Dienstag, 14. April 2015

Sandkasten-Diplomatie

Als die CDU ab 1969 erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte in der Opposition saß, witterte sie Verrat, den Ausverkauf deutscher Interessen und die baldige Einführung des Kommunismus.
Willy Brandt nannten sie „dieser Frahm!“, um mit maximaler Perfidie Unsachlichkeit ins Spiel zu bringen.
Brandt konnte man aus konservativer Sicht nicht trauen, weil er a) unehelich als Sohn der ebenfalls unehelich geborenen Martha Frahm geboren wurde, b) am 26. Februar 1914 im Pastorat II St. Lorenz notgetauft wurde (die christliche Kirche erlaubte keine Taufen von unehelichen Kindern in der Gemeindekirche!), c) für die linke von Hitler verbotene Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) 1934 ins Exil nach Norwegen ging, um gegen die Nazis zu kämpfen und d) im Jahr 1938 vom NSdAP-Regime als Vaterlandsverräter ausgebürgert wurde, so daß er die Norwegische Staatsbürgerschaft annehmen mußte.

Noch Dekaden nach 1945 galten diese familiären Voraussetzungen als großer Makel.
So einer war amoralisch und verräterisch.
Tatsächlich wurden die schlimmsten Befürchtungen der Unionsparteien bald bestätigt.
Die Brandt-Scheel-Regierung begann mit den kommunistischen Regierungen in Moskau, Prag, Warschau und sogar Ost-Berlin zu sprechen.
Schockierend. Unter Adenauer, Erhardt und Kiesinger waren das die Todfeinde, die man verachtete und international schmollend ignorierte.
Man trug die Nase hoch und höher, biederte sich bei den USA an und wollte im Übrigen abwarten bis der Warschauer Pakt einsah sich geirrt zu haben.

Brandt hingegen empfand die Trennung Europas als pervers, konnte die Mauer durch Berlin, deren Errichtung er als Bürgermeister miterlebt hatte, nie akzeptieren. Daraus zogen er und seine Berater einige bemerkenswert einfache Schlüsse, für die aber niemand zuvor die Kraft aufgebracht hatte:

·        Die Realität ist anders als wir uns das wünschen, aber wir müssen die Tatsachen akzeptieren.
·        Veränderungen lassen sich nicht erzwingen; schon gar nicht militärisch.
·        Um die Kriegsgefahr zu minimieren, muß man mit dem Gegner ins Gespräch kommen.
·        In den Gesprächen muß eine Vertrauensbasis aufgebaut werden.
·        Um miteinander sprechen zu können, müssen erst einmal die notwendigen Kanäle dafür geschaffen werden.

Es begann das inzwischen legendäre politische Tauwetter, das den kalten Krieg deutlich entspannte, die Mauer durchlässiger machte und zudem Deutschland höchste Anerkennung verschaffte – Brandt bekam 1971 den Friedensnobelpreis.
Brandt war dabei der Front-Mann, der für die notwendige Unterstützung und Wahlergebnisse sorgte.
Der eigentliche Akteur war aber der immer noch unterschätzte Jahrhundertstratege Egon Bahr.
Sein berühmter Plan vom „Wandel durch Annäherung“ war das theoretische Rüstzeug und seine unermüdliche jahrelange diplomatische Mission in Osteuropa war die Praxis.

Der heute 93-Jährige Bahr, der wie Kollege Helmut Schmidt (96) noch voll berufstätig ist und täglich ins Büro geht, war als „Nichtarier“ auch nicht nach dem Geschmack der Unionsparteien.
Schon unter Außenminister Brandt (1966-1969) hatte Bahr als Ministerialdirigent und Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt  eine „Politik der kleinen Schritte“ ausgetüftelt, die er ab 1969 als Staatsminister im Bundeskanzleramt umzusetzen begann.
Er wurde Unterhändler in Moskau, Ostberlin und Warschau und handelte als Bevollmächtigter der Bundesregierung den Moskauer Vertrag, den Warschauer Vertrag, das Transitabkommen sowie den Grundlagenvertrag aus.
Insbesondere in Moskau betrat er Neuland und richtete viele heute noch bestehende Gesprächskanäle ein. Das dauerte manchmal Monate, da man in völlig verschiedenen politischen Welten lebte. Man mußte sich langsam kennenlernen, einander verstehen und schließlich vertrauen.
Bahr berichtete später von einem Moskau-Besuch seines damaligen Chefs Außenminister Scheel. Er erwartete das Schlimmste; Scheel könnte ihn womöglich aus der Sowjetunion abziehen, weil die Rücksprachen mit Bonn damals aufgrund der mangelnden Technik nicht so möglich waren wie jetzt.
Was genau Bahr eigentlich den ganzen Tag bei konspirativen Treffen mit sowjetischen Diplomaten und Geheimdienstlern trieb, konnte der deutsche Außenminister gar nicht wissen.
Vorsichtig nutze Bahr die erste Gelegenheit, als er abhörsicher mit Scheel allein war, um ihn auf den aktuellen Stand zu bringen.
Aber seine Sorge war unberechtigt. Scheel winkte ab, wollte die Details gar nicht auf der Stelle wissen und sagte nur: „Machen sie weiter, machen sie weiter, die Regierung steht hinter ihnen!“
Und so gelang das unfassbare mitten im kalten Krieg, als man sich gegenseitig so misstraute, daß man Atomwaffen auf einander gerichtet hatte und gewaltige Mauern mit Selbstschussanlagen zwischen sich erbaute:
Die Lage entspannte sich, die Eiszeit hörte auf.
Deutschland setzte damit ein Signal für die ganze Welt. Nicht nur CDU und CSU standen den Brandt-Bahr-Plänen äußerst skeptisch gegenüber; auch London und Washington schmollten zunächst einmal.
Allerdings änderten die NATO-Partner dann ihre Meinung und unterstützten Berlin.
Die Welt wurde sicherer und friedlicher. Westdeutschen durften durch die DDR fahren und ihre Verwandten im Osten besuchen.
Breschnew, den man im Westen zunächst als Inkarnation des Bösen betrachtet hatte, stellte sich bei näherem Hinsehen als vernünftiger Mann heraus, der aus den Erfahrungen während des Weltkrieges den Schluß gezogen hatte, „so eine Scheiße“ (Helmut Schmidt) nie wieder zu machen.
Legendär das Treffen von Leonid Breschnew und Bundeskanzler Schmidt in dessen kleinen Häuschen in Hamburg-Langehorn.
Schmidt hatte ihn von Bonn aus eingeladen mit zu ihm nach Hause zu kommen. Daraufhin bestieg Breschnew ganz unprätentiös eine Bundeswehr-Boeing 707, um von Köln-Bonn nach Hamburg-Fuhlsbüttel zu kommen.
Der Führer des gewaltigen Warschauer Pakts ausgeliefert in einer kleinen Nato-Maschine – das wäre vor Bahrs Vertrauenspolitik undenkbar gewesen.
Breschnews sah sich Schmidts Umgebung in Langenhorn genau an und mutmaßte, es müsse sich um einen Funktionärsstadtteil handeln, da es so viele kleine Einzelhäuschen gab.
Daß in Westdeutschland völlig normale Durchschnittsverdiener in solchen Häusern wohnten, war ihm bis dahin unbekannt.
Man hockte dann in den beengten Verhältnissen zusammen, während Loki Schmidt nebenan in der Küche Butterbrote schmierte und erzählte sich gegenseitig aus dem Leben.

Möglicherweise können es sich jüngere Menschen, die es heute gewohnt sind, daß Politiker bei jeder Gelegenheit Privatheit und scheinbare Freundschaft inszenieren gar nicht mehr vorstellen was für eine unglaubliche Sensation der damalige Besuch war, welch einen Durchbruch in den internationalen Beziehungen er bedeutete.

Möglich gemacht hatte es das reden, reden, reden.
Das Bohren dicker Bretter, die Politik der kleinen Schritte.
Es nützt eben nichts nur mit den Menschen zu sprechen, die einem ohnehin zustimmen.
In der Diplomatie gilt es gerade mit denen eine Gesprächsbasis zu finden, die ganz anderer Auffassung sind und in anderen politischen Systemen an die Macht gekommen sind.

Heute ist die Welt sogar noch mehr zusammengewachsen. Die Konflikte der Erde sind mannigfacher, komplizierter, vielschichtiger und verheerender geworden.
Ohne Zusammenarbeit ist keine Besserung möglich.

Deswegen ist es das Falscheste, das man tun kann, wenn sich die G7 jetzt schmollend auf den Standpunkt zurück zieht, daß Putin und Lawrow nicht mehr eingeladen werden, weil man mit denen „zur Strafe“ nicht mehr sprechen wolle – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem es wichtiger denn je ist, miteinander zu sprechen.

[…] Gregor Gysi hat Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum G7-Gipfel nach Deutschland einzuladen. "Da es keine Krisenlösung ohne Russland gibt, muss man natürlich aus G7 wieder G8 machen", sagte der Linksfraktionschef: "Eine Isolierung Russlands bringt nichts, schadet nur."
Russland war im vergangenen Jahr nach der Annexion der Krim aus der Gruppe der acht wichtigsten Industrienationen ausgeschlossen worden. Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz. Am Dienstag und Mittwoch findet in Lübeck das G7-Außenministertreffen statt und am 7. und 8. Juni das Gipfeltreffen auf Schloss Elmau in Oberbayern.
Gysi begründete seine Forderung damit, dass Putin in den Atom-Verhandlungen mit Iran und bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen eine positive Rolle gespielt habe. "Er ist und bleibt natürlich eine wichtige Person im gesamten internationalen Gefilde", sagte er. "Wir können uns ja nicht aussuchen, wer Staatschef in Russland ist."
[…] Gysi forderte die Staatengruppe auf, die Strafmaßnahmen gegen Russland zurückzufahren. "Sie müssen dazu übergehen, die Sanktionen gegen Russland abzubauen, um Russland wirklich wieder ins Boot zu bekommen für etwas, das uns fehlt, nämlich eine funktionierende Weltpolitik." […]

Gregor Gysi hat vollkommen Recht!
Es ist außerordentlich bedenklich, daß er der einzige relevante Abgeordnete ist, der sich so äußert.
Dabei stimmen ihm alle Realpolitiker zu – von CDU-Horst Teltschik bis Helmut Schmidt.
Auch Steinmeier ließ zwischen den Zeilen durchblicken, daß er es für absurd hält von gestern bis in die heutigen frühen Morgenstunden in Berlin mit Laurent Fabius (Außenminister Frankreichs), Pawlo Klimkin (Ukraine) und Sergej Lawrow (Russland) die Lage in der Ostukraine zu diskutieren und dann Lawrow wie einen unartigen Schuljungen wegschickt, während Steinmeier und Fabius rüber nach Lübeck zum zweitägigen Außenministertreffen der G7-Staaten fuhren.
Dort diskutiert man heute die Megaprobleme in Syrien und dem Iran, die sowieso ohne Russland nicht zu lösen sind.

DAS  IST GAGA, lieber Westen.

Aus G7 muß sofort wieder G8 werden.