Freitag, 6. März 2015

Zeitlos



Es gibt nichts Besseres als auf Papier gedruckte Texte.
Dabei geht es nicht nur um das haptische und sinnliche Erlebnis des Lesens, sondern auch um die Aufnahmefähigkeit.
Studien haben ergeben, daß man viel mehr Details des Inhalts im Kopf behält, wenn man einen Text auf Papier und nicht auf einem Bildschirm gelesen hat.
Für mich kommt hinzu, daß ich immer mit Texten „arbeite“, also alles kommentiere und bewerte. Ich kannte das schon als Jugendlicher aus meiner ganzen Familie – wenn man ein Buch auslieh oder verlieh, hieß es meistens dazu „das habe ich aber mit Stift gelesen.“
Einen Text, den man eifrig kommentiert und unterstreicht, behält man intensiver in Erinnerung.
Das macht es manchmal etwas unangenehm Bücher zu verleihen, weil man nicht unbedingt bei jedem möchte, daß er die Gedanken des Erstlesers gleich mitverfolgen kann.
Mit Stift gelesene Bücher haben aber den Vorteil, daß man bestimmte wichtige Passagen schnell wiederfindet und ermöglichen eine kritische Selbstreflexion, wenn man beispielsweise ein Buch nach 10 Jahren noch einmal liest und dann staunt welche Stellen einen früher beeindruckt haben.
Es gibt Romane, die mich inhaltlich kaum noch interessieren, die aber einen oder wenig mehr wunderschön geschriebene Absätze haben, so daß man das Buch von Zeit zur Zeit aus dem Regal zieht und nur einige Sätze daraus laut vorliest.

Am liebsten würde ich jeden Text aus dem Internet ausdrucken, bevor ich ihn lese, da ich nur so meine maximale Aufmerksamkeit erreiche.

Ein Abonnement einer Print-Zeitungsausgabe zu kündigen ist und bleibt für mich eine Katastrophe.
Zehn Monate ist es jetzt her, daß ich mit viel Gewissenbissen und Bauchschmerzen mein ZEIT-Abo aufgab. Elf Seiten lang in Verdana-10 war meine Erklärung an die ZEIT-Redaktion, man wird mir schwerlich vorwerfen den Schritt voreilig oder unbegründet getan zu haben.
Unnötig zu erwähnen, daß ich bis heute keinerlei Reaktion bekommen habe. Giovanni di Lorenzos Leute am Speersort 1 können offenbar kein Interesse dafür aufbringen, weswegen über Dekaden treue Leser ihr Abo hinwerfen.

Aber ich trauere DER ZEIT hinterher und gucke immer wieder in Kiosken die Themen der Titelseite an, klicke die Online-Ausgabe an.
Das ist manchmal wirklich nicht schön.
Zum Beispiel gestern.

Da stieß ich auch einen Meinungsartikel des Politredakteurs und Volljuristen Dr. Jochen Bittner, der wir sein Chef Josef Joffe gerade erst peinlich aufgefallen war, als er beim Hamburger Oberlandesgericht durchsetzen wollte, daß man nicht mehr behaupten dürfe er schriebe für Joachim Gauck – und scheiterte.
Der bestens atlantisch vernetzte 41-Jährige beschreibt sich selbst wie folgt:

Er kümmert sich vor allem um Europa- und sicherheitspolitische Themen.
Bittner studierte Jura und Philosophie an der Universität Kiel. Bis 2001 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Lehrstuhl für Staatsrecht und Rechtsphilosophie und promovierte nach einem Aufenthalt in Belfast mit einer Arbeit über das Rechtssystems der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Nebenbei freie Mitarbeit für die Kieler Nachrichten, die FAZ und die Welt.
Von 2001 an kümmerte er sich in der ZEIT-Redaktion vor allem um die Themengebiete Terrorismus, Geheimdienste und Sicherheitspolitik.

In seinem neuesten Artikel beschäftigt er sich mit der „Kirchensteuer“, so daß ich sofort hellhörig wurde.
Statt dem seit 96 Jahren bestehenden Verfassungsauftrag zu folgen und die elenden Verquickungen zwischen Staat und Kirche endlich aufzulösen, will Bittner die Kirchensteuer, die in Wahrheit nur ein Konstrukt ist, um die Vereinsbeiträge der Kirche eV einzutreiben, wobei der Staat als Inkassounternehmen auftritt, ausweiten.
Sie soll durch eine allgemeine Religionssteuer ersetzt werden, so daß auch Juden und Muslime zahlen müssen.

Es gibt letztlich keinen guten Grund dafür, dass – wenn der Staat schon eine Kirchensteuer eintreibt – er diesen Service ausschließlich für Protestanten und Katholiken leistet. Das deutsche Kirchensteuermodell war rechtlich schon immer fragwürdig. Mittlerweile hat die religiös-gesellschaftliche Wirklichkeit es komplett überholt.
Juristisch konsequent und gesellschaftlich zeitgemäß wäre es, die Kirchensteuer durch eine Religionssteuer zu ersetzen. Jeder Steuerzahler könnte dann ein Häkchen hinter diejenige Religionsgemeinschaft setzen, die er mit seinem Anteil bedenken möchte.

So weit, so erstaunlich.
Der richtige Weg wäre natürlich genau der Umgekehrte. Angesichts des schädlichen Einflusses der Religionen auf die Gesellschaft, müßte die staatliche Unterstützung ganz abgeschafft werden, statt auch noch ausgeweitet zu werden.

Richtig ist, daß die christlichen Religionen weitreichende Privilegien genießen und insofern stark bevorzugt werden. Statt aber die anderen nun ebenso absurd zu pampern, sollten lieber die Bevorzugungen der Christen abgebaut werden.

Bis hierhin habe ich Bittner und der ZEIT allerdings nichts vorzuwerfen. Er vertritt eine mir diametral entgegen gesetzte Meinung. Das ist selbstverständlich in Ordnung und kein Grund der ZEIT zu zürnen. Daß die Hamburger unter di Lorenzo und insbesondere unter dem Holtzbrinck-Dach stark pro-religiotisch orientiert sind, weiß schließlich jeder.

Was aber nicht geht ist, daß Bittner bei dem Versuch seine These zu begründen glatte Falschinformationen auftischt.
Entweder er lügt bewußt, was für einen Journalisten des Edelefedernblattes ZEIT verwerflich ist, oder aber er ist katastrophal schlecht informiert und es gibt außerdem keinerlei Dokumentation in der Redaktion, so daß seine Falschaussagen ungefiltert durchrutschen – das wäre genauso schlimm für die ZEIT.

Beispiele:

1.)

Bittner behauptet die deutschen Imame wäre deswegen radikal, weil sie nicht in Deutschland ausbildet würden. „Der Islam“ brauche daher Steuereinnahmen, um die Ausbildung hier zu bewerkstelligen, um nicht auf fundamentalistische Import-Imame aus Tschetschenien oder dem arabischen Raum angewiesen zu sein.

Wer es zulässt, dass der saudische oder türkische Staat Imame in Deutschland finanziert, die weder Deutsch sprechen noch kritisch-aufgeklärt denken, darf sich nicht wundern, wenn die Glaubenspraxis vieler Muslime mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung weiterhin schwer vereinbar bleibt. Ein anderer Islam, einer, der auch normativ zu Deutschland gehörte, würde eine paar Euros kosten. Aber es wäre eine lohnende Investition.

Bittner tut so, als ob Christliche Kirchen die Priesterausbildung aus den Kirchensteuern bezahlten und daher eine Islamsteuer entsprechend einem staatliche kontrollierte Imam-Ausbildung in Deutschland ermögliche.
Das stimmt aber NICHT.
Denn das Theologiestudium wird in Deutschland vom Staat bezahlt. Die Bundesländer tragen die Kosten für die theologischen Lehrstühle und stellen die akademische Infrastruktur an den Unis.
Die Kirchen geben NULL EURO dazu.
Eine allgemeine Religionssteuer für den Islam würde also auf Imam-Ausbildung gar keinen Einfluss haben. Es bliebe Aufgabe der Länder entsprechende Strukturen und Lehrstühle aufzubauen.

2.)

Sehr plump wischt Bittner die Idee generell den Kirchensteuereinzug durch den Staat abzuschaffen vom Tisch. Mit keinem Wort geht er darauf ein, daß in jedem Land der Erde – außer Österreich und Deutschland, wo noch das Hitler-Konkordat gilt – die christlichen Kirchen ganz ohne Kirchensteuer finanziert werden.
Bekanntlich hat das in Polen, Spanien, Italien, der USA, Malta, den Philippinen, Argentinien, Mexiko oder Brasilien nicht zum Aussterben der Christlichen Kirchen geführt.

Aber die Abschaffung der Kirchensteuer ist, realistisch betrachtet, keine Alternative. Mit den knapp zehn Milliarden Euro jährlich werden in Deutschland so viele Kinderheime, Altenheime, Krankenhäuser und diakonische Dienste mitfinanziert, dass ohne diese verlässliche Finanzquelle eine essentielle Versorgungsstruktur wegbrechen würde.

Ich staune! Was für eine Frechheit. Denn gerade für die Kinderheime, Altenheime, Krankenhäuser werden durch die Kirchensteuer so gut wie gar keine Mittel aufgebracht. Weder durch die Diakonie, noch durch die katholische Caritas, die Bittner offensichtlich aus Unwissenheit gleich unter den Tisch fallen lässt.
Bis vor fünf oder zehn Jahren war tatsächlich wenig darüber bekannt, daß Kirchen eben NICHT ihre Kindergärten oder ihre Bischofsgehälter aus dem Kirchensteueraufkommen finanzieren. Inzwischen gab es darüber aber derartig viele Publikationen, Bücher, Zeitungsartikel, TV-Dokumentationen, daß eigentlich jeder wissen müßte, daß diese sozialen Einrichtungen vom Staat und somit hauptsächlich von der relativen Mehrheit der Atheisten und Muslime in diesem Lande finanziert werden.

Auf Topkleriker wie Kardinal Marx versuchen immer noch gerne den Eindruck zu erwecken die Kirchensteuermilliarden würden für soziale Zwecke ausgegeben. Wahrer wird es dadurch auch nicht.

Man muß es immer wieder betonen: Das gilt auch für Schulen und Kindergärten, die zu 100% staatliche finanziert werden.

Herr Marx, ich danke Ihnen. Ihre frechen Lügen machen es uns Atheisten sehr einfach gegen Sie und die RKK zu argumentieren.

Null Prozent Finanzierung durch die Kirche, aber 100 Prozent Hoheit über die private Lebensführung der dort Beschäftigten! Das dürfe wohl nicht sein! […]  Kirchliche Krankenhäuser werden nicht etwa aus der Kirchensteuer finanziert – wie die meisten Menschen glauben. Die Investitionen zahlt der Staat nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, die laufenden Kosten der Behandlung werden durch Beiträge der Versicherten über die Krankenkassen oder Zusatzbeiträge bezahlt. Damit ist es völlig unvereinbar, dass einer vergewaltigten Frau die Hilfe verweigert wird. […]  Die Eingriffe der Kirchen und ihrer Einrichtungen wie Caritas und Diakonie in die private Lebensführung ihrer rund 1,3 Millionen Beschäftigten passen nicht in die moderne Demokratie. Sie verstoßen auch gegen Grund- und Menschenrechte: Zum Beispiel gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Grundgesetz, wie das Bundesarbeitsgericht im Falle der Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus wegen Wiederverheiratung als Geschiedener entschieden hat.  Oder die Diskriminierung Homosexueller. Oder sie verstoßen gegen das Recht auf Streik nach Artikel 9 GG, wie mehrere Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht entschieden haben.
Oder gegen die Menschenrechtskonvention, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, als einem Organisten nach 14 Jahren untadeliger Arbeit wegen Ehebruch gekündigt wurde. Dieser Mann musste sich 13 Jahre lang durch 7 (!) Instanzen quälen, bevor er Recht bekam. Und dann der dauernde Verstoß gegen die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG, wenn zum Beispiel Krankenschwestern oder Pfleger in kirchlichen Krankenhäusern aus der Kirche austreten und dann gekündigt werden. Oder als Konfessionslose oder Muslime erst gar nicht hineinkommen. […]  Es ist doch geradezu absurd, dass bei den Kirchen für das ganze Personal inklusive Putzfrau, technisches Personal, Laborkräfte wichtige arbeitsrechtliche Schutzrechte und Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Und wenn – wie zum Beispiel im Rheinland – weit über die Hälfte der Krankenhäuser kirchlich sind, dann führt das eben dazu, dass bei der Berufsberatung eine Mitarbeiterin jungen Muslimen, die sich für eine Ausbildung im pflegerischen Bereich interessieren, davon abrät, weil sie in der Gegend hier keine Arbeitsstelle finden würden!!
[…]  In vielen Gegenden finden Sie überhaupt keine nichtkonfessionellen bzw. städtischen Kindergärten. Mein Mann und ich haben das selbst erlebt, dass unsere Kinder im katholischen Kindergarten in Königswinter nicht aufgenommen wurden, weil wir und die Kinder nicht in der Kirche waren. Das ist nun wirklich toll: Mit meinen Lohn- und Einkommensteuerzahlungen als Konfessionsfreie bezahlt die Stadt den katholischen Kindergarten fast oder ganz komplett mit der Folge, dass man danach seiner Kinder nicht hineinbekommt.
[…]  Den Kirchen ist es gelungen, diesen Irrglauben zu verbreiten. Dabei steht fest, dass die Kirchensteuer nur zu einem Bruchteil von unter 5 % für soziale Zwecke ausgegeben wird. Der frühere Caritasdirektor und Finanzdirektor der Erzdiözese Köln, Norbert Feldhoff, hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Kirche die Kirchensteuer nicht benötigt, um die Sozialarbeit zu finanzieren. […] 

Ich kritisiere also keineswegs die transportierte MEINUNG der ZEIT.
Ich kann es aber nicht akzeptieren, wenn wieder und wieder massive Falschinformationen verbreitet werden.
Lesen Sie zur Einführung Carsten Frerks „Violettbuch Kirchenfinanzen“ und legen Sie sich etwas Faktenkenntnis zu, bevor Sie wieder ihre Ausführungen zur Kirchensteuer kundtun.
Oder wenn Sie kein ganzes Buch lesen mögen, sehen sie sich wenigstens zum Beispiel die 45-Minuten-ARD-Reportage Vergelt's Gott: Der verborgene Reichtum der katholischen Kirche an.

Und lieber Herr di Lorenzo – auch wenn ich immer noch monatlich Briefe bekomme, die mir ein ZEIT-Abo anpreisen: Das wird nichts, solange ich nicht den Eindruck habe, daß sich die journalistische Qualität verbessert.



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