In der vorletzten deutschen Regierung, der Merkel-Groko Nr. 2, verfielen SPD, CDU und CSU auf eine bahnbrechende Idee. Wie wäre es, wenn die Bürger nicht mehr persönlich „zum Amt“ gehen müssten, um endlose Formulare auf Papier auszufüllen, sondern dafür diese wundersame neue Dings, wie heißt das noch mal? Also nicht mit Fragebögen auf Papier, nicht mit dem Kugelschreiber schreiben, na, ich komme gleich drauf, ach ja #Neuland! Wenn Bundesbürger Ummeldungen oder Anträge auf dem Bildschirm zu Hause erledigen könnten? Ein Onlineportal für alle Ortsamtsleistungen.
Also natürlich nicht so hypermodern wie in den baltischen Staaten oder der Ukraine, wo die Verwaltung generell digital funktioniert.
Das nicht, denn „es ist Deutschland hier“, wie schon der große G. Westerwelle feststellte. Deutschland…
[….] in dem es behördlicherseits schon als eine "Onlineleistung" gilt, wenn man ein Formular am Laptop ausfüllen kann, auch wenn man es am Ende dann doch wieder ausdrucken und per Post abschicken muss. [….]
(Boris Herrmann, SZ, 30.08.2022)
Aber 2017, im Wahljahr, traute sich die Merkel-Regierung Großes. Eine „bürokratische Revolution, keine dicken Pakete mit Zetteln.
[….] Mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG), das im August 2017 in Kraft trat, wurden Bund, Länder und Kommunen dazu verpflichtet, 575 Verwaltungsdienstleistungen zu digitalisieren, die wiederum aus 6000 Einzelleistungen bestehen. Kfz-Ummeldungen, Kindergeldanträge, solche Dinge sollten digital möglich werden. Und das alles bis zu einem klar vorgegebenen Stichtag, dem 31. Dezember 2022. [….]
(Boris Herrmann, SZ, 30.08.2022)
Ach ja, die Papiersammlungen meines Einbürgerungsverfahrens, welches seit vielen Jahren dahinplätschert, waren stets so umfangreich, daß ich sie als Paket schicken musste. Ich wußte gar nicht, daß ich überhaupt so viele Papiere habe. Aber es geht schließlich nicht nur um alles, das ich je auf Papier produzierte – angefangen von Schulzeugnissen über sämtliche Bank- und Steuerunterlagen, sondern das ganze musste auch zwei Generationen zurück verfolgt werden. Circa einmal im Jahr erhalte ich ein Schreiben, mit der Bitte um eine letzte Auskunft. Zum Beispiel wo meine Mutter geboren wäre und wo sie vor 72 Jahren lebte. Natürlich Jahre nachdem ich sämtliche Urkunden (Geburtsurkunde, Lebenslauf, Einkommensnachweise, Vermögensverhältnisse, Hochzeit, Scheidung, Tod) meiner Eltern längst eingereicht hatte. Logisch, wer keine Meldebestätigung seiner Großeltern zu jedem beliebigen Zeitpunkt des letzten Jahrtausends vorlegen kann, darf auch nicht Deutscher werden.
Selbstverständlich habe ich seit dem Oktober 2021 nie wieder etwas von der Behörde gehört und dort auch niemanden erreicht.
Da nun fünf Jahre seit der Verabschiedung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) verstrichen sind, ist es an der Zeit mal nachzusehen, wie weit es die Blitzbirnen Seehofer, Scheuer und ihre Länderkollegen gebracht haben.
Haben wir unter der Aufsicht dieser IT-Genies und der weisen treibenden Aufsicht Merkels aufgeholt und liegen bei der Digitalisierung nicht mehr auf dem letzten Platz in Europa? (Rhetorische Frage)
[….] Bis Ende des Jahres sollten eigentlich die meisten Behördengänge auch online möglich sein. Doch bei der Digitalisierung hakt es an vielen Stellen. [….] Eine Waffenbesitzkarte online beantragen, das geht in Berlin. In Stuttgart kann man seinen Hund digital anmelden. Für einen neuen Personalausweis oder die Anmeldung des Wohnsitzes muss man weiterhin persönlich aufs Amt. Der Grund sind zum Teil rechtliche Hürden, vor allem aber ist die Digitalisierung der deutschen Verwaltung nach wie vor eine riesige Baustelle. Das zeigt auch eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke. Die Antwort des für die Behördenmodernisierung zuständigen Bundesinnenministeriums (BMI) liegt dem ARD-Hauptstadtstudio exklusiv vor. Es ist ein Dokument des Schulterzuckens, in dem der Bund immer wieder auf Länder und Kommunen zeigt. Digitale Aufbruchstimmung oder gar digitaler Führungsanspruch, wie sie die Ampel doch eigentlich versprochen hat, sucht man vergebens. Dabei fällt beispielsweise auf, dass viele Gelder, die der Bund für die Digitalisierung der Verwaltung bereitstellt, dieses und vergangenes Jahr von den Ländern nicht abgerufen wurden. Aus Sicht des BMI scheint das unproblematisch zu sein, weil am Anfang von Projekten weniger Mittel gebraucht würden als im Fortgang. Faktisch heißt es aber, es geht sehr langsam voran. Anke Domscheit-Berg, digitalpolitische Sprecherin der Linksfraktion ist wenig überrascht, aber ernüchtert: "Es zeigt, dass Bund, Länder und Kommunen nicht an einem Strang ziehen." [….] Eigentlich müssten Behörden die meisten Verwaltungsdienstleistungen - vom Arbeitslosengeld bis zur Sterbeurkunde - bis Jahresende bundesweit digital anbieten - so lautet die Vorgabe im Onlinezugangsgesetz (OZG), das 2017 verabschiedet wurde. Von diesem Ziel hat sich die Bundesregierung aber wohl schon verabschiedet und setzt nun darauf, dass in den Ländern wenigstens ein Grundgerüst an Leistungen flächendeckend online zur Verfügung steht. [….] Dabei geht es um sogenannte Einer-für-alle-Projekte, also Onlinedienste für Verwaltungsleistungen, die von einem Bundesland entwickelt und betrieben werden und von anderen genutzt werden können. Dazu gehören etwa die KFZ-Zulassung, das Elterngeld, die digitale Baugenehmigung - und eben auch die Beantragung von Waffenerlaubnissen, zeigt die Auflistung des Ministeriums. "Das macht mich wirklich fassungslos", sagt Digitalpolitikerin Domscheit-Berg. [….] Auch Wissenschaftlerin Heine hat Zweifel, dass zumindest die 35 priorisierten OZG-Leistungen bis Ende des Jahres flächendeckend nutzbar sind, denn laut Innenministerium ist bislang nicht mal die Hälfte verfügbar. [….] Dass eine Leistung als digital verbucht wird, heißt nicht, dass sie wirklich durchdigitalisiert ist, kritisieren Fachleute. Zwar kann man vielleicht seine Eingaben für einen Antrag online machen, in der Behörde selbst wird dann trotzdem wieder alles ausgedruckt und analog verwaltet, sagt Expertin Heine. "Viele Prozesse im Hintergrund sind überhaupt nicht digitalisiert. Jeder wurschtelt vor sich hin." [….]
Die Süddeutsche Zeitung bietet zumindest eine einleuchtende Erklärung für das totale Regierungsversagen auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene: Wie bereits Westerwelle als Vizekanzler feststellte: Es ist Deutschland hier und wir sind nun einmal generell verblödet. Das gilt für die Politik, aber noch mehr für den Urnenpöbel, der nach einen halben Jahr Ampel schon wieder den Offline-Dinosaurier Merz zum Kanzler machen will und sich die Scheuers und Spahns zurück in die Ministerämter wünscht.
[….] Und das alles bis zu einem klar vorgegebenen Stichtag, dem 31. Dezember 2022. 18 Wochen sind bis dahin noch Zeit, aber das Ergebnis steht schon fest: Deutschland wird die Zielmarke von 575 nicht einmal ansatzweise schaffen. Das sagt zum Beispiel Lutz Goebel, der Vorsitzende des Normenkontrollrats, einer Art Kompetenzzentrum für Bürokratieabbau der Bundesregierung. Goebel geht davon aus, dass bis zum Jahresende "nicht mehr als 50" Verwaltungsdienstleistungen flächendeckend digitalisiert sein werden. 50 von 575. [….] Das für die Umsetzung dieses Gesetzes zuständige Bundesinnenministerium (BMI) rechnet offenbar anders als der Normenkontrollrat. Eine BMI-Sprecherin teilt auf SZ-Anfrage mit: "Zur Zeit sind 81 OZG-Leistungen flächendeckend verfügbar. Eine weitere Leistung ist in elf Bundesländern verfügbar." So viel erst einmal zur gröbsten Zahlenverwirrung. Fest steht: Die Revolution muss noch ein bisschen warten. Was immer klappt: gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen föderalen Ebenen. [….][….] Wie viel genau bis jetzt passiert ist, gehört zu den großen Mysterien des OZG.
(Boris Herrmann, SZ, 30.08.2022)
Wir schaffen also in fünfeinhalb Jahren keinerlei Fortschritte bei der Digitalisierung? Immerhin gibt es nun eine pragmatische Idee, wie es damit weiter geht. Einfach eine andere Frist zum Verstreichen lassen setzen! Konsequenzen keine.
Es ist Deutschland hier.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Feedback an Tammox