Dienstag, 31. Dezember 2019

Zurück ins Loch!

Scham, Schüchternheit, Sozialphobie, Selbstzweifel, Ängste, Introvertiertheit, Hemmungen werden gemeinhin als zu überwindende Charakterschwächen angesehen.
Coaches und Therapeuten stürzen sich darauf. „Du schaffst das!“.
Überall wird die Selbstoptimierung gepriesen. Neue Frisuren, Muskeln oder in der kostengünstigen Variante Motoröl-Injektionen in Arsch und Lippen – irgendwie wird man schon so hübsch und selbstsicher, daß man im Selfie-Zeitalter mithalten kann und seinen Beitrag zur sekündlichen Grinsebilderflut im Internet leistet.
Offensichtlich fruchten die Therapien wider die Scham ganz hervorragend.
Die TV-Reality-Formate fluten den Bildschirmen mit einem nie enden wollenden Strom kleiner Selbstdarsteller, die völlig talent- und sinnfrei vor den Kameras turnen und dem Irrglauben erliegen die Welt warte nur auf sie.
Wer nur irgendwie verschwippschwägert mit einem C-Trashpromi ist, weil er beispielsweise „einmal den Wendler gebumst hat“, ist schon so berühmt, daß er es in die Königsdisziplin aller Promis, das RTL-Dschungelcamp, geschafft hat.
Die Exen von Wendler und Büchner? Wenn das später mal auf dem Grabstein steht, hat man sein Leben wirklich sinnvoll genutzt.

Scham, Schüchternheit, Sozialphobie, Selbstzweifel, Ängste, Introvertiertheit und Hemmungen unter allen Umständen zu bekämpfen und ins Gegenteil zu verkehren ist so sehr Allgemeingut geworden, daß man zum Jahreswechsel nach nur drei Minuten Social-Media bereits eine Coaching-Floskel-Überdosis erleidet.

Wir sind alle Kämpfer! Niemals aufgeben! Ich stehe zu mir! Ich bin wie ich bin! Ich bin nur ehrlich! Ich ziehe keine Show ab! Fallen ist OK – liegenbleiben ist eine Sünde. Entdecke Dein Potential. Kopf hoch, Brust raus!

Ich kann es nicht mehr hören. Coaching und Therapien sollten für diejenigen reserviert bleiben, die psychisch erkrankt sind; da besteht ausreichend Bedarf.
Natürliche Scham und Schüchternheit haben sich inzwischen zur echten Mangelware entwickelt.
Dabei wäre sie vielfach durchaus wünschenswert. Ich möchte nicht von jedem „Promi“, Nachbarn, Bekannten Details aus seinem Sexualleben, Kostproben seiner nicht vorhandenen Gesangs- oder Poetryslamtalente, Nahaufnahmen von Tattoos, Narben oder Piercings, Penislängen, Brustumfänge und Bilder sämtlicher Haustiere sehen.
Sicherlich gibt es immer Menschen, die genau das interessiert, aber das gilt nicht grundsätzlich für alle.

Das von der Süddeutschen Zeitung zum „Jahr der Scham“ ausgerufene 2019 ist in dieser Hinsicht durchaus zu begrüßen.
Scham ist gut. Ich plädiere für noch viel mehr Scham.
Homo Sapiens sollte sich wirklich schämen.

[…..] 2019 war das Jahr der Scham. Doch nicht jeder empfand Scham gleichermaßen. Der eine errötete, wenn er in ein Flugzeug stieg (Flugscham). Der andere, wenn er in ein Schnitzel biss (Fleisch-Scham). Manchen reichte es auch einfach nur, sich Cristiano Ronaldos Jahresendzeit-Grüße auf Twitter anzusehen (mit Freundin, Cola und Kleenex-Tüchern im der Stretch-Limo, Fremdscham also). Der Mensch, er ist halt "Ehre und Scham des Universums" zugleich (Blaise Pascal). Haben wir gerade der gesagt? Pardon, auch sie und es natürlich (Gender-Scham). […..] Vermehrungs-Scham     Was das ist: Der Erdüberlastungstag, berechnet von der Organisation „Global Footprint“, fiel 2019 auf den 29. Juli – früher als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das Budget der Natur für das ganze Jahr ist also immer früher aufgebraucht, auch durch steigende Bevölkerungszahlen. 2100 sollen laut UN elf Milliarden Menschen auf der Erde leben.
[…..]   Müll-Scham Was das ist: Eigentlich müsste man jetzt noch den Tesa-Film von der Verpackung reißen und die Metallklammer vom Teebeutel lösen. […..] Fleisch-Scham
[…..] Internet-Scham    Was das ist: Einmal googeln verbraucht ebenso viel Energie wie eine 11-Watt-Energie-Sparlampe in einer Stunde. Zeit also, sich endlich einmal zu schämen für die dämliche Dauer-Klickerei. Und völlig egal, mit welchem Endgerät wir gerade durchs Netz surfen: Digitale Technologien tragen zu vier Prozent der globalen Treibhaus-Emissionen bei.
[…..]  Geschlechter-Scham
[…..] Haustier-Scham     Was das ist: Je größer das Haustier, desto schlechter für die Umwelt. Ein Labrador gilt im Vergleich mit einem Goldhamster, einem Wellensittich oder einem Goldfisch als Klimasünder – in der Jahresbilanz ist er so umweltschädlich wie eine 3700 Kilometer lange Autofahrt. Das ist das Ergebnis einer Schweizer Studie zur Ökobilanz von Haustieren.
 […..] Fußball-Scham
[…..] Heizpilz-Scham
[…..] Weltkonzern-Scham […..]

Bleibt nur zu hoffen, daß sich Vermehrungsscham, Flugscham, Müllscham und Haustierscham 2020 prächtig weiter entwickeln. Bisher war die Scham noch zu rudimentär; es folgten keine Konsequenzen. Wir fliegen immer mehr, fressen immer mehr Fleisch, verbrauchen mehr Ressourcen.