Schon seit einigen Jahren schwappen erstaunte Berichte über
das Massenphänomen der Hikikomori aus Japan zu uns.
(….)Ich frage mich aber, ob das relativ neue Phänomen der Hikikomori nicht in
Wahrheit die Kehrseite der massenhaft unterdrückten Exzentrik ist.
Gehen Millionen Japaner aus Notwehr gegen die ihnen unmögliche totale
Anpassung und Unterordnung in die innere Immigration?
Als Hikikomori (jap. ひきこもり, 引き籠もり oder 引き篭り, „sich einschließen;
gesellschaftlicher Rückzug“) werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich
freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur
Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. [….] Das japanische Gesundheitsministerium definiert
als Hikikomori eine Person, die sich weigert, das Haus ihrer Eltern zu
verlassen, und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der
Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori
für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben.
Beschrieben wurde das Phänomen
erstmals durch den japanischen Psychologen Tamaki Saitō, der auch den Begriff
prägte. Er behauptete, es gäbe in Japan (ca. 127 Millionen Einwohner) mehr als
eine Million Hikikomori.
(Wikipedia)
Über die Ursachen wird viel spekuliert.
Vermutlich werden Hikikomori mit dem Druck in der Schule überfordert,
leiden unter Mobbing („Ijime“) und scheitern dann an dem Übergang ins
Erwachsenenleben.
Erschwerend kommt hinzu, daß auch in Japan die wirtschaftliche Lage
angespannt ist und Jobs schwerer zu finden sind.
Kinder, die einfach zu Hause in ihrem Kinderzimmer sitzen bleiben, bis die
Eltern sterben, gibt es immer mehr.
Joe [35 Jahre] ist
einer der vielen jungen Japaner, die sich von der Gesellschaft abkapseln und
ganz auf sich selbst zurückgezogen leben. Er ist ein „Hikikomori“, einer, „der
sich zurückgezogen hat“. Ihre Anzahl wird auf über eine Million geschätzt,
vielleicht sind es auch deutlich mehr, und sie erzählen viel über das heutige
Japan. [….] Und nun gehe ich mit Joe
allein in sein Kinderzimmer unter dem Dach. Er richtet seine Matratze vom
Fußboden auf und lehnt sie senkrecht an die Wand, damit wir Platz haben. Wir
setzen uns an seinen Schreibtisch, das einzige Möbelstück. Fast komme ich mir
vor wie in einer Zelle. Das liegt nicht an der Enge, die ist normal in Japan.
Es liegt daran, dass Joe die Fenster mit Papier verklebt hat. „Ich möchte
nicht, dass mir die Leute von den benachbarten Bürogebäuden ins Zimmer schauen
können“, sagt er. Zudem will er nichts vom Berufsverkehr draußen mitbekommen.
Er sagt: „Am unerträglichsten ist es, wenn ich morgens all die Pendler sehe,
die vom Bahnhof kommen und zur Arbeit gehen.“ In solchen Momenten wird ihm
jedes Mal bewusst, dass er die Erwartungen nicht erfüllt hat. [….] Dass er anders ist, das zeigte sich schon
früh. Bei der Schulgymnastik drehte er sich nach rechts, wenn er sich nach
links drehen sollte. Ständig kam er auf eigene Ideen, seinen Lehrern und
Mitschülern ging er damit bald auf die Nerven. Abweichler haben es schwer in
japanischen Schulen, wo das Lernziel Anpassung heißt, nicht Kritikfähigkeit. […]
Japan befinde sich in einer tiefen
Sinnkrise, sagt Psychiater Takagi. Spätestens nach der erfolgreichen Jobsuche
würden viele Uni-Absolventen in ein Loch fallen. „Sie verstehen plötzlich nicht
mehr, wofür sie gelernt haben, wofür sie überhaupt leben. Sie werden
depressiv.“ Hinzu kommt, dass die japanischen Konzerne im Zuge der
Globalisierung massenhaft Fabriken in Billiglohnländer wie China verlagert
haben. Die lebenslange Arbeitsplatzgarantie und die automatische Beförderung
gelten für immer weniger Beschäftigte. Rund 40 Prozent der Japaner arbeiten
mittlerweile ohne feste Anstellung. Joe kapselte sich ab, bei seinen Eltern hat
er ja alles, was er braucht: Essen, Bett, Computer. Ein Handy besitzt er nicht,
aber wen sollte er auch anrufen?
(Der SPIEGEL 05.01.15 s. 89 f)
Vielleicht ist es an der Zeit eine neue Minderheit in den Fokus der
öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken.
Nach Frauen, Schwarzen, Schwulen und Atheisten muss sich die Welt auch auf
Konformitätsverweigerer, Sozialphobiker, Exzentriker und Unangepasste
einstellen, die derzeit eher versteckt werden und jährlich zur Freude der
Pharmakonzerne viele Millionen Packungen Selektive
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Neuroleptika verzehren. (…..)
Offenbar gab es in den letzten paar Jahren kein Rezept der
inneren Immigration entgegen zu wirken.
Japaner werden immer ungeselliger und asexueller.
Auch in Deutschland wird bereits (zB von Prof. Karl
Lauterbach) ein „Einsamkeitsministerium“ gefordert, da sich immer mehr Menschen
durch Smartphones, soziale Medien und vor allem Computerspiele erst in eine
virtuelle und dann eine isolierte Welt zurückziehen.
[….] Vor ein paar Tagen brachte der Gesundheitsabgeordnete der SPD Karl
Lauterbach eine seiner Ideen jetzt schon zum zweiten Mal vor. "Bisher
wurde die Zahl der Krankheiten, die durch Einsamkeit ausgelöst werden,
unterschätzt", sagte er der "Welt am Sonntag". "Neueste
Forschungsergebnisse beweisen, dass diese häufig psychischen Leiden wie
Depressionen, Angststörungen, aber auch starke Erkrankungen des
Herz-Kreislauf-Systems oder Demenz auslöst."
Lauterbach richtet den Blick deshalb nach Großbritannien: Dort wurde
schon Anfang letzten Jahres ein "Einsamkeitsministerium"
eingerichtet, das sich darum kümmern soll, Menschen aus ihrer Einsamkeit
herauszuhelfen. Ähnlich solle das laut Lauterbach auch bei uns in Deutschland
ablaufen. [….]
Die zunehmende Vereinsamung der Menschen auf Internet-Games
zurückzuführen, ist natürlich zu monokausal.
Es gibt viele andere Ursachen, wie zum Beispiel die immer
geforderte Job-Flexibilität, die Menschen dazu bringt, immer wieder ihr
gewohntes soziales Umfeld zu verlassen und sich an neuen Orten einzufinden.
Einsamkeit muss man sich außerdem leisten können, denn das
Alleinsein funktioniert nur ab einem gewissen Wohlstand, der jedem Individuum
einen eigenen Haushalt erlaubt. Der ökonomische Boom beschleunigt also auch den
Trend zum Singledasein. Wozu früh heiraten oder bei den Eltern wohnen, wenn man
sich auch eine eigene Wohnung mit allen Freiheiten leisten kann?
Allein zu leben wird allerdings immer noch gesellschaftlich
geächtet. Man unterstellt Menschen, die allein sind, automatisch auch einsam zu
sein; dabei sind das natürlich zwei völlig verschiedene Phänomene.
Einladungen richten sich an Paare, Singles müssen sich immer wieder unangenehme Fragen anhören – „wieso findest du keinen Partner? – und natürlich propagieren alle Parteien und die gesamte Werbeindustrie wie selbstverständlich immer das Bild von der Familie, protzen damit Familien zu fördern, geben gewaltige steuerliche Nachlässe für die bloße Tatsache verheiratet zu sein.
Einladungen richten sich an Paare, Singles müssen sich immer wieder unangenehme Fragen anhören – „wieso findest du keinen Partner? – und natürlich propagieren alle Parteien und die gesamte Werbeindustrie wie selbstverständlich immer das Bild von der Familie, protzen damit Familien zu fördern, geben gewaltige steuerliche Nachlässe für die bloße Tatsache verheiratet zu sein.
Wer in einer Stadt wie Hamburg, die über 50% Singlehaushalte
aufweist, vor Wahlen gezielt die Parteiprogramme durchsucht, um festzustellen,
welche Partei sich für Singles engagiert, findet keine einzige.
All das führt zu einer unterschwelligen kontinuierlichen
Diskriminierung Alleinstehender, die zu allem Übel auch noch bedauert werden.
Wer aber nicht einsam ist, will kein Mitleid.
Meiner Ansicht nach ist die logische Fortsetzung dieser
Gemengelage bei zunehmender ökonomischer Unsicherheit, tatsächlich der völlige
soziale Rückzug.
Auch in Deutschland gibt es Hikikomori. Sie nennen sich aber
nicht so, werden nicht als solche erkannt und fallen natürlich nicht auf.
Schon gar nicht in einer Medienwelt, die Hochzeits-
Verkupplungs- und Datingshows produziert, die ganz selbstverständlich davon
ausgehen, jeder Single wolle das schreckliche Singledasein unbedingt beenden.
Klar, daß sich diejenigen, die gern Single sind, oder auch
die Einsamen, für die aber keine Partnerschaft in Frage kommt, zurückziehen.
In Japan ist man uns voraus.
1,2 Millionen Hikikomori leben mittlerweile komplett
isoliert und spartanisch meist in ihrem ehemaligen Kinderzimmer.
Das kann außerordentlich bedenkliche Folgen haben.
Der 44-Jährige Tokioer Eiichiro, Sohn des Vize-Landwirtschaftsminister
und späteren japanischen Botschafters in Prag Hideaki Kumazawa, war fast drei Jahrzehnte
Hikikomori. Niemand wußte davon, da Mitleid keine japanische Tugend ist. Es
wäre außerordentlich ungehörig über seine privaten Probleme zu sprechen, oder
gar um Hilfe zu bitten und so breiteten seine Eltern aus Scham über die
Erfolglosigkeit ihres Sprösslings einen Mantel des Schweigens über ihn. Persönliches Leid muss in Japan unter allen
Umständen verheimlicht werden.
Bis letzte Woche.
Da erstach Hideaki Kumazawa seinen Sohn – um Schlimmeres zu
verhindern. Anschließend rief er gefasst und höflich die Polizei; sie möge ihn
abholen; er habe gerade sein Kind töten müssen.
[…] Viele Hikikomori terrorisieren ihre Angehörigen, vor allem ihre Mütter.
Verbrechen aus dieser Bevölkerungsgruppe gab es dagegen bisher kaum. Bis
vorvergangenen Dienstag ein Hikikomori wegen einer grausamen Tat in die
Schlagzeilen geriet: Der 51-jährige Mann überfiel in Noborito am Rande von
Tokio mit zwei Messern bewaffnet wildfremde Menschen, die auf ihre Busse
warteten, unter ihnen viele Schulkinder. Er tötete eine Elfjährige und einen
Diplomaten und verletzte 17 weitere Personen, die meisten davon Kinder. Danach
richtete er sich selbst. Sein Motiv ist unklar, aber japanische Medien suchen
die Ursache des Amoklaufs in der sozialen Isolation des Täters. Die Tat in
Noborito und die Berichte darüber erschreckten den früheren Vizeminister
Kumazawa. Er sagte im Polizeiverhör, er habe befürchten müssen, sein Sohn
könnte den Täter kopieren. […] Der
44-jährige Sohn des ehemaligen Vizeministers hatte sich seit seiner Unizeit in
der eigenen Wohnung isoliert, die Mutter kam regelmäßig zum Saubermachen. Dabei
soll der Sohn sie oft geschlagen haben. […]
Am vorvergangenen Wochenende, drei Tage vor der Tat von Noborito, war
der Sohn ungebeten ins Haus seiner Eltern zurückgekehrt. Er nistete sich im
Erdgeschoss ein. Das alte Paar zog sich nach oben zurück und versuchte, so
geräuschlos wie möglich zu sein. Dennoch habe der Sohn sie angegriffen, er sei
gewalttätig geworden. Beide erlitten Prellungen. Wütend schreiend soll er sich
vorigen Samstag über den Kinderlärm von der benachbarten Schule beschwert
haben. "Ich werde sie alle umbringen." Danach will der Vater seiner
Frau gesagt haben: "Wenn er wieder gewalttätig wird, ist die einzige
Lösung, ihn zu töten." Wenige Stunden später rief Kumazawa die Polizei, er
habe seinen Sohn mit einem Küchenmesser erstochen. [….]
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