Donnerstag, 19. Juni 2014

Ich bin alt und konservativ – Teil IV

Ist das jetzt schon ein Zeichen von Altersdemenz, daß ich ständig an meine Kindheit erinnere und den Drang verspüre uninteressante Jugendgeschichten auszuplaudern?
Ich behaupte aber; ich kann nichts dafür, daß ich über Meldungen in den Medien stolpere, die so heftige Assoziationen triggern.

Früher war eben alles besser – auch die Zukunft (Danke R.).

Also Zeitsprung gute vier Dekaden zurück.
Meine Eltern hatten mich eingesammelt und zogen (zunächst) aus New York zurück nach Deutschland. Statt der Einzimmerwohnung in Queens war nun ein Garten mit angeschlossenem Park mein Spielzimmer. Man konnte ohne von einem Zaun aufgehalten werden zu einem angrenzenden tiefen Fischteich und einem Arm der Alster gelangen. Das war sehr hübsch, teilweise leicht unheimlich, weil der alte Gärtner von nebenan erklärte, daß in dem Teich ein großer Hecht lebe, der durchaus Kinder essen könne. Meine Eltern hatten nun die Option mich permanent anzuleinen, oder aber zu riskieren, daß ich eines Tages freiwillig oder unfreiwillig in den Teich sprang.
Mich anzuketten entsprach nicht recht ihren Erziehungsvorstellungen und so wurde ich lange vor dem Schulalter in eine Schwimmschule geschickt.
Ich erinnere mich noch genau wie es dort am Kaninchenweg, zu dem ich nun jeden Nachmittag gefahren wurde, aussah.
Ein mittelgroßes, eher unscheinbares Wohnhaus, welches im Keller über ein höchst erstaunlich großes Schwimmbad verfügte.
Die Kurse waren voll; lauter andere Gören meines Alters aus der Umgebung trudelten ebenfalls ein.
Wir bekamen durchsichtige Schwimmflügel, die mit schmalen blauen Styroporringen gefüllt waren. Je nach unseren individuellen Fähigkeiten wurden immer mehr dieser Ringe entfernt.
Eines Tages sollten wir dick angezogen kommen und Klamotten zum Wechseln mitbringen. Der Schwimmlehrer warf uns unfreundlicherweise in Plüsch und Plunder ins Wasser. Ich hatte von dieser Prüfung gehört, fand sie aber sinnlos.
Tatsächlich erinnere ich mich aber bis heute wie viel schwerer es ist voll angezogen zu schwimmen. Die vollgesogenen Hosen und Jacken bremsen enorm und ziehen einen herunter. Es war auch nicht damit getan aus dem Pool wieder heraus zu kommen, sondern wir hatten eine Ewigkeit zu kämpfen und uns dabei sicher über Wasser zu halten.

Die Angst vor dem Hecht habe ich übrigens kurze Zeit später überwunden und wurde auch nicht angeknabbert, als ich den Teich durchschwamm.

Jahre später, in der vierten Grundschulklasse gab es wieder Schwimmunterricht.
Diesmal aber in einem großen 50m-Becken mit echten Prüfungen.

Unsere Klassenlehrerin Frau Klogeldorf hatte vorher Erkundigungen über unsere Schwimmfähigkeiten eingeholt. Tatsächlich konnten in der großen Klasse drei Schüler nicht schwimmen und mußten zunächst in einem Nichtschwimmerbecken einige Grundlagen lernen. Es dauerte aber nicht lange, bis sie zu uns stießen. Im Laufe das Jahres werden unsere Eltern sicherlich insgeheim den Schwimmunterricht verflucht haben, weil sie dauernd neue Aufnäher auf unseren Badehosen befestigen mußten.
Kleine Kinder wollen sich vergleichen und angeben.
Und so trug auch ich bald Frühschimmer, Freischwimmer, Fahrtenschwimmer und Jugendschwimmer-Abzeichen.

Nach meinem Schulwechsel auf das Gymnasium gab es in der fünften Klasse ein weiteres Jahr Schwimmunterricht. Umstrittenen Unterricht, denn inzwischen konnten alle Schüler gut schwimmen und die Schwimmhalle war ziemlich weit weg, so daß die Elternabende von Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der zweimal in der Woche gecharterten Busse geprägt wurden.

Schwimmen für Noten kam dann erst wieder in der VS (11. Klasse) in Frage. Da konnte man unter anderem Schwimmen als Sportart wählen.
Ein indiskutabler Kurs für mich, denn er fand zu den normalen Schulzeiten Dienstag und Donnerstag in der vierten Stunden statt. Um den Weg dahin mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu schaffen, mußte man jeweils mindestens eine Freistunde verschwenden und außerdem war meine Frisur mit dem Zentner Haarspray nicht Wasser-kompatibel.
Ich hatte keine Freistunden zu verschenken und zog die lähmende Ödnis der Kaufhof-Gastronomie vor.
Der Schulleiter hatte das eigentlich nicht vorgesehen. Eigentlich sollten alle Jungs schwimmen gehen. Der einzig andere wählbare Sportkurs zu der Zeit war Jazzgymnastik – vorzugsweise von Mädchen besucht. Ihnen wollte man es nicht zumuten sich im Schwimmbad auszuziehen. Als mußten sie mehr oder meistens weniger elegant in Strumpfhosen zu Tina Turners Hits Choreographien einstudieren. Sie, die Mädchen und eben ein Junge – ich.
Die Rechnung für Sport in der 3./4. Stunde sah für mich eindeutig aus.
Große Pause (20 Min) + 3. Stunde (45 Min) + kleine Pause (5Min) + 4. Stunde (45 Min) + Große Pause (20 Min) = 135 Min.
Hatte man davon eine Schulstunde (=45 Minuten) Schwimmen, verbrauchte man die gesamte Zeit und kam noch mit nassen Haaren auf den letzten Drücker in der 5. Stunde zu Physik angehetzt.
Jazzgymnastik bei der geradezu debil übermotivierten Frau Fass war zwar noch peinlicher, aber die Zeitbilanz sah ganz anders aus. Die 45 Minuten Unterricht ließen sich elegant auf 2/3 kürzen, indem man erst zehn Minuten zu spät kam („Tut mir Leid, der doofe Busfahrer ist mir genau vor der Nase weggefahren!“) und fünf Minuten vor Unterrichtsschluß ging („Sorry, ich muß dringend auf Klo!“). Umziehen entfiel natürlich auch, weil ich in 90% der Fälle LEIDER das Sportzeug vergessen hatte und daher auf Socken in meinen normalen Sachen durch die Turnhalle debakulierte. 135 Min minus 30 Minuten Jazztanz = 100 Min mehr Zeit zum Saufen und Rauchen.
Und immerhin habe ich in beiden Semestern nach meiner Erinnerung volle zwei Punkte bekommen. Und außerdem kam ich immer mit gut sitzender Frisur zu Physik.

Nebenbei bemerkt habe ich das Schwimmen nicht aufgegeben. Leider wohnte ich damals nicht mehr mit Garten und Teich in der Nähe, aber beim nächtlichen Zechen hatten wir entdeckt, daß man die Absperrgitter um den Stadtparksee an einer Stelle umklettern konnte. Der Stadtpark lag günstig auf der Strecke wenn man von der Reeperbahn aus mit Southern Comfort abgefüllt nach Hause schwankte und sich noch ein wenig erfrischen wollte.
Da war die Frisur ohnehin schon lange egal und die albernen Badehosen mit Schwimmabzeichen wären auch nur peinlich aufgefallen, weil ohnehin alle Nachtschwimmer auch Nacktschwimmer waren. Wer einmal im Adamskostüm geschwommen ist, wird Badehosen auch niemals vermissen.

Die Moral von der Geschicht‘: Auf die ein‘ oder andere Weise kann man immer mal ins Wasser fallen.
 Schwimmen ist eine der Grund-Skills, die man wie Fahrradfahren, Lesen und Schreiben einfach beherrschen muß. Vom Schwimmen hat man außerdem lange etwas, weil es zu den berühmten Dingen gehört, die man nicht verlernt, wenn man das einmal kann.

(Ich würde übrigens einen PKW-Führerschein zu den Must-haves zählen und wundere mich immer, wenn heutige Teens und Twens das hartnäckig für unwichtig erklären. Natürlich muß man kein Auto haben, aber man sollte schon so eine Karre fahren können und dürfen – es kann immer eine Situation auftreten, in der man einen Fahrer BRAUCHT, weil jemand schnell ins Krankenhaus o.ä. muß.)

In Deutschland keinen Führerschein zu haben, kann natürlich daran liegen, daß die Dinger inzwischen extrem teuer sind und mit vielen Tausend Euro zu Buche schlagen.
Die zehn Millionen funktionalen Analphabeten Deutschlands sind ebenfalls in keiner einfachen Situation. Wenn sie durch das extrem versagende deutsche Schulsystem erst einmal erwachsen geworden sind oder als Einwanderer in ihrem Geburtsland nicht die Möglichkeit hatten zur Schule zu gehen, stehen sie vor einer anspruchsvollen und langwierigen Aufgabe.
Schreiben und Lesen lernen nur Kinder relativ einfach. Für Erwachsene ist das ein gewaltiger Brocken.

Schwimmen hingegen ist, bzw war nach meinem bisherigen Gefühl eine vergleichsweise einfache Angelegenheit. Das müßte doch jeder nach ein paar Stunden können. Dachte ich.
Aber weit gefehlt.
Nachdem ich Philipp Möllers „Isch geh Schulhof“ begeistert und aufmerksam gelesen habe, sollte ich mich über gar keine Berichte aus Berliner Schulen wundern.
In der deutschen Hauptstadt gibt es Schwimmunterricht schon ab der dritten Klasse. Das ist schon mal erfreulich.
Da Kinder, die im 21. Jahrhundert in Deutschland aufwachsen aber tumb und ungelenk sind, bereits daran scheitern auf einem Bein zu stehen oder sich die Schuhe zuzubinden, reicht heute aber ein ganzen Jahr Schwimmunterricht nicht mehr aus, um zu lernen nicht abzusaufen.
Wir haben anhand der Versagerquote beim Eingangstest für das Sportstudium in Köln schon gesehen, wie unkoordiniert und ungeschickt sich selbst muskelbepackte Typen sich im Becken anstellen.
Also wen wundert es, daß Berliner Kinder auch nicht mehr in Lage sind schwimmen zu erlernen?

Nichtschwimmer in Berlin Grundschüler: Es reicht kaum für das Seepferdchen
[….] Viele Grundschüler können nicht schwimmen. In Neukölln sind es rund vierzig Prozent der Schüler am Ende der dritten Klasse - und das, obwohl sie das ganze Jahr über eigentlich Schwimmunterricht hatten.
[….] Es sind alarmierende Zahlen: Fast neunzehn Prozent der Berliner Grundschüler können nach der dritten Klasse nicht schwimmen, obwohl in dieser Jahrgangsstufe das ganze Schuljahr über Schwimmunterricht stattfindet. Besonders viele Nichtschwimmer gibt es in Bezirken mit sozial schwierigen Bedingungen. So können in Neukölln 40 Prozent der Kinder am Ende der dritten Klasse nicht schwimmen, in Mitte sind es knapp 30 Prozent, danach folgen Spandau (26 Prozent) und Reinickendorf (24,2 Prozent).
[….] Schulleiterin Sabine Weber von der Neuköllner Elbe-Grundschule bestätigt den Befund. „Bei uns kann zu Beginn der dritten Klasse meistens kein Kind schwimmen, und dieses Jahr schaffen gerade mal die Hälfte am Ende das Seepferdchen.“ Für das Schwimmabzeichen muss ein Kind 25 Meter schwimmen und aus schultertiefem Wasser einen Ring vom Boden holen können. „Wir bräuchten mindestens zwei Jahre lang Schwimmunterricht.“
Die Bildungsverwaltung verweist darauf, dass sich das motorische Können der Schulanfänger in den letzten Jahren insgesamt verschlechtert habe. Zudem gebe es bei der Wertschätzung der Schwimmfähigkeit kulturelle Unterschiede. [….]

Die Kunde hör‘ ich wohl –
Allein mir fehlt der Glaube.

Ein ganzes Jahr Schwimmunterricht mit Kindern und anschließend können trotzdem 20 – 40 % nicht schwimmen?

Früher war alles besser.