Sonntag, 12. Januar 2020

40 Jahre Grüne

In den letzten Tagen habe ich so viele Rückblicke und Würdigungen der vier Dekaden „Grüne“ gelesen, daß ich es schon singen kann.
Da ich zufällig in einem Alter bin, in dem ich fast die gesamte Geschichte aufmerksam verfolgte, staune ich immer noch etwas darüber mit welcher Selbstverständlichkeit sich heute Grüne und CDU aneinanderwanzen. Ich erinnere noch sehr gut, mit welchem abgrundtiefen Hasse der ewige CDU-Vorsitzende und Endlos-Bundeskanzler Kohl auf die Grünen im Bundestag reagierte. Kohl, der damals erklärte, es wäre sicher, in zwei Jahren habe sich der Spuk erledigt, die Grünen würden sich auflösen und „zur SPD rübermachen“.
Die unglaubliche Empörung, die auf Joschka Fischers erste Ernennung zum Landesminister losbrach. Die gesamte JU-Fraktion meiner Schule lief Amok, prophezeite den völligen ökonomischen Exitus Hessens.
Die ersten Grünen des Jahres 1980 waren eine wirklich im besten Sinne des Wortes „bunte Truppe“, in der sich die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte zusammenfanden, um basisdemokratisch, feministisch und sozial ökologische Politik zu machen. Dieser Zusammenschluss war eine enorme Errungenschaft und natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß bei so vielen Partikularinteressen in einer derart heterogenen Partei im Laufe der Jahre immer wieder Gründungsmitglieder nach Links und rechts absprangen, mit dem aktuellen Kurs haderten.
Wirklich spektakulär ist es eher, daß der ursprünglich ganz linke Hamburger Landesverband der Grünen sich im Laufe der Jahren konsequent und ohne zu mäandern nach rechts bewegte und im Jahr 2020 viel konservativer als SPD oder FDP fest an der Seite der CDU steht.

Demoskopisch ist der neue Rechts-Kurs der Elb-Grünen ein voller Erfolg. Man bewegt sich auf die 30%-Marke zu und könnte bei der Bürgerschaftswahl 2020 stärkste Partei werden.
Auch im stramm rechten CDU-affinen Landesverband Baden-Württemberg funktioniert dieser Kurs; bei den Landtagswahlen am 13.03.2016 holte der Autoindustrie-freundliche, erzkatholische und flüchtlingskritische Winfried Kretschmann, der bekundete jeden Tag für Angela Merkel zu beten stolze 30,3%; Ende 2019 wurden sogar bis 38% für die Grünen in BW demoskopisch ermittelt.
Ein sehr ähnliches Bild gibt es in Hessen; auch der dortige Landesverband ist extrem nach rechts gerutscht, harmoniert prächtig mit der nationalkonservativen Hessen-CDU und schickt sich an stärkste Partei des Landes zu werden.
Die frommen und nationalen Grünen auf Erfolgskurs.

Heute werden skandalöse marktradikale Grünen-Vorschläge ohne irgendein bemerkbares Murren ventiliert.
Bestes Beispiel dafür ist der Grünenpapier zu den Arzneimittelengpässen.
Wie immer mehr Medien seit Jahren berichten, haben Apotheken mehr und mehr Schwierigkeiten alle benötigten Präparate für Kassenpatienten zu besorgen.

[…..] Dr. Michael Baehr ist an einer der modernsten Kliniken Deutschlands für den zentralen Arzneimitteleinkauf verantwortlich. Täglich versucht er, solche wichtigen Arzneien bei verschiedenen Pharmahändlern einzukaufen – und das weltweit.  Doch immer öfter stoßen Ärzte und Apotheker an ihre Grenzen, weil wichtige Medikamente einfach nicht lieferbar sind. Dieses Problem trifft alle Patienten, egal ob im Krankenhaus oder in der öffentlichen Apotheke, Baehr. Er kämpft täglich darum, die benötigten Arzneien zu bekommen und momentan ist es wirklich brisant. Diese Situation ist Baehr in einem Industrieland wie Deutschland unverständlich. […..]

274 Medikamente sind derzeit nicht lieferbar, weil die raffgierigen Pharmakonzerne in völlig unverantwortlicher Weise nur sehr viel teurere Alternativen zur Verfügung stellen.
Die Unterschiede sind gewaltig.
Meine Eltern gehörten zu den über eine Millionen Menschen, die dauerhaft Blutverdünner nehmen mussten.
Das Mittel der Wahl – damals: Phenprocoumon = Rattengift. Bekannter unter dem Namen Marcumar.
Preis: 98 Stück für 12,50 Euro.
Da man oft nur eine Viertel Tablette am Tag braucht, reichen diese 12,50 Euro für ein ganzes Jahr.
Der alte Herr, den ich betreue, bekommt seit zwei Jahren statt Marcumar das moderne Mittel Xarelto zur Blutverdünnung.
98 Stück Xarelto 20mg von Bayer kosten 320,80 Euro; man muss immer eine am Tag nehmen. Das sind knapp 1.200,- im Jahr, also nahezu exakt der hundertfache Verdienst für die Pharmaindustrie.


Der Plan der Grünen dagegen: Brummt die Verhundertfachung der Kosten den Kassenpatienten auf und schont dafür die Privatpatienten und schont insbesondere die Pharmariesen!

[…..] Die in die­ser Wo­che be­kannt ge­wor­de­nen Plä­ne der Grü­nen, wie die Lie­fer­eng­päs­se in der Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung be­kämpft wer­den könn­ten, sto­ßen auf Kri­tik. Der re­nom­mier­te Wis­sen­schaft­ler Gerd Gla­es­ke hält die Ide­en für »we­nig durch­dacht«. Min­des­tens 274 Me­di­ka­men­te gel­ten der­zeit als nicht lie­fer­bar, dar­un­ter Krebs­mit­tel und An­ti­de­pres­si­va. Nach dem Wil­len der Grü­nen sol­len Kran­ken­kas­sen die Mehr­kos­ten der Pa­ti­en­ten für Aus­weich­prä­pa­ra­te über­neh­men. »War­um soll­ten Ver­si­cher­te mit ih­ren Bei­trä­gen da­für auf­kom­men, dass Phar­ma­un­ter­neh­men nicht lie­fern kön­nen und teu­re Al­ter­na­ti­ven not­wen­dig wer­den?«, so Gla­es­ke, der Apo­the­ker ist und an der Uni­ver­si­tät Bre­men forscht. »Dies ist für mich ein völ­lig un­nö­ti­ger Schutz der Phar­ma­bran­che, die zu den pro­fi­ta­bels­ten über­haupt ge­hört.« Die Kon­zer­ne soll­ten viel­mehr die Kos­ten für Er­satz­prä­pa­ra­te tra­gen. In dem Pa­pier heißt es zu­dem, der Arz­nei­mit­tel­groß­han­del sol­le Pro­ble­me an eine Art Eng­pass­re­gis­ter mel­den. Das er­ge­be we­nig Sinn, so Gla­es­ke. Die Kran­ken­häu­ser, die haupt­säch­lich von den Lie­fer­eng­päs­sen be­trof­fen sei­en, wür­den ihre Me­di­ka­men­te in der Re­gel nicht nur über den Groß­han­del ein­kau­fen, son­dern auch di­rekt bei Her­stel­lern. […..]
(DER SPIEGEL Nr 03/20, 11.01.20, s.63)

Dreisteren Pharmalobbyismus gibt es noch nicht mal bei dem klassischen Privatkrankenkassenverband FDP.
(Unnötig zu erwähnen, daß Jens Spahn nicht handelt.)


1 Kommentar:

  1. '274 Medikamente sind derzeit nicht lieferbar, weil die raffgierigen Pharmakonzerne in völlig unverantwortlicher Weise nur sehr viel teurere Alternativen zur Verfügung stellen.'

    Soviel zum Thema: Privatisierte Unternehmen können alles besser.

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