Donnerstag, 19. September 2013

Wat mut, dat mut!


Politik ist gar nicht so abstrakt, wie man immer denkt.
Es ist gar nicht egal wer in welchen Kammern die Mehrheiten stellt.
Ich verstehe ja den Impuls, den viele 2009 hatten:

„Westerwelle ist Außenminister? Krass! Ich guck‘ mir nie wieder die Tagesschau an!“

Allerdings wird die Realität eben nicht besser, wenn man die Augen fest vor ihr verschließt. Die Deutschen sind nicht wie die Isländer vor das Parlament gezogen und haben dort so lange demonstriert, bis der Hotelier-affine Lobbyhörige aus dem Amt gejagt war.
Der hysterische Depp („Ich bin nicht als Tourist in kurzen Hopsen hier!“ Stampf‘ mit dem Fuß auf. „Was ich sage, das zählt!“) war tatsächlich vier Jahre deutscher Chefdiplomat und hat entsprechend seiner politischen Fähigkeiten, das Ansehen des Landes schwer ramponiert.

Daß vier Jahre die gelbe Pest konkrete pekuniäre Konsequenzen haben, zeigte ich gestern anhand meines Krankenversicherungsstatus‘. 300 Euro mehr im Monat knöpfen mir nun die Milliardenschweren Versicherungskonzerne ab – weil Schwarzgelb die Weichen dafür stellt.


Und das ist noch eins der kleinsten Probleme, die ich mit dieser Regierung habe. Außenpolitisch, kirchenpolitisch, gesundheitspolitisch, Atom-politisch und bildungspolitisch sieht es noch weit schlimmer aus.


Heute sprach ich mit einer Altenpflegerin im ambulanten Pflegedienst eines Hamburger Innenstadtteils. Sie übernimmt ununterbrochen die Nachtschicht, weil sie ihre Töchter im Altern von sechs und acht Jahren morgens in die Schule bringen muß. Am Ende des Monats erhält sie für diese psychisch sehr fordernde und physisch auszehrende Tätigkeit brutto 1290 Euro und bekommt davon 930 Euro ausgezahlt.
 Ihre Wohnungsmiete beträgt 600 Euro. Abzüglich Strom, Telefon, etc  ist spätestens um den 15., 16., 17. herum das Geld alle und noch so viel Monat übrig.


Sie hätte mehr Geld im Monat, wenn sie gar nicht arbeiten würde und rackert sich nur deswegen ab, weil sie eine soziale Verpflichtung spürt das zu tun was getan werden muß.
Aber solche geringverdienenden Pflegerinnen sind einem Daniel Bahr und einer Angela Merkel eben vollkommen egal, während sie den Großkonzernen zu Hause und den internationalen Banken die vom Steuerzahler aufgebrachten Milliarden zuschieben.
Das ist abartig und pervers.
Das soll aber auch sofort von den Grünen und der SPD abgeschafft werden, wenn sie an die Macht kommen.




Die Frage, die sich jeder Wähler stellen muß, lautet also:
Kann ich es verantworten mich so zu verhalten, daß diese Lobbypolitik weitergetrieben wird, während Millionen Deutsche darunter leiden?
Will man mitschuldig sein an der Ausgrenzung von Kindern mit Homoeltern, von Wählern mit migrantischen Wurzeln und geringverdienenden Leiharbeiterinnen?
Wer nicht wählt oder sein Kreuz bei Piraten oder Linken macht, sagt letztendlich „Ja zu Merkel!“.



Da kürzlich jemand fragte, weswegen ich noch Geld für die ZEIT“ ausgebe, dem sei jetzt erwidert, daß es neben der frömmelnden „Glauben und Zweifeln“-Rubrik noch andere Autoren gibt.
Zum Beispiel die geniale Carolin Emcke, die im ZEIT-Magazin von heute Auskunft darüber gibt, weswegen sie wählt.

Diese Wahlen sind Wahlen. Die These von der Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit der Parteien und ihrer Programme ist so hanebüchener Unfug, dass der Verdacht aufkommen kann, die Wahlkampfmanager der CDU hätten sie in Umlauf gebracht. Wer den Status quo erhalten will, braucht nur zu behaupten, diese Wahlen machten keinen Unterschied oder, schlimmer noch: Wählen oder Nichtwählen mache keinen Unterschied. Das ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch politisch obszön.
Warum die Wahlen einen Unterschied machen? Wenn Sie mehr Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen wollen, dann sollten Sie CDU wählen. Das gibt es als Forderung nur bei der CDU. Da ist sie unverwechselbar.
Wenn Sie keinerlei Lobbykontrolle wollen, kein Lobbyregister, keine Parteispenden-Deckelung, dann sollten Sie CDU oder FDP wählen. Diese Fragen tauchen in deren Programmen nicht auf. Wenn Sie keinen flächendeckenden Mindestlohn wollen, dann sollten Sie FDP wählen. Da ist sie keineswegs austauschbar. Wenn Sie etwas wollen, das so tut, als sei es ein flächendeckender Mindestlohn, aber nur für tarifvertragslose Branchen und Regionen gilt, dann sollten Sie CDU wählen.
Wenn Sie wollen, dass Frauen eher zufällig an Machtpositionen gelangen, wenn Sie grundsätzlich daran interessiert sind, dass so wenig wie möglich soziale Ungerechtigkeiten, Schicksal oder Krankheit oder Herkunft solidarisch aufgefangen und ausbalanciert werden, wenn Sie Empathie grundsätzlich für eine individuelle oder gesellschaftliche Pathologie halten, dann und nur dann sollten Sie FDP wählen. Darin ist sie unverwechselbar.
Wenn Sie wollen, dass die Unantastbarkeit der Würde nur für Sie selbst und niemals für andere gilt, wenn Sie wollen, dass Heterosexuelle mehr Rechte haben als Homosexuelle, wenn Sie eine Regierung wollen, die aus Überzeugung andere so lange diskriminiert, bis sie vom Bundesverfassungsgericht daran gehindert wird, dann sollten Sie CDU wählen.
Wenn Sie kein Problem damit haben, Leopard-2-Panzer in Länder mit demokratisch fragwürdiger Legitimation zu liefern, und auch keins damit, einige Jahre später einem Auslandseinsatz der Bundeswehr in eben einem solchen Land zuzustimmen, weil sie die Zivilbevölkerung dort nach der responsability to protect-Doktrin vor Ihren eigenen Waffen schützen müssen, dann spielt es auch keine Rolle, ob Sie wählen gehen oder nicht.
Für wen die Wahlen einen Unterschied machen? Für alle diejenigen, die einen geliebten Menschen im Altenheim unterbringen mussten und die miterleben, was die Ökonomisierung des Gesundheitswesens bewirkt hat: wie dort schlecht bezahlte Leasingkräfte, sogenannte "Springer", zusammenbrechen unter der Last, viel zu viele demenzkranke, verunsicherte, einsame Patienten in zu eng getakteter Zeit zu versorgen – und die sich wünschen, dass das Pflegepersonal besser ausgebildet und honoriert wird; für alle diejenigen, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen und sich abschuften für ein Auskommen – und die einen gesetzlichen Mindestlohn erhoffen; für alle diejenigen, die die Pisa-Studie lesen konnten und die wissen, dass eine Ganztagsschule nicht nur eine größere Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleistet, sondern auch bessere schulische Ergebnisse ihrer Kinder zeitigt – und die sich ein sozial gestaffeltes Kindergeld und flächendeckende Ganztagsschulen wünschen; für alle diejenigen, die nach dem NSU-Terror das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben; für alle diejenigen, die wissen, dass der Prozess gegen Beate Zschäpe politisch und juristisch wichtig, aber nicht ausreichend ist; für alle diejenigen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit jeden Tag erleben, in den sichtbaren und unsichtbaren Praktiken der Exklusion – und die sich nicht zuletzt wünschen, dass mehr Migrantinnen und Migranten in den Staatsdienst aufgenommen werden; für alle diejenigen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können, die aus dem Zentrum der Städte verdrängt werden, an den topografischen und sozialen Rand – und die sich wünschen, dass es eine Stadtentwicklungsstrategie gäbe, die bei Mietpreisdeckelung bei Neuvermietung nur beginnt. Und dann schließlich für all jene, für die die "Ich möchte lieber nicht"-Debatte überaus wohlfeil daherkommt, weil sie gar nicht wählen dürfen: für alle Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, die zwar hier arbeiten und leben, deren Kinder hier zur Schule gehen, die im Fußballverein oder im Chor mitwirken, aber die nicht mitbestimmen dürfen, wie ihre Kommunen und Städte verwaltet und regiert werden.

Wem sein eigenes Wahlrecht gleichgültig ist, wem kein einziger Grund zum Wählen einfällt, der sollte mindestens dafür stimmen, dass diejenigen, die gerne wählen würden, wählen dürfen. 18,9 Prozent beträgt der Anteil der Migranten an der gesamten Bevölkerung, und nur 9 Prozent von ihnen gehören zu den Wahlberechtigten. Wen die angeblich postdemokratische Verfasstheit dieser Republik stört, der sollte mindestens das eklatanteste Demokratie-Defizit abschaffen und für das kommunale Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer stimmen.