Montag, 25. April 2016

Einen Schritt vor, zwei Schritte zurück



Da fühlte ich mich auf einmal wie das „Delphi von Orakel“ (Kretschmann), als Merkel um Entschuldigung für ihre Böhmermann-Vorverurteilung bat.
Genau das hatte ich doch einige Tage vorher empfohlen.

Die Kanzlerin hatte eine Riesendummheit begangen und diese, mit etwas Verspätung, aber immerhin, als solche angesehen.

[….] Aber dann stellte ein Journalist die Frage nach der bevorstehenden Türkei-Reise der Kanzlerin. Und Angela Merkel sagte, sie wolle die Gelegenheit nutzen, um etwas klarzustellen. Völlig überraschend ging sie daraufhin auf die Affäre Böhmermann ein.
"Ich ärgere mich darüber, dass ich am 4. April von 'bewusst verletzend' gesprochen habe", sagte Merkel. Regierungssprecher Steffen Seibert hatte an diesem Tag  erklärt, Merkel habe in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu das berüchtigte Gedicht des ZDF-Moderators Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan so bezeichnet. "Das war im Rückblick betrachtet ein Fehler", räumte Merkel ein. Denn dadurch sei der Eindruck entstanden, ihr als Kanzlerin seien Meinungsfreiheit und Pressefreiheit nicht mehr wichtig. Ihr sei dies aber wichtig und es werde auch weiter wichtig bleiben. "Das leitet mich bei allen Gesprächen." [….]
(STERN 22.04.2016)

Das respektiere ich.

Aber wie das so ist mit der Kanzlerin. Wenn sei einmal etwas Vernünftiges tut, durch das womöglich die EU-Politik nicht mehr ganz so erbärmlich wirkt, muß es sofort doppelt konterkariert werden.

Anschließend reiste sie in die Türkei und ließ sich dort tumb schweigend herumschubsen, ohne die ungeheuerlichen Vorgänge an der Grenze zu Syrien zu thematisieren.

Die Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in die Türkei und der Besuch eines Flüchtlingslagers in Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze wird von der Organisation Pro Asyl scharf kritisiert. Merkels "Lobhudelei" sei "unerträglich", sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt. Die Türkeireise der Kanzlerin gaukele Humanität vor, "wir erleben aber den größten Angriff in der Geschichte der EU auf das Menschenrecht auf Asyl".
Das EU-Türkei-Abkommen hebele das Recht auf Asyl aus, kritisierte Burkhardt. Er verwies auf das Schicksal von 13 afghanischen und kongolesischen Asylsuchenden, die nach ihrer Abschiebung in die Türkei in einem Haftlager interniert seien, wo ihnen der Kontakt zu Aktivisten und Rechtsvertretern verweigert werde.
Auch der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki warf Merkel Heuchelei vor. "Angela Merkel hat nicht ertragen können, dass 4.000 Menschen in Budapest auf dem Bahnhof gesessen haben, aber jetzt schauen wir zu, wie 12.000 Menschen in Idomeni unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen und das interessiert uns nicht weiter", sagte Kubicki im Fernsehsender Phoenix.

Nahezu gleichzeitig jährte sich der türkische Völkermord an den Armeniern zum 101. Mal.
Das von der EU mitfinanzierte Dresdner Musikprojekt Aghet, welches es wagte den Genozid auch Genozid zu nennen, geriet in den Bannstrahl Erdogans.
Die Türkei verlangte das Projekt nicht mehr zu unterstützen und sofort zog Brüssel devot den Schwanz ein, sank auf die Knie und tat was Ankara wünschte.
Jeder Hinweis auf Aghet wurde von der EU gelöscht.

Zu Recht schließen die türkischen Kollegen daraus, dass sich Merkels Engagement für Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei in engen Grenzen hält. Aber Merkel und die EU insgesamt tun ja noch weit mehr, um sich das Wohlwollen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu erhalten. Sie schweigen nicht nur zum Demokratieabbau in der Türkei, sie lassen sich auch ihr Verhalten im eigenen Land vorschreiben.
Jüngstes Beispiel ist ein Projekt der Dresdner Sinfoniker. Die Musiker haben zusammen mit armenischen und türkischen Kollegen ein Konzert eingespielt, das der Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern gewidmet ist. Die EU fördert das Projekt finanziell. Auf türkischen Protest hin hat sie jetzt den Hinweis auf das Projekt von ihren Websites gestrichen – und das Orchester gebeten, im begleitenden Text den Begriff „Völkermord“ nicht mehr zu verwenden.
Seit nunmehr 100 Jahren weigert sich die Türkei, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord anzuerkennen. Ausgerechnet gestern, am 101. Jahrestag des Völkermordes, wurde die Selbstzensur der EU bekannt.
(Jürgen Gottschlich, taz, 25.04.16)