esken, die gut mit den Umständen zurechtkommt, unter denen Politikmachen noch möglich ist, weil sie vorher schon so Politik gemacht hat. Sie braucht all das andere nicht wirklich: Die Auftritte vor der Presse nach Gremiensitzung in der Parteizentrale lässt sie eher über sich ergehen. Durch ihre Rede beim politischen Aschermittwoch in Bayern kämpften sie und ihr Publikum sich gleichermaßen durch. [……]
Für ihren Co-Vorsitzenden Walter-Borjans, aber auch für die Vorgänger, Andrea Nahles, Martin Schulz oder Sigmar Gabriel, ist das große Interview wichtiger als der schnelle Tweet. Esken sendet dagegen auf ihrem eigenen Kanal, ohne dass ihre Berater viel mitzureden hätten. [……]

Interessanterweise wird Social-Media-Nutzern automatisch unterstellt das Medium zu verstehen, es zu beherrschen.
Nichts könnte falscher sein.
Wer seine Ansichten über Twitter verbreitet, ist noch lange kein großer Twitterer.
Überall finden sich die Icons „Teilen auf Instagram/Twitter/Facebook“. Dort einmal zu klicken, bedeutet noch nicht ein hipper Jugendlicher zu sein.
Man muss nicht nur agieren, sondern auch reagieren. Den schnellen und digital-nativ-Humor verstehen, wirklich vernetzt sein, statt wahllos Hashtags zu kreieren. Man muss an der Spitze der Bewegung stehen und blitzartig assoziieren, Memes erstellen, Gifs fabrizieren.

Politiker aus der Generation Printmedium, die auf einmal twittern wollen, wie Erika Steinbach, Horst Seehofer oder der Papst, halten soziale Medien einfach für eine andere Art Papier. Man gibt ein paar Sätze ab und schafft damit Fakten.
In Wahrheit sind Twitterfeeds – wenn ich das nicht-twitternder Digital-Geront sagen darf – aber weit weniger geduldig als Papier. Man muss sie im Auge behalten, moderieren, eingreifen, kommentieren.
Ich ärgere mich daher schon seit Jahren über das Social-Media-Team der SPD. Da wird ein Schaubild oder ein Zitat rausgehauen und fertig. Egal was für ein Shitstorm folgt. Auch wenn alles gekapert wird, sich Trolle austoben und die bösartigsten Falschmeldungen über die SPD verbreiten. Niemand fühlt sich bemüßigt noch einmal draufzusehen, geschweige denn einzugreifen.
Dabei gibt es da durchaus Möglichkeiten, wenn man etwas von dem Medium versteht und über die Waffe Humor verfügt.

Eskens Digitalaffinität bedeutet offenbar aber auch nur, daß sie gern twittert und nicht etwa, daß sie gut dabei wäre.

Vor drei Tagen generierte die SPD-Chefin wieder einmal einen Shitstorm.

[…..] Esken hat mit einer Äußerung über die Bezüge von Bundestagsabgeordneten eine rege Debatte angestoßen. Hintergrund ist die Diskussion um die künftige Bezahlung ihrer Vorgängerin und Ex-Parteichefin Andrea Nahles, die letztes Jahr ihr Amt niedergelegt hatte und im Sommer Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation werden soll.    Dieser Posten soll alles in allem hoch dotiert sein. Wie die Bild jüngst berichtete, soll Nahles mehr als 10.000 Euro monatlich erhalten. Der Twitter-Nutzer Michael Johansen fragte Esken deshalb am Donnerstag nach der Rechtfertigung des Gehaltes, was „durchaus interessant“ sei. Denn „ich zum Beispiel arbeite im Einzelhandel und finanziere damit einen Teil ihrer Diäten.“
[…..] Eskens kurze Antwort: „Und ich zahle daraus nicht nur Steuern, ich kaufe davon auch jeden Tag ein. Wer finanziert jetzt wen?“ […..]

Andrea Nahles legte Wert darauf einen Versorgungsjob zu bekommen, der verglichen zu ihrem Ministergehalt bescheiden ist, um eben nicht als „raffgierig“ dazustehen. Das ist ihr formal gelungen. 10.000 Euro monatlich sind viel weniger als andere Ex-Politiker ihres Kalibers abkassieren. Für so eine Summe würden Pofalla, Hildegard Müller, Wissmann, von Klaeden, Daniel Bahr, Philip Rösler, Dierk Niebel gar nicht erst aufstehen.


Esken und Nahles begreifen aber nicht, daß sie in der Social-Media-Welt nicht an rationalen Politiker-Maßstäben gemessen werden, sondern am persönlichen Empfinden jedes einzelnen Users. Für den Otto-Normal-Twitterer sind aber sichere +10.000,- im Monat durchaus viel Geld. Daher bringt es ihn in Rage, wenn ihm das als Bescheidenheit verkauft wird.
Ich finde diese Rage übrigens nicht angemessen. Wer sich über die angeblich so üppigen leicht verdienten Politiker-Gehälter beklagt, kann ja gern selbst Politiker werden, wenn er das für so einen lockeren Job hält. Alle Parteien suchen händeringend Mitglieder und Mandatsträger.
Die Rage an sich war aber zu erwarten und es zeugt von erstaunlicher Social-Media-Ignoranz, wenn Esken das nicht vorhersieht.

Auch der zweite Teil der „Affäre“, Eskens schnippische Entgegnung, sie finanziere mit ihrem Gehalt den Einzelhandel mit, so wie der Einzelhändler mit seinen Steuern ihr Gehalt mitfinanziere, ist rein formal richtig.
Aber es zeugt von einer gewaltigen Ignoranz, daß sie nicht vorhersah, welchen Shitstorm sie dafür ernten würde. Politiker und ihre Diäten sind immer ein extrem heikles Thema. Es ist fast unmöglich sachlich darüber zu sprechen, ohne Ärger von den Wutbürgern zu bekommen.
Weiß Esken denn gar nichts?

Und so kommen wir zum dritten Teil der Affäre:
 Der Esken-Twitter-Feed ist ein Musterbeispiel dafür, wie SPD-Hasser und Politikverachter angezogen werden und sich die Diskussion immer mehr gegen Esken und die SPD aufschaukelt. Aber offenbar hat Esken seit drei Tagen nicht mehr eingegriffen, lässt es laufen.


Kein Humor, keine Richtigstellung, keine Entschuldigung.
Sie kann es eben nicht. Sie kann auch Digitales nicht.

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