Samstag, 14. November 2015

Der Spin von Paris


Lange Nacht gehabt, viele Informationen und Reaktionen liegen quer im Magen.
Frankreich erfuhr viele Worte des Mitgefühls und der Solidarität.
Und wer würde nicht „mitfühlen“ bei den sagenhaften Grausamkeiten, die sich gestern im Bataclan abspielten?

Schaltet man aber die moralische und emotionale Ebene aus, erkennt man wie effektiv der IS agiert.
Mit einem Minimum an Aufwand, lediglich acht Menschen und ein paar AK47s, wird die gesamte westliche Welt völlig durchgeschüttelt.
Natürlich sind die Anschläge von Freitag, dem 13. aus Sicht der Terroristen ein enormer „Erfolg“ – insbesondere, wenn man dagegen setzt wie viele zig Milliarden Dollar „der Westen“ im Kampf gegen „den Islamismus“ ausgibt und damit im Grunde nichts erreicht.
Der IS ist stärker denn je.
Wir, der Westen, sehen langsam unser gewaltiges Dilemma ein:
Im Gegensatz zu fanatisierten Möchtegern-Märtyrern, die auf ihre 72 Jungfrauen und ein Dasein im Paradies vertrauen, hängen wir an unserem diesseitigen Leben und verspüren den überwältigenden Drang in totaler Sicherheit vor Terrorismus zu leben. Aber genau diese totale Sicherheit kann es gar nicht mehr geben.
Was also tun?

Für viele GOPer, Front Nationaler und andere rechte Irre liegt der Rachegedanke nahe. Ein antizivilisatorisches Verhaltensmuster, das Bibi Netanjahu mit seinen vielen „Vergeltungsaktionen“ längst zur offiziellen Politik gemacht hat und damit eindrucksvoll die völlige Sinnlosigkeit und Kontraproduktivität dessen bewies.
Selbst in der George W. Bush-Administration konnte sich der durchaus ernsthaft diskutierte Vorschlag die Kaaba in Mekka weg zu bomben nicht durchsetzen.

Sarah Palin plädierte einst pro Todesstrafe für Selbstmordattentäter. Es ist unbekannt, ob sie die Dummheit ihres Vorschlages inzwischen begriffen hat, aber das Dilemma ist klar: Wenn man auf Selbstmordanschläge mit Racheaktionen reagiert, trifft man notwendigerweise immer Unschuldige, da die eigentlichen Täter bereits tot sind. Die Lage eskaliert nur immer weiter und somit hilft man der Todesideologie des IS sogar noch.

Die terroristische Gefahr ist nicht abzustellen.
Man kann keinen „war on Terror“ führen, weil Terror der Krieg derjenigen ist, die sich nicht solche Militärmaschinen wie der Westen leisten können.

"Der Terrorismus, der im furchtbaren 11. September kulminierte, ist ein Krieg der Armen gegen die Reichen. Der Krieg ist ein Terrorismus der Reichen gegen die Armen."
(Peter Ustinov)

So lange die Reichen die Armen der Welt systematisch ausbeuten, ihnen Waffen verkaufen und militärisch intervenieren, wird es Terror geben.

Ob wir es „asymmetrischer Krieg“ oder „Guerilla-Taktik“ nennen – gegen diese Art der Kriegsführung, in der eine Seite dem eigenen Leben keine Bedeutung mehr beimisst, ist keine noch so hochgerüstete westliche Armee gewachsen.

Wir scheitern in Afghanistan, dem Irak, Syrien, Libyen, Mali und Somalia.
Das Nichtfunktionieren des Drohnenkrieges ist eindrucksvoll bewiesen.

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über die Plagiatorin von der Leyen lachen, daß sie nun auch ein großes Kampfdrohnenprojekt für Deutschland gestartet hat. Das sind ja mal sinnig ausgegebene Milliarden.

Wir können lediglich mittelbar gegen islamistischen Terror vorgehen. Dazu gehört, daß wir nicht gerade immer mehr Waffen mitten in die Krisengebiete exportieren; so wie es derzeit geschieht.

Und wir könnten vor der eigenen Tür kehren; unsere sozialpolitischen und edukativen Hausaufgaben machen:
Abertausende IS-Kämpfer stammen aus Westeuropa und der USA.
Das sind also „im Westen“ aufgewachsene Kinder, die unsere Schulen absolviert haben, „unsere Werte“ kennenlernten und denen ihr Leben so abgrundtief perspektivlos erschien, daß sie sich zum kollektiven Morden in die Levante begaben.
Da ist etwas katastrophal schief gelaufen.
Nicht weniger katastrophal ist das tausend-fache Abgleiten europäischer Jugendlicher in den militanten Rechtsextremismus.
Wieso sind in Deutschland immer noch die Schulen personell so sagenhaft unterversorgt, daß sehenden Auges kleine NPD-Fans produziert werden, die ungeniert ihrer Hitler-Verehrung frönen, ohne daß rechtzeitig eingegriffen wird?
Wie kann es angehen, daß sogar eine völlig kontraproduktive Maßnahme wie die Verdummungsprämie an Eltern ausgezahlt wird, wenn sie ihre Kinder von Bildung und sozialer Entwicklung fernhalten?
Wer so eine Politik betreibt – in diesem Fall also auch CDU und SPD, die den CSU-Unsinn abnickten – macht sich mitschuldig an der Zunahme rechtsradikaler Anschläge und abgedrifteten IS-Fans.

Schließlich sollten wir im Moment alle unsere Worte sorgsam abwägen.
Niemand ist religionskritischer als ich, aber in dieser superaufgeheizten Stimmung ist es nicht sinnvoll mit pauschalem Islam-Bashing AfD, CSU und PEGIDA stark zu machen.

Nur wenige Stunden nach den Terroranschlägen in Paris hat sich die Organisation „Islamischer Staat“ in einem Video an einen Teil der deutschen Bevölkerung gewandt. In dem kurzen Clip, der in sozialen Netzwerken verbreitet wurde, bedanken sich mehrere schwer bewaffnete und vermummte Gestalten bei der AfD, den Pegida-Demonstranten und allen anderen „besorgten Bürgern auf Facebook und an den Stammtischen.“




Wir müssen Druck auf unsere Kanzlerin und unsere Bundestagsabgeordneten ausüben, daß Brandstifter wie Wolfgang Schäuble, Markus Söder und Horst Seehofer in ihre Schranken gewiesen werden.
Diese Menschen sind Abschaum.


Manche Menschen haben die Nacht durchwacht, aus Sorge, aus Ratlosigkeit und aus Angst, einzuschlafen und von noch schlimmeren Nachrichten geweckt zu werden.
Und dann gibt es Menschen wie Markus Söder (CSU) und den "Welt"-Autor Matthias Matussek. Nie um eine schnelle und simple Antwort auf jede noch so komplexe Frage verlegen, mit einem untrüglichen Gespür, jede sich bietende Gelegenheit dafür zu nutzen, die eigene politische Agenda voranzutreiben.

Ich plädiere dafür vor unserer eigenen Tür zu kehren und erbärmlichen christlichen Hetzern entgegen zu treten, die wie Matthias Matussek, Horst Seehofer, Markus Söder oder der so „seriösen“ FAZ nun den Opfern des IS, die vor dem IS zu uns fliehen, eine Mitschuld für den Tod der Opfer von Paris zuzuschieben.


Gerade CSU-Politiker betreiben eine bemerkenswert perfide Volksverdummung, wenn sie suggerieren die totalen Kontrollen könnten Terroristen aus Deutschland fernhalten.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat nach der Anschlagsserie von Paris verstärkte Kontrollen an den europäischen Außengrenzen und den nationalen Grenzen gefordert. "Wir müssen sehr, sehr schnell festlegen, wie das mit den Grenzkontrollen in Europa und an unseren Binnengrenzen weitergeht", sagte Seehofer am Rande des Landesparteitags der CDU Sachsen. Das müsse "in Tagen" geschehen. Es seien dringend zusätzliche Sicherheitsanforderungen nötig. Dazu gehöre "auch eine stärkere Kontrolle der europäischen Grenzen, aber auch der nationalen Grenzen", so Seehofer.
(NTV, 14.11.15)

Als es für Terroristen noch viel schwieriger war sich zu informieren und zu kommunizieren, weil es noch kein Internet gab, als diese Terroristen noch lange nicht so brutal waren wahllos möglichst viele Unschuldige zu töten, hatten wir schon einmal total geschlossene Grenzen. Das war in den 1970er Jahren und wie wir wissen haben sich die RAF-Terroristen dennoch nahezu ungehindert mit gefälschten Papieren über alle Grenzen bewegt; reisten quer durch die Welt.

Seehofer und Söder sind widerliche Lügner, die ihr rechtsradikales Süppchen auf den Rücken der IS-Opfer kochen.

"Und während selbst AfD und Pegida so etwas wie eine Schamfrist wahren... stoßen Söder und Seehofer noch im weltweiten Luftanhalten schon als selbsternannte Touretter des Abendlandes ins rechte Horn.
Das ist erbärmlich in so vielen Facetten."
(Jens Oliver Haas)


Noch macht uns das Entsetzen über die feigen Anschläge von Paris fassungslos. Noch trauern wir um unschuldige Opfer einer menschenverachtenden Ideologie, die im Namen eines Gottes mordet, den sie selbst erschaffen hat. Und schon kriechen sie wieder aus ihren Löchern, die Parolenschwinger, die sich so erwartbar bestätigt sehen in Ihrem tumben Hass gegen Flüchtlinge. Welch widerwärtige Verdrehung! Es sind die Terroristen von Paris, vor denen viele aus Syrien und dem Irak fliehen. [….]
(Georg Restle)

Das ist das zusätzlich Elende an so einem furchtbaren Geschehen wie den Attentaten von Paris. Sie befördern Vorurteile, bei denen, die davon leben, sich ihre Vorurteile bestätigen zu lassen. Matthias Matussek zum Beispiel, bisher Kolumnist bei Springers Welt, schreibt herum, dass sich nach Paris jetzt vielleicht die Debatte über eine viertel Million junger islamischer Männer in Deutschland in eine "ganz neue frische Richtung" bewegen werde. Und weil er ein Schalksnarr ist, setzt er einen Smiley dahinter.
Sicher, am Montag werden die Dresdner Pegidisten ganz bestimmt in diese Richtung schreien, die nur keine neue, frische ist, sondern ein alte, modrige. Die Pegidisten nämlich können ihre schon alte Urangst-Parole (die Islamisierung des Abendlandes) mit der anderen, etwas neueren Urangst-Parole (unter den Flüchtlingen sind viele Verbrecher, lauter Schmarotzer, jedenfalls Deutschland-Verderber) zusammenkleben. Ihre Argumentationskette geht so: Wenn Leute, die sich auf den Islam berufen, Verbrechen begehen, dann sind nicht diese Leute die wirklichen Verbrecher, sondern möglicherweise alle, die auch dieser Religion angehören. Mindestens aber ist die Religion selbst eigentlich ein Verbrechen. [….]