Donnerstag, 30. Juni 2016

Lügengrenzen?

Sascha Lobo hat mal wieder einen rausgehauen.
Es ging um den „Bullshit 9.0“, der eine ganz neue Form der Großlüge darstellt.

In Zeiten von Donald Trump und Boris Johnson ist ein neues Kommunikationsmuster auf dem Vormarsch: der Bullshit 9.0. Dass dieser so erfolgreich ist, liegt auch am Internet - und am Publikum.
[….] Ein 1986 erschienener Aufsatz wurde als Büchlein 2005 ein internationaler Bestseller: "On Bullshit" von Harry G. Frankfurt. Elf Jahre nach dem Zweiterscheinen bräuchte es eine erweiterte, komplett überarbeitete Neufassung. Denn die Welt wird geflutet von der neuen, vergiftenden Form des Bullshit - toxic bullshit, Bullshit 9.0.
Frankfurts Bullshit bezog sich auf eine "Indifferenz gegenüber der Realität", Kommunikation als Füllschaum ohne Bezug zur Wahrheit (was nicht unbedingt "Lüge" bedeutete). Der brandneue Bullshit 9.0 erklimmt die nächste Ebene. Der fehlende Bezug zur Wahrheit wird ergänzt durch die Abwesenheit jeder Konsistenz und, wenn notwendig, verquirlt mit Selbstrelativierung.

Lügner, die sich selbst ungeniert widersprechen und zudem auch noch so willkürlich lügen, daß ihr Gerede ohnehin unglaubwürdig und absurd klingt, können heute US-Präsident werden.


Es ist beeindruckend, daß ein Lügner wie Trump sich nicht wenigstens auf ein, zwei falsche Zahlen festlegt, sondern frei oszillierend jede beliebige Zahl raushaut.

Mit jemandem, der so etwas ernsthaft sagt, ist keine Diskussion möglich. Es fehlt das Fundament der Kommunikation: Konsistenz. Und dass A wirklich A heißt und nicht zugleich auch B oder auf Twitter Y oder doch Q und morgen rückwirkend Z. Das ist Absicht, denn Bullshit 9.0 ist Bullshit plus Täuschung plus Bigotterie. Bullshit 9.0 ist damit ein Instrument, um politische Verantwortung für die eigene Kommunikation zu minimieren: strategische Wirkhülsen von Kommunikation.
Die so kommunizierende Politik bekommt dabei tatkräftige Mithilfe eines Teils der redaktionellen Medien, der ohne jede Scham dieses Kommunikationsmuster übernimmt. Politische und mediale Lügen sind natürlich nicht neu, aber die offene, funktionale Dreistigkeit ist es - in Verbindung mit der digital-sozialen Öffentlichkeit. Denn die stört sich nicht daran, sondern belohnt das Verhalten noch. Das Traurigste, Empörendste an toxischem Bullshit 9.0 ist, dass er funktioniert. Bullshit 9.0 wirkt.
Damit ist jede Klage in Form der Beschwerde über "die da oben" unvollständig falsch. Denn das Publikum trägt mindestens die Hälfte der Verantwortung für den Aufstieg dieser politischen Kommunikationsform. Das Publikum glaubt das Getöse vielleicht nicht, aber bezieht es in den Diskurs mit ein, wenn es in den Kram passt.
Mehr noch: Die halbe soziale Medienwelt interessiert sich nicht für Konsistenz und sagt in einem einzigen Satz eine Behauptung und ihr Gegenteil: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber sie müssen raus." Die "Washington Post" schrieb von einer "post-fact world", einer nicht mehr tatsachenbasierten Weltsicht.

Was Trump kann, können die britischen Populisten Farage und Johnson auch.
Innerhalb von Stunden nach dem Referendum haben sie ihre drei zentralen Brexit-Argumente kassiert.
Was schert mich mein dummes Geschwätz von gestern?

[….] Noch deutlicher wird die Kehrtwende bei führenden Politikern der "Leave"-Kampagne. Im Wahlkampf verbreiteten sie Lügen über die EU und falsche Versprechen über eine glorreiche Zukunft nach dem Brexit. Nicht einmal eine Woche später haben sie wichtige Punkte ihrer Kampagne bereits kassiert. Die Slogans der Umfaller im Überblick.

Vor dem Referendum:
"Wir schicken 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel. Lasst uns das Geld lieber für unser Gesundheitssystem nutzen."
Jetzt:
"Diese Aussage war ein Fehler der 'Leave'-Kampagne." (Nigel Farage, Ukip-Parteichef)
[….][….]

Vor dem Referendum:
"Lasst uns wieder die Kontrolle über unsere Grenzen übernehmen"
Jetzt:
"Wir haben nie versprochen, dass wir die Einwanderung radikal reduzieren." (Daniel Hannan, Europaabgeordneter der Konservativen)
[….][….]

Die just mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandles wohlverdient ausgezeichnete Carolin Emcke schreibt allerdings, auch Trumps Megalügen hätten eine Grenze.
Es gäbe eine Sache, die selbst seine fanatischen Fans nicht verzeihten.
Und das sind Zweifel an seiner eigenen Großartigkeit.
Bisher hatte Trump nämlich nur einen Programmpunkt: Ihn selbst. Er sei der Klügste, Beste, Schönste und Reichste. Daher stehe er auch über der Realität, zumal er auch noch den größten Penis habe!
Hat er aber womöglich doch nicht so viel Geld wie er immer behauptet?
Das wäre doch ein Scheidungsgrund für viele seiner Anhänger, mutmaßt Emcke.

[….] Es ist diese Abwandlung des Gründungsmythos, an die der Präsidentschaftskandidat Donald Trump in seinem Wahlkampf bislang hemmungslos appelliert hat: Erfolg dem Erfolgreichen. Die wesentliche Qualifikation, die Trump an Trump zu preisen hatte, war seine ökonomische Potenz. Und das schien zu reichen. Seit Anfang dieser Woche hat das One-trick-Pony, das in der kapitalistischen Manege nur das Kunststück des eigenen Reichtums aufzuführen wusste, allerdings ein Problem: Der "Federal Election Commission Report" veröffentlichte die Zahlen der Wahlkampf-Etats der beiden Präsidentschaftskandidaten, und demnach verfügte die Kampagne des Multimilliardärs Trump Ende Mai nur noch über schlappe 1,3 Million Dollar (im Vergleich zu Hillary Clintons Etat, der stolze 42 Millionen Dollar aufwies). "Ich verstehe von Geld mehr als jeder andere", suchte Trump in seiner gewohnt bescheidenen Art die Fragen nach dem finanziellen Debakel abzuwehren. Aber der Bericht der Kommission lässt daran mächtig Zweifel aufkommen. Denn offensichtlich sammelt Donald Trump nicht nur bemerkenswert wenig Spendengelder (lediglich 3,1 Millionen Dollar im vergangenen Mai), vor allem aber gibt er mehr aus (nämlich 6,7 Millionen). 2,2 Millionen Dollar lieh die Privatperson Trump zudem dem Kandidaten Trump.
[….]  Dem Präsidentschaftskandidaten wurde bislang nahezu alles verziehen: sein grobschlächtiger Machismo, sein unverblümter Rassismus, sein ausgeprägter Stolz auf seine Unbildung, ja eigentlich auf alles, wofür andere sich schämen würden. Nur, dass der Finanzmogul Trump womöglich seinen Wahlkampf in die Pleite führt, das dürfte der ihm bislang gewogene Teil der amerikanischen Gesellschaft für absolut unverzeihlich halten.  Vermutlich noch unverzeihlicher dürfte es seine Wählerklientel finden, dass Trump nun auch noch zu jammern begann und die Republikanische Partei aufforderte, ihn zu unterstützen. Er könne nicht alles allein leisten, sondern brauche auch die Hilfe der Republikaner. Trump scheint vergessen zu haben, dass dies die Kehrseite der großen Erzählung des American Dream ist, die immer nur das Individuum als historische Figur erkennen und belohnen will: Wer scheitert, ist dafür immer allein verantwortlich. [….]

Derjenige, der immer prahlt so unfassbar reich zu sein, muß nun um Spenden betteln, wie gewöhnliche Kandidaten auch. Und das tut er auch noch mit besonders wenig Erfolg. Die üblichen GOP-Milliardäre halten ihre Portemonnaies zu.
Nun mußte der presumptive candidate sogar schon illegal im Ausland um Geld betteln.

America second?

[….] Neuer Ärger für Donald Trump: Der republikanische Präsidentschaftsanwärter wurde angeschwärzt, weil er Abgeordnete im Ausland um Geld anbettelte. Im US-Wahlkampf ist das verboten.
"Bitte steuern Sie etwas bei, damit mein Vater Präsident der Vereinigten Staaten werden kann": Diese Botschaft soll Donald Trump Jr., Sohn des voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der US-Republikaner, an Parlamentarier in Großbritannien, Australien und Island versandt haben. Das Problem: Trump darf für seinen Wahlkampf in den USA gar keine Spenden von ausländischen Politikern einsammeln.
Zwei Bürgerrechtsgruppen haben die staatliche Wahlkommission auf die versandten E-Mails aufmerksam gemacht. Das Anschreiben, das von der offiziellen Kampagne Trumps verschickt wurde, machte nun die schottische Abgeordnete Natalie McGarry öffentlich. Sie lehnte die Aufforderung übrigens entrüstet ab.
Der Blog "Fresh Intelligence" des "New York Magazine" kommentierte den Zwischenfall: "Wenn wir Ihnen erklären müssen, warum es für Präsidentschaftskandidaten verboten ist, ausländische Politiker um Spenden für den Wahlkampf zu bitten, sind Sie wahrscheinlich Donald Trump."   Längst ist kein Geheimnis mehr, dass Trumps Kampagne in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Dabei hatte er selbst immer wieder stolz darauf verwiesen, dass er seine Kandidatur mehr oder weniger selbst finanziere. Er machte das "Self-Funding" zu seinem Markenzeichen, auch um seine vermeintliche Unabhängigkeit von Lobbyinteressen zu unterstreichen. [….]

Mittwoch, 29. Juni 2016

Jugendversagen.



Die Erkenntnis habe ich zwar auch schon vor ein paar Jahren gewonnen, aber für mich als Geront ist es immer noch vergleichsweise neu und verblüffend, daß Teenager von heute gar keinen Fernseher mehr brauchen.
Die kennen auch gar keine Fernsehzeitschriften, die für die drei Generationen vorher mit größter Selbstverständlichkeit in jedem Haushalt lagen.
Daß man Serien oder Filme nur nach festgesetzten Anfangszeiten nur im heimischen Wohnzimmer ansehen kann, empfinden die im 21. Jahrhundert Geborenen als absurd. Genauso absurd wie die Notwendigkeit jeden Tag zu Zeitungskiosk zu gehen, um sich eine auf Papier gedruckte Zeitung zu kaufen, oder gar ein sündhaft teures Print-Abonnement anzuschaffen.
Sie kaufen auch keine CDs mehr, geschweige denn Langspielplatten.
Man bekommt ja alles quasi kostenlos im Internet downgeloaded/gestreamt.
Diese Umsonst-Mentalität ist vielen Jugendlichen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ihnen die Frage womit ein Musiker eigentlich seinen Lebensunterhalt bestreiten soll, gar nicht in den Sinn kommt.
Dabei sind doch die Konsequenzen offensichtlich: Wenn man mit Musik nichts mehr verdient, wenn sich musikalische Qualität nicht mehr bezahlt macht, muß man eben Spektakel veranstalten, aberwitzige Bühnenshows veranstalten, damit auch ein Popleichtgewicht wie Justin Bieber 300 Euro für ein Konzertticket verlangen kann.
Merchandising ist der Ausweg.

Ist es schon so weit, daß ich mich altersbedingt in Kulturpessimismus ergehen muß, weil die Generationen nach mir ihr Geld für Voting-Anrufe bei RTL ausgeben, um gecastete Retorten-Sternchen zu unterstützen, statt ein Gefühl für richtig gute Musiker zu entwickeln?

Jein. Die schöne neue Internet-Medienwelt hat auch Vorteile.
Die Interessen werden internationaler, man kommuniziert mehr und das Internet nivelliert.
Während über Generationen nur die Reichen und Schönen der Highschool beliebt waren und die Kinder ohne Markenklamotten eine demütigend Schulzeit erlebten, kann jetzt jeder mit seinem Twitter-Account, Instagram-Profil oder Youtube-Channel selbst bekannt und bedeutend werden. Die Außenseiter, die Dicken, die Schwulen und die Merkwürdigen müssen nicht mehr einsam leiden, weil sie an ihrer Schule keine Gleichgesinnten finden.
Aus der Socialmedia-Trickkiste lassen sich für jeden noch so bizarr aussehenden Topf die passenden Deckel fischen.
Die einzige Lesbe an der Dorfschule? Kein Problem; mit einem Klugtelefon findet man beliebig viele Mädchen in der gleichen Situation.

Hunderte „Youtuber“ sind inzwischen so Klick-stark, daß die davon leben können, von der Werbeindustrie hofiert werden.
Da sie naturgemäß vernetzt sind, ticken sie viel liberaler und vorurteilsfreier als die Jugendgenerationen vor ihnen.
Ich bin überzeugt davon, daß der enorme gesellschaftliche Umschwung Amerikas in der LGBTI-Akzeptanz mit den vielen homofreundlichen Youtube-Helden zu tun hat, die ganz selbstverständlich täglich zig Millionen von Followern begegnen.

Nach meinem Kenntnisstand (als Geront mag ich mich da irren) sind unter den international erfolgreichsten „Youtubern“ überproportional viele Briten.
Diese haben den Vorteil der englischen Muttersprache. Im Gegensatz zu Amerikanern denken sie als Europäer aber a priori internationaler, sind reisefreudiger und kulturell offener, so daß sie sich weltweit Anhänger einsammeln können.

Die Zahlen ihrer Kanal-Abonnenten sind so gewaltig, daß jeder Fernsehmacher, der auf Einschaltquoten achten muß, vor Neid erblasst.

Die nette kleine „Zoella“ aus Brighton, bürgerlich Zoe Sugg, *1990, hat fast elf Millionen Abonnenten, die ihren Schmink- und Modetipps lauschen.
Ihr kleiner Bruder Joe, 24, bringt es als ThatcherJoe auf sieben Millionen Follower.
Das sind jeweils nur ihre Haupt-Youtube-Kanäle. Daneben betreiben sie noch Vloging-, Gaming-, Prank- und sonstige Kanäle, die es auch jeweils auf siebenstelligen Abo-Zahlen bringen.
Joe Suggs Mitbewohner Caspar Lee bringt es auf 6,4 Millionen Follower und Zoellas Boyfriend, Alfie Deyes, 22, kann auf stolze 5,2 Millionen Anhänger verweisen.
Alfies beste Kumpel sind natürlich auch alles britische Youtuber:
Marcus Butler mit 4,5 Millionen Followern, Jim Chapman (2,6 Mio), Oli White (2,4 Mio) und Joe Weller (3,5 Mio).
Jim Chapmans Frau ist Tanya Burr, der 3,5 Millionen Fans folgen.
Wayne Goss begeistert 3,5 Millionen Anhänger mit Make-Up-Tutorials; der 23-Jährige Conor Maynard, ebenfalls aus Brighton singt gern auf Youtube; vor 2,3 Millionen Fans.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Ihre Marktmacht ist gewaltig; ich habe jeweils nur die Abonnentenzahl ihres wichtigsten Kanals genannt.
All diesen jungen Twens aus Südengland ist gemeinsam, daß sie viel reisen und viele andere Youtuber kennen. Gerne machen sie ihre Späße in Kooperationen – crosspromotion. Es bleibt immer harmlos, oberflächlich, lustig.
Zoe, Alfi, Marcus, Joe und Caspar und wie sie alle heißen haben aber weitere Gemeinsamkeiten. Sie sind alle nett, gutaussehend, ecken nicht an, haben makellose Haut, immer gute Laune, Model-Figuren.
Sie sind allesamt Traumschwiegersöhne und Traumschwiegertöchter.
Kreativ, schön und fröhlich.
Genauso wünschen sich wohl die meisten zu sein.
Insbesondere bei ihren amerikanischen Youtuber-Kollegen, die man natürlich auch ständig besucht, um ihre Abonnenten hinzu zu gewinnen, gab es in den letzten Jahren eine große Outing-Welle.
Shane Dawson, 7,2 Millionen Follower, Joey Graceffa mit 6,3 Mio Anhängern, Ingrid Nilsen mit 4 Millionen, Connor Franta mit seinen 5,6 Millionen Freunden und natürlich der ewig kichernde Spaßvogel Tyler Oakley mit sagenhaften 8,1 Millionen Fans sind alle schwul, bzw lesbisch oder bi.

Die Jugendlichen von heute konnten diese Outings alle tränenreich miterleben und insbesondere lernen, daß die anderen Youtuber (natürlich auch alle Britischen) die schwulen und lesbischen Kollegen nun sogar noch mehr mochten, gar nicht mehr aufhören konnten sie zu herzen und küssen.

Das prägt womöglich eine Generation. LGBTI ist normal geworden und tatsächlich ist es ja auch normal LGBTI zu sein.
Dank der Youtuber gibt es eine massive gesellschaftliche Veränderung in diesen Fragen.
Rassismus, Misogynie und Homophobie haben da keine Chance mehr.

Warum sind dann aber die britischen Jugendlichen so doof und lassen den Brexit geschehen?

Die Jugend-Ikone Lili Allen fasste es am Abend des 23.06.2016 mit ihrem inzwischen weltberühmten Tweet zusammen:

„Well millennials. We're really really fucked.“

Statt sich a posteriori selbst zu beweinen hätte es allerdings eine Alternative gegeben:
Wählen gehen!
Bei den 18- bis 24-Jährigen lag die Wahlbeteiligung bei knapp über einem Drittel, während die über 65-Jährigen mit 83%-Beteiligung abstimmten.
Die Jungen haben die Zukunft verpennt, weil sie zu phlegmatisch waren, um sich zu den Wahlurnen zu schleppen.

Es wurde also wieder einmal eine Entscheidung wider das Volk getroffen, weil das Volk selbst zu doof war.

Ich habe mir die Mühe gemacht die Themen aller Videos der genannten britischen Youtuber der letzten zwei Monate anzusehen:
Kein einziger erwähnte das Brexit-Referendum.
Weit schlimmer: Es gab überhaupt keine politischen Informationen, keinerlei Problembewußtsein.
Kriege, Terroranschläge, Umweltzerstörung, Flüchtlingsströme, TTIP, Ceta, Erdogan oder Syrien kommen in der schönen hygienischen Pastellwelt der Youtuber grundsätzlich nicht vor.
Es gibt bei ihnen keine wirtschaftliche Ungerechtigkeit, keine Krankheit, keine Diskriminierung. Keine Parteien, keinen Rechtsradikalismus, keine EU, keinen IS.
Es geht allen gut, alle sehen blendend aus.
Sie sind makellos.

Dienstag, 28. Juni 2016

Unendliche Dummheit.



Ja, schön blöd von den jungen Briten.
Drei Viertel der unter 30-Jährigen wären gern in der EU geblieben, aber sie wurden von der englisch-walisischen Gerontengeneration Plus65 überstimmt.
Die Jugend-Ikone Lili Allen fasste es am Abend des 23.06.2016 mit ihrem inzwischen weltberühmten Tweet zusammen:

„Well millennials. We're really really fucked.“

Statt sich a posteriori selbst zu beweinen hätte es allerdings eine Alternative gegeben:
Wählen gehen!
Bei den 18- bis 24-Jährigen lag die Wahlbeteiligung bei knapp über einem Drittel, während die über 65-Jährigen mit 83%-Beteiligung abstimmten.
Die Jungen haben die Zukunft verpennt, weil sie zu phlegmatisch waren, um sich zu den Wahlurnen zu schleppen.

Es wurde also wieder einmal eine Entscheidung wider das Volk getroffen, weil das Volk selbst zu doof war.

Wir kennen das aus Deutschland. Hier korreliert die Wahlbeteiligung mit dem Portemonnaie.
Je reicher, desto mehr gehen die Menschen wählen.
Die Blankeneser und Bogenhausener gehen fast alle zur Wahl, während die HartzIVler in den Problemvierteln am Wahlsonntag träge zu Hause bleiben und sich, dumm wie sie sind, anschließend wundern, daß wieder die CDU gewonnen hat und Politik für die Reichen gemacht wird.

Der demokratische Parlamentarismus ist in der Theorie die bestmögliche Staatsform. In der Praxis scheitert er aber an der Apathie der Bürger, die enorm viel Zeit für Heidi Klums Top-Modelshow und Dieter Bohlens Castingwahn investieren, aber zu dröge sind eine Tageszeitung oder gar ein Wahlprogramm zu lesen.

Erst Engagieren und Informieren, anschließend wählen.
Nur so kann unsere Gesellschaft besser werden.

Das dachte ich zumindest bis März 2016, als plötzlich die Wahlbeteiligung hoch ging, aber davon nur die AfD profitierte.
Ähnlich wie Trump hatten die braunen AfD-Eumel eine bisher politikferne Minder-IQ-Klasse an die Wahlurnen geholt, die zwar keine Ahnung, davon aber reichlich, hatte.

Informationen aus der eigenen inzestuösen Facebookblase, von dubiosen rechtsextremen Blogs und Hetzportalen wie „JF“, „PI“, „Kopp“, „Compac“ oder „DWN“ darf man natürlich nur dann konsumieren, wenn man durch viele seriöse Informationen so gefestigt ist, daß man Unsinn auch zweifelsfrei als Unsinn erkennt.

Demokratie kann nur funktionieren, wenn die demokratischen Wähler über eine Mindestqualifikation verfügen, anderenfalls müßten sie von der Stimmenabgabe ausgeschlossen werden.
Unglücklicherweise ist es aber auch ein demokratisches Prinzip, daß eben nicht bestimmte Menschen von der demokratischen Partizipation ausgeschlossen werden.
Jeder hat eine Stimme und jede Stimme ist gleich viel wert.
Susanne Klatten mit ihrem 17-Milliardenvermögen und ihren Konzernen hat bei einer demokratischen Abstimmung genauso viel zu sagen, wie die aufstockende Lidl-Kassiererin mit den fettigen Haaren.

Für einen funktionierenden Parlamentarismus müßte man also Millionen Menschen aus einem System ausschließen, welches sich dadurch definiert, daß niemand ausgeschlossen werden darf.
Kein Wunder, daß bei diesem paradoxen Ansatz das Chaos systemimmanent ist.

Und so darf der Profi-Politbeobachter mit einem Lehrstuhl an einer deutschen Exzellenz-Universität genauso viel zum Bundestag beitragen, wie die vernagelten Verschwörungstheoretiker, die sich intensiv mit der Satanischen Unterwanderung Deutschlands durch Bar-Strichcodes beschäftigen.


Unfuckingfassbar, daß die Strichcode-Spinner inzwischen so eine Verbrauchermacht darstellen, daß immer mehr Hersteller einen „Querbalken“ aufdrucken.


„Manche Menschen haben Sorge, Barcodes könnten Energien bündeln und würden damit die Qualität von Nahrungsmitteln beeinflussen. Eine Wirkung, die sich deren Meinung nach durch einen Querstrich im Barcode neutralisieren lässt. Beides ist bisher wissenschaftlich nicht hinreichend belegt, weshalb wir dieser Theorie neutral gegenüberstehen“, erklärte die Brauerei. „Da es für uns und den Handel aber keinen Unterschied macht, ob wir unsere Barcodes mit einem Querstrich versehen oder nicht, kommen wir diesem speziellen Kundenwunsch nach.“
Die Querstriche sind also kein Druckfehler, sondern volle Absicht. Es gibt sie auch auf manchen Säften, einigen Tees und Mineralwässern, die in Bioläden zu finden sind. Esoteriker bezeichnen den kuriosen Kundenservice übrigens als "Barcode-Entstörung".

Statt die Doofen zu ignorieren, begibt man sich auch ihr Niveau hinunter.

Gute Nacht, Deutschland.

Montag, 27. Juni 2016

Russlandversteher



Das war ja ein ordentlicher Wirbel, den das deutsche Parlament mit der Vokabel „Völkermord“ im Zusammenhang mit den Armeniern ausgelöst hatte.
Nur 101 Jahre nach dem Genozid wagten die Deutschen es das richtige Wort zu verwenden.
Vor einem Jahr noch hatte Steinmeier sogar aktiv gegen den Begriff „Völkermord“ argumentiert.
Schließlich wollte man andere Völkermorde, wie den an den Hereros 1904-1908, lieber noch verschweigen.


Der zahlenmäßig gewaltigste Völkermord wird lieber immer noch nicht allzu laut erwähnt.

Vor 75 Jahren begann die bis heute euphemistisch umschriebene „Unternehmen Barbarossa“, bei dem bis zu 25 Millionen Sowjetbürger bestialisch getötet wurden.
Bis 1995 Jan Philipp Reemtsmas „Wehrmachtsausstellung“ eine Beschäftigung mit dem Thema erzwang, glaubte man sogar das Märchen, die Wehrmacht hätte damit gar nichts zu tun gehabt, obwohl es a priori als klarer Vernichtungs- und Rassenkrieg geplant war. Das überlebende slawische Volk sollte versklavt werden.
Es leben immer noch russische Zeitzeugen des Grauens.
Wladimir Putins älterer Bruder starb bei der deutschen Belagerung Leningrads, Putins Mutter wäre um ein Haar verhungert, als die deutsche Heeresgruppe Nord verbrecherisch die Großstadt so von der Versorgung abschnitt, daß mindestens 1,1 Millionen Leningrader elend verhungerten.
Es grenzt an ein Wunder, daß Putins Mutter diesen Alptraum mehr tot als lebendig überlebte.

Dabei streckte er, wieder einmal, die Hand aus, warb um Versöhnung.


Es ist eine bittere Kontinuität der Geschichte, daß Russland in den letzten 200 Jahren immer wieder aus dem Westen mit Krieg überzogen wurde; 1812, 1914-1918, 1941-1945; nie aber selbst den Westen angriff.

Dennoch streckte Russland immer wieder die Hand aus, wollte sich mit Westeuropa versöhnen.
Insbesondere Deutschland schlug dabei immer wieder die Türen zu.

Wenn wir die deutsch-russische Geschichte betrachten, ist sie von einem Muster gekennzeichnet: Immer wieder versuchte Russland, sich Deutschland anzunähern. Und sehr oft hat es Zurückweisung erfahren. Schon der deutsche Kaiser Wilhelm II., ein Vetter des Zaren, hatte kein Problem damit, den Bolschewikenführer Lenin nach Russland zu schleusen, um dort die Revolution in Gang zu setzen. Das war ein kaltes Interesse [um den Krieg im Osten zu gewinnen.]
Der Frieden von Brest-Litowsk, den die Deutschen Sowjetrussland 1917 aufzwangen, war ja für die Russen demütigender als der Versailler Vertrag für Deutschland. 1922 wiederholte sich das Muster bei der Konferenz in Rapallo. Die Sowjetunion widerstand dem Werben der Westmächte und wandte sich Deutschland zu. Eine paradoxe Situation: Weil Russland mit Deutschland ein Abkommen schloss, konnte sich die Reichswehr heimlich in der Sowjetunion reorganisieren, sie übte dort mit Panzern und Flugzeugen. So wurde die Grundlage für eine Wehrmacht geschaffen, die 1941 den Vernichtungskrieg nach Russland trug. Daher müssen wir an diesem 75. Jahrestag nachdenken: Warum weisen wir Russland immer wieder zurück?
(Gerhard Schröder, 18.06.2016)

Der deutsche Bundeskanzler Schröder verlor seinen Vater „an der Ostfront“ bevor er ihn kennenlernen konnte.
In den 1970er Jahren begann er sich intensiv für Russland zu interessieren und war beschämt ob der Freundlichkeit, die ihm in der damaligen Sowjetunion widerfuhr.

Ich gehörte zu einer Delegation der Jungsozialisten, wir reisten auf Einladung der staatlichen Jugendorganisation Komsomol. Dabei kam es zu einer Begegnung, die ich nie vergessen habe. Tief im Land besichtigten wir ein Kraftwerk an einem Stausee, dort gab es eine Ausstellung über den "Großen Vaterländischen Krieg". Der Verantwortliche, ein alter Mann, erzählte mir: Bei der Verteidigung dieses Kraftwerks gegen die deutschen Faschisten sei sein Sohn gefallen. Und doch hege er keinen Groll gegen die Deutschen, weil wir jetzt ja den Bundeskanzler Willy Brandt hätten. Diese Ausstellung zeigte, was in der Bundesrepublik damals kaum je zu sehen war: Bilder von deutschen Gräueltaten in Russland nach 1941, Terror, Massenerschießungen. Aber zu uns sagte der alte Herr: Ihr könnt ja nichts dafür, ihr seid jung. Und wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass so ein Krieg nie wieder passiert. Das sagte einer, der in diesem Krieg ein Kind verloren hatte.
Ja, und diese Haltung ist mir in Russland oft begegnet. Man muss sich das vor Augen halten: 1941 überfiel Hitlerdeutschland die Sowjetunion mit dem Ziel, sie auszulöschen, ihre Menschen zu versklaven und zu vernichten. Deutschland hat dort ein epochales Verbrechen begangen. Und es ist ein Wunder, dass die Völker der Sowjetunion trotzdem zur Versöhnung bereit waren. Das bewegt mich noch immer.
(Gerhard Schröder, 18.06.2016)

Es ist nicht nur bewundernswert, sondern das einzig Richtige, daß Schröder als Kanzler eine enge Kooperation mit Moskau anstrebte und erreichte.
Die Achse „Paris-Berlin-Moskau“, die er während seiner Kanzlerschaft installierte, war richtig und wichtig und effektiv.

Mit Merkels mutwilliger Zerschlagung dieses mächtigen Trios ab 2005 begannen die Probleme in Osteuropa.
Sie wandte sich demonstrativ dem Doppelkriegsverbrecher George W. Bush zu und erlaubte eine unmögliche Ukraine-Politik, in der die kulturell tief gespaltene Ex-Sowjetrepublik vor die unmögliche Wahl gestellt wurde sich an Russland zu binden oder sich an die EU zu assoziieren.
Eine Handels- oder Zoll-Assoziierung Russlands bot man nicht an und strafte Moskau zu Schröders und Clintons Entsetzen mit Nichtachtung.
Der Kreml konnte es nicht fassen; nur durch sein Wohlwollen war es zur deutschen Wiedervereinigung und der NATO-Ausdehnung auf Osteuropa gekommen und nun wollte die USA die ehemaligen Sowjetländer Ukraine und Georgien auch noch in die NATO aufnehmen, Kern-Russland also militärisch völlig einkreisen.

Ostentativ ließen Merkel und Gauck ihren russophoben Gefühlen freien Lauf.

Gaucks Kleingeistigkeit wird insbesondere in seiner unterschiedlichen Sicht auf Russland und Amerika deutlich. Der deutsche Bundespräsident ist völlig in seinen eigenen Vorurteilen gefangen und nicht in der Lage über seine kleinen Tellerrand hinaus zu sehen. Russland ist doof und Amerika das Freiheitsparadies. So glaubt Gauck und daran hält er ungeachtet der massiven und extremen amerikanischen Menschenrechtsverletzungen fest.
Zu Snowden, der NSA-Abhörerei, der massenhaft ausgeführten Todesstrafe, Guantanamo, Monsanto-Dominanz, Kriegsverbrechen amerikanischer Soldaten und illegalen  Drohnenangriffen fällt Gauck rein gar nichts ein. All das nimmt er achselzuckend hin.
Die Amis sind in Gaucks Cortex als „gut“ abgespeichert und haben daher generellen Persilschein.
(…..)
„Mut“ zeigt er nur auf ausgetretenen Pfaden, indem er beispielsweise gegen Russland agitiert. Denn Russland mochte er noch nie. Aus persönlichen Gründen. Und aus seiner Haut kann der geistige Zwerg eben nicht heraus.

Das ist das Schlimme an „Giganten“ (Obama über Mandela) – sie zeigen uns nur allzu deutlich was für erbärmliche Zwerge Merkel und Gauck sind.

Die Hürde ist hoch zwischen den beiden Männern, über Jahrzehnte hat sie sich aufgebaut und wuchs sogar noch weiter, nachdem die tatsächliche Mauer aus Stein und Stacheldraht schon längst gefallen war. Auf der einen Seite der DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der die Freiheit mit Leidenschaft zu seinem Lebensthema gemacht hat. Auf der anderen Seite der frühere Top-Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Wladimir Putin, der kühle Machtmensch. […] Gauck hat sich entschieden, Anfang nächsten Jahres nicht zu den Olympischen Winterspielen in die russische Schwarzmeerstadt Sotschi zu reisen. […] Gaucks Botschaft ist auch deshalb so unmissverständlich, weil sie sich aus seiner Lebensgeschichte erklärt. Denn spätestens seit seinem 13. Lebensjahr ist Russland, damals noch die Sowjetunion, für Gauck eine Schicksalsmacht.
In seiner Autobiografie beschreibt Gauck die dramatischen Umstände, unter denen sein Vater Wilhelm im Sommer 1951 im mecklenburgischen Wustrow beim Verwandtenbesuch spurlos verschwand. Gauck war da elf Jahre alt. Dass sein Vater vor einem sowjetischen Militärtribunal in Schwerin unter anderem wegen "antisowjetischer Hetze" zu einer jahrzehntelangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, erfuhr der Sohn erst viel später. […] Das Verschwinden des Vaters, so erzählt es Gauck in seinem Buch, prägte nicht nur das Familienleben, sondern vor allem auch seine persönliche Haltung zum DDR-Regime und zur damaligen Sowjetunion. "Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus", schreibt Gauck. […] 1955 kam der Vater vorzeitig frei, abgemagert und äußerst geschwächt. Als Teenager erlebte Joachim, wie sein Vater erst langsam wieder zu Kräften kam und nach einem Jahr schließlich wieder als Schiffslotse seine Arbeit aufnehmen konnte. Wie sehr ihn diese Zeit bis heute noch beschäftigt, zeigte sich wieder vor einigen Wochen. Anfang Oktober besuchte Gauck in Berlin eine Ausstellung über russische Straflager wie das, in dem sein Vater vier Jahre zubringen musste. Als der Bundespräsident nach seinen Empfindungen beim Gang durch die Museumssäle gefragt wurde, musste der 73-Jährige merklich schlucken. "Sie werden verstehen, dass ich diese Ausstellung nicht wie andere erlebe", antwortete er. […]  Gauck ist nach 20 Monaten als Präsident noch nicht in Russland gewesen. […] Im Juli, auf einer Reise durch die baltischen Staaten, gab es wieder solche Momente: In Russland sei es noch "ein weiter Weg bis hin zur Rechtsstaatlichkeit, die wir in Europa wollen", sagte Gauck in Litauen. Und in Estland kam wieder die Geschichte seines Vaters zur Sprache: Ob er denjenigen Russen verzeihen könne, die den Vater jahrelang im Straflager interniert hätten, wurde Gauck dort gefragt. Er antwortete, dass Hass und Buße ihm fremd seien. Verzeihen könne er aber nur denjenigen, die sich zu ihren Taten bekannt hätten.

Was für ein Wicht! 68 Jahre nach Kriegsende nimmt Gauck Putin immer noch persönlich über, daß sein Vater in Gefangenschaft geriet.
Dabei teilten das Schicksal Millionen andere auch. Und Russland ging mit den Gefangen noch wesentlich netter um, als die Deutschen mit russischen Gefangenen. Und das sage ich als jemand, der ein Familienmitglied hat, das zwar nachweislich noch 1955 in russischer Gefangenschaft lebte, aber nie zurückkehrte.
25 Millionen Russen wurden im zweiten Weltkrieg durch Deutsche gekillt, allein drei Millionen sowjetische Gefangene ließ Deutschland elendig verhungern.
Und Gauck, dessen persönliche Animositäten für sein Amt ohnehin irrelevant sein sollten, ist sieben Dekaden später immer noch pissed.
Was für ein unfassbar egomaischer und ungeeigneter Bundespräsident!

Gauck und Merkel handeln nicht nur kleingeistig und schädlich, sondern auch ahistorisch.
Sie haben Präsident Putin mutwillig von Westeuropa weggestoßen, ihn in die Isolation und den Nationalismus getrieben, russische Einkreisungsängste beflügelt.
Die vielen großherzigen Gesten des Kremls wollen Merkel und Gauck nicht sehen.
Kanzler Schröder ist darüber nachhaltig entsetzt.

Präsident Putin hat mich und meine Frau 2005 bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Roten Platz neben die Vertreter der Siegermächte platziert. Das war eine große historische Geste. In seiner Rede hieß er ein friedliches Deutschland willkommen. Und was geschieht jetzt? Obwohl die Nato-Russland-Akte keine dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen an der russischen Grenze zulässt, sollen diese jetzt genau dort hin.
[…] Wir reden hier über 75 Jahre Ostfeldzug. Ich halte die Beteiligung der Bundeswehr vor dem Hintergrund unserer Geschichte für einen großen Fehler.
[…] Wir sollten jetzt darauf achten, nicht in einen neuen Rüstungswettlauf einzusteigen. Das trägt nicht dazu bei, Konflikte zu reduzieren und ein gutes Verhältnis mit Russland wiederherzustellen. Ich bezweifle, dass die Nato-Verbände in Osteuropa überhaupt nötig sind. Aber von der Nato hätte ich so viel Klugheit erwartet, nicht ausgerechnet Deutsche mit Führungsaufgaben zu betrauen. 75 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollen wieder deutsche Soldaten an der russischen Grenze stationiert werden. Welche Wirkung muss so etwas in Russland haben? Darüber macht man sich in der Nato anscheinend kaum Gedanken.
[…] Nur vor dem Hintergrund von 1941 lassen sich die Einkreisungsängste Russlands verstehen, auch wenn uns diese irrational erscheinen und die Welt sich verändert hat. Aber wenn man den Russen erklärt, Nato-Soldaten schauten sich an ihren Grenzen nur ein wenig um und das US-Raketensystem in Polen, Rumänien und Tschechien diente nur dazu, vor Mittelstreckenraketen des Iran zu schützen, dann unterschätzt man die Analysefähigkeit der russischen Seite ein bisschen, um es diplomatisch auszudrücken.
[…][…] Die Amerikaner [hatten] vor, Georgien und die Ukraine in die Nato zu führen, und das sind nicht nur zwei ehemalige Sowjetrepubliken, sondern unmittelbare Nachbarn Russlands. Man muss sich vorstellen, was das bedeutet hätte: Zum Beispiel wäre Sewastopol, das 1941 noch ein Jahr lang der deutschen Belagerung standhielt, ein Teil des Nato-Gebietes geworden. Damals gehörte die Krim ja noch zur Ukraine. . .
(Gerhard Schröder, 18.06.2016)

75 Jahre nach dem Beginn des Supervernichtungsfeldzuges gegen Russland, dem ungezählte Menschen, wahrscheinlich über 25 Millionen*, zum Opfer fielen, wollen die deutschen Staatsspitzen lieber nicht daran erinnern.

Die Erinnerung an die Gräuel des Rußlandfeldzugs durfte und darf man nicht Putin überlassen. Dieser Krieg zeigt die zerstörerische Kraft, die mit Abgrenzung beginnt und im Hass endet.
Wladimir Putin hat am 22. Juni gemacht, was man erahnen konnte. Er nutzte den 75. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion, um seiner Politik historische Legitimation zu verschaffen. Er verglich den Angriff damals mit einer Bedrohung Russlands durch die Nato heute. Und er erklärte, dass er sein Land aufrüsten müsse, weil der Westen die historischen Herausforderungen nicht erkenne. […]
Putins Auftritt zeigt, wie falsch es ist, die Erinnerung ihm zu überlassen. Und deshalb ist es auch falsch gewesen, dass Bundespräsident, Bundesregierung und Bundestag diesem verheerenden Kapitel des Krieges nicht ein umfassenderes Gedenken gewidmet haben. Eine Rede hier, eine Ausstellungseröffnung dort, eine kurze Debatte im Bundestag - das ist zu wenig. Gedenken heißt gerade nicht, sich Putin zu ergeben. Gedenken heißt, sich mit Empathie für die Opfer der Geschichte dieses Krieges ausführlicher zuzuwenden.
[…] Was also wäre gewesen, wenn in einer Gedenkstunde im Bundestag Veteranen aus all diesen Ländern von ihren Erlebnissen, Ängsten, Schmerzen erzählt hätten? Was wäre geschehen, wenn vor dem Brandenburger Tor auf Einladung von Joachim Gauck Persönlichkeiten aus Polen, der Ukraine, Russland, dem Baltikum, auch Deutschland aus Walter Kempowskis "Echolot" gelesen hätten? Jener durch ihre Nüchternheit so schmerzhaften Komposition aus damaligen Tagebucheinträgen? Und was wäre passiert, wenn Schulen den Tag zu einem Gedenktag mit Ausstellungen und Vorträgen gemacht hätten? Es wäre richtig und wichtig gewesen, weil über diesen Feldzug bis heute viel weniger bekannt ist als über die meisten anderen Kapitel des Zweiten Weltkriegs. […]

Merkel und Gauck wollen Russland lieber demütigen, indem sie vor den russischen Grenzen das NATO-Manöver „Anaconda“ durchführen und das unfassbarerweise auch noch unter deutscher Führung geschehen lassen.
Von der Leyen und Merkel erklären sogar ausdrücklich die Bundeswehr aufrüsten zu wollen und Teile davon dauerhaft vor Russlands Haustür zu stationieren.

Militärministerin von der Leyen hingegen scheint dem naiven Glauben anzuhängen, Putin ließe sich in seiner Ukraine-Politik beeindrucken, wenn Deutschland die klassischen Landverteidigungskräfte weniger stark abbaut, als vor Beginn des Konflikts geplant war. Mit dieser wenig überzeugenden Begründung hatte die Ministerin letzte Woche verkündet, dass weniger Leopard-Panzer verschrottet werden sollen als vorgesehen und dass ein bereits eingemottetes Panzerbataillon wieder in Dienst gestellt wird. […]

Trotz Warnungen vor einer Eskalation der angespannten Beziehungen zu Russland will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die deutschen Militärausgaben massiv erhöhen.
Die überraschende Ankündigung der Kanzlerin kommt einer Zeitenwende gleich - seit einem Vierteljahrhundert wurde bei der Bundeswehr nur gespart. Nur werden die Rüstungsausgaben wieder steigen.
[…] Keine Frage, wer mit dem Ausdruck "neue Bedrohungen" in erster Linie gemeint ist: das Russland Wladimir Putins.
[…] Die Bundesregierung will den Verteidigungsetat nach aktuellem Planungsstand bis 2020 von derzeit 34,3 auf 39,2 Milliarden Euro aufstocken. […] Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), kritisierte Merkels Ankündigung. Auch wenn diese Aussage an die osteuropäischen Staaten adressiert sei, "die sich bedroht und verunsichert fühlen", stelle sich hier die Frage, "ob das zu mehr Sicherheit führt oder zu weniger", sagte er in einem Gespräch mit der "Passauer […] "Eigentlich wäre es Zeit für eine Abrüstungsinitiative". Er warnte vor einer Eskalationsspirale zwischen NATO und Russland. Erler forderte, die Eskalation zu stoppen: "Genau aus solchen Entwicklungen heraus entstehen unkontrollierte Situationen bis hin zum Krieg."
[…] Es gehe in die falsche Richtung, sagte der stellvertretende Parteivorsitzende Ralf Stegner der Deutschen Presse-Agentur.
"Wir brauchen kein Nato-Säbelrasseln, sondern eine neue Initiative für eine Friedens- und Entspannungspolitik." […]

[…] Russland kündigt Reaktion auf Nato-Aufrüstung im Osten an
Verteidigung
[…] Die Nato treibt die Aufrüstung in den an Russland grenzenden Mitgliedstaaten weiter voran. […] Merkel bestätigte Nato-Überlegungen zu einer weiteren Truppenaufstockung in Polen und den baltischen Staaten. In Litauen soll eine Bundeswehrkompanie mit 150 bis 250 Soldaten ein Nato-Bataillon mit schätzungsweise 1000 Soldaten anführen. […] Lawrow reagierte in einem vom russischen Außenministerium verbreiteten Interview der schwedischen Zeitung "Dagens Nyheter" auf die Nato-Aktivitäten: "Wir haben immer gesagt, wenn sich militärische Infrastruktur der russischen Grenze nähert, dann werden wir selbstverständlich die notwendigen Maßnahmen ergreifen", sagte er. Das russische Militär werde seine Entscheidungen nicht auf der Basis von Nato-Erklärungen treffen, sondern anhand dessen, was es "mit den eigenen Augen" sehe. […]
 (SZ, 29.04.2016)


*

[….] Heute ist die Bundeswehr Teil der Nato-Übungen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten; zur Abschreckung gegen Russland. Selbstredend verbietet sich jeder Vergleich zwischen damals und heute, die Deutschen sind nun Teil eines Bündnisses freier Nationen und auf Wunsch der osteuropäischen Partner dort, die sich vor dem neuen russischen Nationalismus fürchten. Und doch ist der Mangel an historischer Sensibilität erstaunlich, dass ausgerechnet das Land der Invasoren von einst, statt Soldaten zu schicken, seine Rolle nicht deutlicher als Mittler zwischen dem Westen und Moskau versteht.
Vielleicht hat das noch immer damit zu tun, dass der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion 1941 hierzulande in seinen apokalyptischen Dimensionen bis heute vielfach nicht ganz begriffen wurde. Mindestens 27 Millionen Menschen wurden auf sowjetischer Seite Opfer dieses Krieges. […]