Donnerstag, 28. September 2023

Naive Hoffnungen

Fritze Merz neueste Lügenaktion aus dem AfD-Kramkasten ist so wenig überraschend, wie das Amen in der Kirche und fügt sich nahtlos in eine ganze Kaskade rechtsextremer Ausfälle des Ober-Christunionisten ein.

[….]  Wie verwahrlost die Debatte über den Umgang mit geflüchteten Menschen unter dem Eindruck steigender Zugangszahlen und nahender Landtagswahlen in Deutschland geworden ist, zeigen die unsäglichen Äußerungen des Friedrich Merz. Wieder einmal spielt der CDU-Vorsitzende ganz bewusst die Schutzsuchenden gegen den Rest der Bevölkerung in Deutschland aus. Jetzt sind Asylbewerberinnen und Asylbewerber angeblich nicht nur an der Wohnungsnot und dem Mangel an Kita-Plätzen schuld, sondern auch daran, dass „deutsche Bürger“ in Zahnarztpraxen keine Termine bekommen. Das ist ein dermaßen gefährlicher Unfug, dass es einem fast die Sprache verschlägt. […]

(Pitt von Bebenburg, FR, 28.09.2023)

Diesmal ist der Fall sehr klar; Merz hetzt nicht nur, sondern er plappert 1:1 die Hetze des AfD-Abgeordneten Martin Sichert vom 23. September nach und er lügt wie gedruckt. Das ist die CHRISTEN-Union des Jahres 2023: Mit perfiden Lügen Menschen gegen Menschen aufhetzen, um möglichst viel Unfrieden zu säen.

Selbst seiner CDU war die plumpe Hetze ihres Chefs zunächst so peinlich, daß sie die entsprechenden Aussagen aus dem Merz-Interview herausschnitt.

Dabei ging die CDU aber; wieder einmal; so dilettantisch vor, daß es sofort auffiel und sie sich erneut korrigieren musste.

Es passt ins Bild dieser, auf rechten Abwegen, von Panne zu Panne irrlichternden Merz-CDU.

[….] Der »Welt«-Philosoph Robin Alexander prägte einst einen legendären Satz über die deutsche Sozialdemokratie. »Die CDU und die CSU rühren einen Topf an mit übel riechendem Zeug – und dann kommt die SPD und stülpt ihn sich über.« [….]

Inzwischen hat sich die Lage dramatisch geändert, denn der Topf mit dem übel riechenden Zeug findet zuletzt immer häufiger den Kopf der CDU. [….] Vor 13 Tagen brachten die Christdemokraten im thüringischen Landtag ein Gesetz zur Senkung der Grunderwerbsteuer ein. Die CDU setzte es auch durch, allerdings nur, weil neben der FDP auch die AfD geschlossen zustimmte. Eine solch informelle Kooperation warf zumindest die Frage auf, wie es die CDU wirklich mit der AfD hält. Sagen wir es so: Für eine Partei, die nicht den Eindruck erwecken will, vor allem mit eigenen Problemen beschäftigt zu sein, war die Episode nicht allzu glücklich. Ein paar Tage später präsentierte die CDU-Führung dann ein neues Logo und eine neue Parteifarbe. Motto: neues Logo, neues Glück. Es kam dann anders. Auf der Slapstick-Skala erhielt die Aktion jedenfalls zehn von zehn, volle Punktzahl. Statt des Berliner Reichstags schmückte die Kuppel des Präsidentenpalastes von Tiflis den dazugehörigen Imagefilm. Die (absichtlich?) vergessene Angela Merkel musste, nach Protesten, schnell noch über Nacht in den Film montiert werden. Sebastian Kurz bemerkte süffisant (und nicht ganz zu Unrecht), dass man die neue Farbe wohl bei ihm geklaut habe. [….]  Und kaum ist die Aufregung über das Logo verebbt, sind die Christdemokraten aus Thüringen zurück im Rampenlicht. Bald wollen sie ein weiteres Gesetz in den Landtag bringen, bei dem die Hilfe der AfD gewiss sein dürfte. Diesmal geht es nicht um eine technische finanzpolitische Angelegenheit, sondern um Kulturkampf pur. Das sogenannte »Korrekte-Sprache-Gesetz« soll verbieten, dass an Thüringer Schulen und in der Verwaltung gegendert wird. [….]

(Markus Feldenkirchen, SPON, 28.09.2023)

Wäre die CDU eine seriöse Partei mit Anspruch auf die Kanzlerschaft, müßte sie ihren Doppelvorsitzenden Merz längst kaltgestellt haben. Dieser peinliche Mann disqualifiziert sich jeden Tag auf’s Neue.

[….] Es ist eine Rhetorik, wie man sie von der AfD kennt: Die gegen uns, Ausländer gegen Deutsche. Keine Differenzierung, nur plumpe Zuspitzung. Friedrich Merz, der einmal mit dem Versprechen angetreten ist, die CDU zur integrierenden Volkspartei der Mitte zu machen, hat wieder mal einen rausgehauen. [….] Die Sätze von Merz sind eine maßlose und aufwiegelnde Übertreibung. Und sie reihen sich ein in eine Kette von Merz-Aussagen, etwa zum "Sozialtourismus", zu den "kleinen Paschas", zum Umgang mit der AfD in den Kommunen oder zur CDU als "Alternative für Deutschland mit Substanz".

[….] Die politische Stimmung ist bereits gefährlich aufgeheizt. In den Umfragen liegt die AfD schon in vier Bundesländern über der 30-Prozent-Marke. Wer in so einer Situation bei einem derart sensiblen Thema seine Worte nicht zu wägen weiß, ist ein Sicherheitsrisiko. [….] Die enormen Probleme in der Migrationspolitik müssen angesprochen werden. Schönfärberei, die in Teilen der Ampel immer noch betrieben wird, hilft da nicht weiter. Wer aber über ein derart sensibles Thema derart aufwiegelnd spricht, wie Merz jetzt schon wieder, ist für die Kanzlerkandidatur ungeeignet. [….]

(Robert Roßmann, SZ, 28.09.2023)

Sicher, in den USA ginge das; dort hat sich eine gesamte konservative Regierungspartei, schon seit Jahren völlig von Fakten und Anstand verabschiedet.

Aber Deutschland ist viel mehr in internationale Verpflichtungen eingebunden, funktioniert meistens als Mitglied einer EU-Institution.  Wie sollte das eigentlich funktionieren unter einem Kanzler Merz, der nicht nur intellektuell minderbemittelt ist und fortwährend lügt, sondern auch sein Mundwerk nicht unter Kontrolle hat und ständig rechtspopulistische Lügen in die Welt bläst?

[….]  CDU-Chef Friedrich Merz hat sich mal wieder in einer Talkshow blamiert. [….] Hinter Merzs Statement steckt ein weiterer Versuch der Diskursverschiebung nach Rechts, der die Tür für die AfD weit aufmacht. Denn eine Lösung für das scheinbare Problem bietet auch Merz nicht an. Man kann nicht einfach Leute abschieben, nur weil es Herrn Merz gerade so gefällt. [….] Und schon im September 2022 verbreitete Friedrich Merz das hetzerische NPD(!)-Schlagwort von Flüchtlingen als „Sozialtouristen“. [….] Blickt man also nur auf die Menschen, die sich um Asyl in Deutschland beworben haben, abgelehnt wurden und nun ausreisepflichtig sind, sinkt die Zahl, wiederum laut Bundesinnenministerium […], auf 13.784. Das sind noch 4,6% der von Merz ausgedachten 300.000. [….] [….] Merz hat keine Antwort. Deswegen werden seine Aussagen immer polemischer, deswegen treibt die Union den politischen Diskurs in Deutschland immer mehr in rechtspopulistische Gewässer. Und das, obwohl die Zahl der Abschiebungen schon auf einem Höchststand ist. Darum verbreitet er komplett unsinnige Zahlen wie angeblich 300.000 Migrant:innen, die alle nach Deutschland kommen um sich die Zähne machen lassen. Offensichtlich ist das kompletter Unsinn, [….] Wem dieser Diskussionsstil dagegen hilft, das ist die AfD. Merz eröffnet das diskursive Spielfeld, auf dem die AfD am besten spielen kann. [….]

(Frederik Mallon; Sep 28, 2023)

Der Mann ist ein hoffnungsloser Fall und Wiederholungstäter. Er wird sich nicht bessern. Die CDU hat gegenwärtig 371.000 Mitglieder; Durchschnittsalter 61 Jahre.

Was die selbstproklamierten „christlichen Werte“ bedeuten, erkennt man sehr schön daran, daß weniger als einer von 100.000 widersprechen, wenn der Chef immer wieder gegen Menschen in Not hetzt und brutalen Nächstenhass befeuert.

Gegenstimmen kommen stets nur von drei Herren, die ihre Parteikarriere hinter sich haben; Ex-General Polenz, Ex-MP Hans und Ex-Vorstandsmitglied Friedmann.

Die ehemaligen Vorsitzenden Merkel, Kramp-Karrenbauer und Laschet; allesamt engagierte Christen, blamieren sich durch zustimmendes Schweigen zum AfD-Kurs des Vorsitzenden.

Daher, lieber Lorenz Meyer, geht diese Hoffnung ins Leere.

Daher, liebes CDU-Mitglied Heinrich Strößenreuther, bleibt es nur ein Oxymoron der Hilflosigkeit, auf „anständige Mitglieder“ zu bauen.

Wenn Sie nach Anstand suchen, sind Sie in der falschen Partei!

[….] Der Grüne Julian Pahlke forderte die Unionsfraktion auf, sich angesichts von Merz' „Rassismus“ einen neuen Vorsitzenden zu wählen und wieder christliche Werte zu vertreten.

„Sie jagen doch jeden Tag eine neue migrationspolitische Sau durchs Dorf“, so Helge Lindh (SPD), in Richtung Merz. Merz mutiere selber gerade zu einem Rechtspopulisten. Politik habe mit Verantwortung und nicht mit „Verhetzung und Verdummung“ zu tun, wie es die Union gerade betreibe. [….] Konstantin von Notz, [….] zitierte zunächst den Text des christliches Blogs feinschwarz.net, dessen Betreiber sich laut von Notz auch im Umfeld der CDU engagieren. Die Führungsspitze der CDU lasse sich demnach „von populistischer Rhetorik und Agenda-Setting der Neuen Rechten leiten, indem etwa klar besetzte Begriffe [...] aus diesem Milieu für christdemokratische Politik übernommen werden und dadurch die Gefahr einer Normalisierung dieser verwerflichen Positionen besteht.“ [….] Friedrich Merz' Aussagen vom Vortag zu Asylsuchenden seien „objektiv falsch und menschlich niederträchtig“, urteilt der Grünen-Politiker. Die Äußerungen seien „auf dem Niveau eines russischen Troll-Accounts“ und dem Fraktionsführer einer demokratischen Partei unwürdig. [….] Parteiinterne Kämpfe und die Auseinandersetzung mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik dürfe nicht auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden. Vor allem würden solche Aussagen in der Sache überhaupt nicht weiterhelfen. „Fake-News“ und „Populismus“ seien destruktiv, so von Notz. Das Ganze sei nur eine „Simulation von Politik“, zog der Grüne weiter vom Leder.  [….]

(KSA, 28.09.2023)

Angesichts dieser CDU, steht jeder Anständige zu SPD und Grünen.

[….] "Menschlich niederträchtig" sei CDU-Chef Friedrich Merz, schimpfte etwa ein Redner der Grünen. Merz schütte populistisch "Öl ins Feuer", sagte ein Redner der SPD, er "zündelt schon wieder" eine Rednerin der Grünen. [….] Das war eine Tonalität, die man bei diesem Thema von Armin Laschet, Annegret Kramp-Karrenbauer oder Angela Merkel - den früheren CDU-Chefs - nie gehört hatte. [….] Olaf Scholz bezog sich zwar nicht ausdrücklich auf Merz, aber die Anspielung war deutlich: "Mein klares Ziel sind Lösungen, die unser Land voranbringen - am besten gelingt uns das gemeinsam. Mit heißer Luft und Populismus wird nur die Stimmung im Land aufgeheizt."  [….]

(SZ, 28. September 2023)


 

Mittwoch, 27. September 2023

Deutsche Bellizisten

Ein echtes Problem an der Ukraine-Strategie der NATO-Staaten ist nach wie vor das Nicht-formulieren-Können eines gemeinsamen Ziels.

Das macht es Rechts-, Links- und Querpopulisten so leicht. Sie können Scholz, Biden, Hofreiter, Kiesewetter oder Strack-Zimmermann allerlei sinistere Motive unterstellen, die man gar nicht so leicht wegargumentieren kann, weil sich die Damen und Herren nie auf ein Szenario geeinigt haben, wie idealerweise der Krieg enden sollte. Es gibt nur vieles, das man nicht will:

·        Putin soll nicht mit Gebietsgewinnen für seine Aggression belohnt werden.

·        Zehntausende Ukrainische Opfer sollen nicht umsonst gestorben sein.

·        Der „Fall Ukraine“ soll nicht als Blaupause für andere Diktatoren dienen, also beispielsweise keinesfalls Xi dazu ermutigen, Taiwan zu überfallen.

·        International anerkannte Grenzen dürfen nicht zur Disposition stehen.

Klar, die vier Punkte würde ich auch unterzeichnen. Aber es läßt sich schlecht argumentieren, wenn man bloß weiß, was man alles nicht will.

Wie soll es denn realistischerweise ausgehen?

Ein Szenario, ganz ohne russische Gebietsgewinne, setzt einen vollständigen militärischen Sieg der Ukraine voraus. Das ist aber nahezu unvorstellbar, da Russland eine Atom-Supermacht ist, die per Definition nur um den Preis der atomaren Vernichtung allen Lebens auf der Erde, zu schlagen ist.

Es sei denn, Putin wandelt sich überraschend zum Friedensengel und sagt seinem russischen Volk:

 „Hoppla, da ist mir ein kleiner Fehler unterlaufen, der leider ein paar Hunderttausend Russen das Leben gekostet hat und die Wirtschaft ruiniert hat. Es war auch alles umsonst. Dafür bekommt Ihr rein gar nichts. Russland ist auf ganzer Linie Verlierer und die Ukraine lacht uns zusammen mit der gesamten Weltgemeinschaft aus. Macht ja nichts, Schwamm drüber.“              
          

Die Wahrscheinlichkeit für so eine Ansprache dürfte nahezu Null Prozent betragen.

Eher greift Putin dann doch zu ABC-Waffen, um sein Gesicht zu wahren.

Aber selbst wenn Putin devot einknickte, würde das wohl seinen Kopf kosten und damit die Welt vor noch viel größere Probleme stellen.

Dann übernimmt möglicherweise ein zweiter Jewgeni Prigoschin den Kreml und ist im Zweifelsfall noch unberechenbarer und brutaler.

Da es keinen natürlichen Putin-Nachfolger gibt, wäre es im Falle einer totalen Niederlage in der Ukraine auch vorstellbar, daß Russland, wie so viele andere Nationen, politisch zerfällt, sich lauter Regionen unter der Führung irrer Warlords für unabhängig erklären, die dann aber alle unantastbar wären, weil jeder von ihnen Atomwaffen hätte. Das wäre der maximale Alptraum für die westlichen Geostrategen, wenn ein Dutzend Partial-Diktatoren um die Vorherrschaft kämpfen und die Welt damit erpressen können, dem Iran oder afrikanischen Diktatoren taktische Atomwaffen zu verkaufen.

Ich halte es für möglich, daß Strategen „des Westens“ daher eher auf einen langen Ermüdungskrieg zwischen der Ukraine und Russland setzen. Bis beide Seiten in zehn oder 20 Jahren dermaßen ruiniert und entvölkert sind, daß man mit einer kleinen Blauhelmtruppe den Konflikt einfrieren kann.

Das ist freilich eine so inhumane Strategie, daß man sich nicht offen dazu bekennen kann, da sie womöglich Millionen Todesopfer fordert.

Außerdem birgt sie das Risiko, daß bei veränderten politischen Vorzeichen in den Hauptunterstützerländern der Ukraine – nämlich der USA und Deutschland – die Waffenlieferungen nach Kiew eingestellt werden. Dann könnte Putin gewinnen und Peking das „Go“ bekommen, Taiwan platt zu machen.

Dazu muss nur Trump in einem Jahr die US-Wahlen gewinnen.

Es ist ein Problem in Deutschland, daß diejenigen, die auf die Strategielosigkeit des Westens verweisen und gern wüssten, welche Lösung es für die Ukraine geben könnte, was die NATO eigentlich anstrebt; keine seriöse politische Vertretung haben, sondern nur die Auswahl zwischen Waffenlieferungs-Fans einerseits  - Baerbock/Hofreiter- und Putin-Fans andererseits  - Wagenknecht/Schwarzer/Höcke – haben.

Da ich selbstverständlich auch keine praktikable Lösung anbieten kann, wäre es etwas schal, beide genannten Positionen als gleichermaßen amoralisch zu verwerfen.

Aber schlau ist das nicht, wie die Menschen, der Westen, wie Europa sich verhalten.

Sorge bereiten mir außerdem die abschreckende Wirkung der lautesten deutschen Polit-Protagonisten auf eine ohnehin schon wackelnde demokratische Kultur.

Freundliche Akademiker, die seit Jahrzehnten Grün wählten, in Mutlangen und Wackersdorf protestierten und ihre Freizeit bei der Flüchtlingshilfe verbringen, haben keine politische Heimat mehr, wenn sie Hofreiter im Panzerwahn wettern sehen, sind entsetzt von Baerbocks Auftreten.

Und was sollen eigentliche moderate Konservative des Sorte Polenz/Friedmann noch wählen, wenn Roderich Kiesewetter (*1963), Oberst a. D. der Bundeswehr, Militärexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes, sowie Obmann der CDU/CSU-Fraktion und stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss, dem Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung und dem Unterausschuss Vereinte Nationen, Internationale Organisationen und Globalisierung, folgendes sagt:

[….] „Drohnenangriffe auf Moskau mit sehr geringen Auswirkungen sind auch deshalb nötig, weil sie die russische Bevölkerung trotz der Fehlinfos über den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine informieren.“  [….]

(R. Kiesewetter, 30.07.2023)

Das empfiehlt als die CHRISTLICHE Union als Kommunikationsmethode gegenüber der russischen Zivilbevölkerung?

Interessanterweise wurde zwar über diese Äußerungen des CDU in vielen Medien berichtet, aber es gab fast keine Kritik. So weit sind wir offenbar.

Dienstag, 26. September 2023

Auswanderung, die Mutter aller Probleme

Jens Spahn, CDU-Rechtsaußen mit ausgeprägten Hang, die Hand aufzuhalten und private Vermögenswerte zu schaffen, bewundert einen Politiker über alle Maßen: Sich selbst! Daher hielt er sich für den natürlich nächsten Regierungschef nach Angela Merkel. Oder zumindest für die ganz große Nummer nach Übergangskanzler Laschet. Dafür knüpfte er bereits enge private Kontakte mit dem US-amerikanischen Faschisten und Radikal-Trumpianer Richard Grenell, sowieso dem zutiefst korrupten Österreichischem Kanzler Kurz. 

Aus dem Bundeskanzler Spahn-Plan wurde unter anderem deshalb nichts, weil er als Minister so katastrophal beim Corona-Management versagte und für dubiose Maskendeals und Immobilienkredite berühmt wurde. Spahns Plan B war es, wenigstens zum Parteiführer aufzusteigen. Daraus wurde unter anderem deshalb nichts, weil er als Menschen innerhalb der CDU ungefähr so bleibt wie Fußpilz ist und auf Parteitagen abgestraft wird.

In Ermangelung von Regierungsposten und Parteiämtern, sitzt Spahn nun vorzugsweise in Talkshows und hetzt in klassischer AfD-Man darf-ja-nichts-mehr-sagen-Attitüde gegen Ausländer.

Damit schließt sich der Kreis; man wird wieder an seine ersten Ministertage erinnert, als er den katastrophalen Pflegekräftemangel durch gezielte Anwerbungen aus dem Ausland ausgleichen wollte und – wie bei allen seinen politischen Vorhaben – selbstverständlich auch ganzer Linie scheiterte.

(….) Vor vier Jahren versprach Jens Spahn 13.000 neue Pflegekräfte einzustellen. Er scheiterte auf ganzer Linie, weil er nicht verstand, daß der Pflegeberuf nicht attraktiv ist, wenn man alle Trümpfe den schwerreichen Krankenhausbetreibern zuschiebt, die Chefärzte und Pharma-Vertreter Porsche Targa fahren lässt und den Krankenschwestern Mehrarbeit und Lohnverzicht beschert.

(….) Und eins muss man sagen, Spahn schafft was weg (Merkel): Ein gutes Jahr nach seiner Ankündigung bundesweit 13.000 zusätzliche Pfleger einzustellen (gebraucht werden mindestens 50.000 Zusätzliche), hat er bundesweit schon fast 300 Neueinstellungen geschafft! Yippie, wenn das in dem Tempo weitergeht, sind die 13.000 Stellen in etwa 43 Jahren, also 2062 besetzt. Die 50.000 benötigten Kräfte wären dann im Jahr 2186 einsatzbereit. (….)

(Geld oder berufliches Ansehen, 31.08.2019)

Es ist wenig überraschend; die Pandemie und die damit verbundene extreme Zusatzbelastung macht den Job noch unattraktiver. An die Zehntausend Pflegekräfte kündigten inzwischen.

[….] Seit Beginn der Coronapandemie hat Deutschland offenbar tausende Pflegekräfte verloren. Der Rückgang betreffe Krankenhäuser ebenso wie die Altenpflege, berichteten die Zeitungen der Funke Mediengruppe heute unter Berufung auf bislang unveröffentlichte Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die die Linken-Bundestagsfraktion anfragte.  Demnach ging die Zahl der Beschäftigten in der Pflege zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 um mehr als 9.000 zurück – dies entspreche einem Rückgang um 0,5 Prozent. Insgesamt waren demnach in Deutschland zuletzt rund 1,8 Millionen Menschen in der Pflege tätig. Vor der Pandemie seien die Be­schäf­tigtenzahlen in der Pflegebranche dagegen leicht gestiegen. Besonders von dem jüngsten Rückgang betroffen war dem Bericht zufolge die Krankenpflege in den Kli­niken. Das Minus bei den Beschäftigtenzahlen lag demnach in der ersten Hochphase der Coronakrise bei 5.124. In der Altenpflege sei die Zahl der Beschäftigten im Zeitraum von Anfang April bis Ende Juli um 3.885 zurückgegangen – in der Summe 9.009 Pflegekräfte weniger. [….]

(Ärzteblatt, 09.03.2021)  (….)

(Krankenpflege kapitalistisch, 10.09.2021)

Spahns Nachfolger im Amt, Karl Lauterbach, wendet ein ganz neues Konzept an, das CDU-Gesundheitspolitikern unbekannt ist: Kompetenz.

Aber auch in Zusammenarbeit mit dem Kollegen Hubertus Heil, kann er kaum noch ändern, was Spahn in den Talkshows, gemeinsam mit den Parteichefs Merz und Söder anrichtet: Deutschland gilt insgesamt als so xenophob, ungastlich und garstig, daß kaum noch einer freiwillig hierherkommen will, um in der Pflege zu arbeiten.

[…..] Deutsche Manager und Minister reisen derzeit weit, um nach Fachkräften zu fahnden. Der Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft hofft auf Busfahrer aus Afrika. Kliniken fahnden in Vietnam oder im Kosovo. Und Arbeitsminister Hubertus Heil, SPD, warb in Brasilien, Ghana und Indien um Fachkräfte für Germany.

Ihr Erfolg ist überschaubar. Nur ein Beispiel: Trotz aller Anstrengung konnte die Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Ausland vermitteln. Nötig wären Zehntausende. Und die Pflege ist nur eine Branche von vielen, die vergebens auf Experten aus der ganzen Welt hoffen.  […..]

(SPIEGEL Nr.37. 09.09.2023)

Daß fast niemand mehr herkommen will, liegt zum einen daran, daß man als Pfleger beispielsweise in den USA das Dreifache verdient, nur ein Drittel der Patienten versorgen muss und auch noch für seinen Arbeit geachtet  wird.

Schlimmer ist aber, was ausländische Arbeitskräfte berichten, die schon einmal in Deutschland gearbeitet haben und das Fazit ziehen: BLOSS WEG HIER.

Misstrauen, Unfreundlichkeit, Hass und Missgunst sind insbesondere ein Problem in den ehemaligen DDR-Bundesländern.

Aber es ist schlimmer, denn auch in aufgeklärteren West-Bundesländern, wo man durchaus Arbeitsmigranten haben möchte, sind die Strukturen und Behörden so mies aufgestellt, daß sie die Arbeitswilligen gleich wieder vertreiben.

(….) Christiane Krämer, die Leiterin des  Seniorenzentrums Martha-Maria in Stuttgart kriegt alle Krisen. Sie schämt sich öffentlich für ihr Land und ihre Stadt, weil alle zwei Wochen eine Fachkraft aufhöre zu arbeiten, nur weil die Ausländerbehörde nicht hinterherkommt, die richtigen Fiktionsbescheinigungen zu erteilen und somit den Aufenthaltsgenehmigung erlischt.

[…..]  Im Seniorenzentrum Martha-Maria arbeiten 170 Pflegerinnen und Pfleger, rund 60 Prozent kommen aus Drittstaaten, aus Madagaskar, aus Syrien, aus Thailand. "Wir brauchen diese Leute dingend", sagt Krämer. Und am Ende sei es doch so: Wenn weniger Pflegekräfte arbeiten dürfen, müssen die verbliebenen mehr leisten. Das bedeutet: mehr Stress, mehr Krankheitsfälle, mehr Burn-outs. Die ganze Situation sei, vorsichtig formuliert, nicht gerade Werbung für den Standort Deutschland. Das werde sich herumsprechen. "Wir müssen um jede gute Fachkraft kämpfen, wir holen sie ins Land - und dann behandeln wir sie so."  […..]

(Max Ferstl, 27.07.2023)

Die Stuttgarter Ausländerbehörde ist telefonisch und per Email nicht zu erreichen. In ihrer Not stellen sich ausgebildete Pfleger, die fest in einem Stuttgarter Pflegeheim angestellt sind, immer wieder im Morgengrauen mit einem Klappstuhl vor die Ausländerbehörde, warten viele Stunden, nur mit der vagen Hoffnung, überhaupt eine der begehrten Wartenummern zu ergattern.

[…..] [Der aus Madagaskar stammende, ausgebildete und fest angestellte Pfleger] Edmond weiß inzwischen ziemlich genau, wie es in der Schlange so läuft. Erst wartet man stundenlang, Profis erkennt man an den Klappstühlen. Wenn er es bis zum Türsteher schafft, weist ihn dieser mit dem freundlichen Hinweis ab, dass er für die Änderung des Arbeitgebers und seines Status einen Termin braucht. Nur: Wenn er in der Ausländerbehörde anruft, um einen Termin zu vereinbaren wie auf der Internetseite gefordert, hebt keiner ab. Wenn er eine E-Mail schreibt, bekommt er keine Antwort. "Was soll ich tun?", fragt er, und wie er so in der Schlange steht und von seinen Versuchen erzählt, mit den deutschen Behörden in Kontakt zu treten, die Tür zum Ausländeramt im Blick, muss man kurz an Kafkas Schloss denken. Das Ziel so nah, und doch unerreichbar.

Der Sprecher der Stadt schreibt: "Die Darstellungen treffen zu. Leider."

Edmond sagt, dass er gerne wüsste, wie sich die Stadt das vorstellt. Wie soll er ohne Gehalt seine Miete bezahlen, 1200 Euro für sich und seine Frau? Wovon sollen sie leben? […..]

(Max Ferstl, 27.07.2023)

Ich kann und will keine Erklärungen mehr dafür finden, weswegen in einem so reichen Land wie Deutschland und ausdrücklich in so einer besonders reichen Gegend, wie Stuttgart, diese extreme politische Unfähigkeit grassiert.  (…)

(Stuttgart, 27.07.2023)

Wenn man der AfD, der FDP, den FW, der CDU, SPRINGER, der BILD, der CSU zuhört, könnte man meinen, Deutschlands Hauptproblem wäre, viel zu viele Menschen, die nach Deutschland kommen wollen. Das stimmt nicht nur NICHT, sondern das diametrale Gegenteil ist der Fall: Die Mutter aller Probleme ist die Abwanderung aus Deutschland. Jedes Jahr gehen eine Million gut Qualifizierte: Migranten und Deutsche gleichermaßen, die nicht hier bleiben wollen, weil es zu scheiße ist. 

Danke Merz, Söder und Spahn; Eurer rechtsradikales Gerede schadet der deutschen Wirtschaft massiv. 15% der in Deutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigten; die Lindners Kassen füllen und den Sozialstaat finanzieren, sind Ausländer. Ausländer, die dringend gebraucht werden und die immer intensiver darüber nachdenken, wieder weg zu gehen.

[…..] Weil das Warten auf ein Visum sie verschreckt.

Weil die Miete in deutschen Metropolen hoch und der Empfang durch die neuen Nachbarn kühl sein könnte.

Das ist es jedenfalls, was Rückkehrer erzählen, wenn sie in Spanien, Indien oder auf den Philippinen von ihrer Zeit in Deutschland berichten – was Deutschlands Ruf im Ausland formt. Und das Problem quasi verdoppelt. Schlimm genug, dass es vergleichsweise wenig Experten ins Land zieht. Schlimmer ist, dass jährlich mehr als eine Million Menschen es wieder verlassen.

Die Zahl belegt, dass Deutschland – und womöglich die Deutschen – nicht überall als offen und lebenswert empfunden werden. Vor allem aber sagt sie viel aus über die wirtschaftliche Zukunft.

Weil Deutschland altert, gehen dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 an die sieben Millionen potenzielle Erwerbstätige verloren. Damit könnte der Wohlstand schrumpfen. Um das Land am Laufen zu halten und es zu verändern, um Windräder zu bauen und Wärmepumpen anzuschließen, um neue Medikamente zu entwickeln und Chipfabriken zu betreiben, um Kinder zu fördern und Senioren zu pflegen, braucht es: Menschen.  […..] Ein Viertel der Befragten verließ Deutschland aus beruflichen Gründen wieder, weil etwa Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden. Ein weiteres Viertel aus aufenthaltsrechtlichen Gründen. Fast der Hälfte fiel es nach der Ankunft schwer, sich ohne Hilfe zurechtzufinden. Tatsächlich sind die bürokratischen Hemmnisse so hoch, dass selbst deutsche Heimkehrer sich schwertun, für ihre Kinder einen passenden Schulplatz zu organisieren. Besonders bedenklich: 51 Prozent der Befragten gaben an, wegen ihrer ethnischen Herkunft oder aus anderen Gründen diskriminiert worden zu sein – auch in Behörden oder im Arbeitsleben. Einzelne Zuwanderer berichteten, dass ihnen wegen ihrer Nationalität der Zutritt zu Bars verweigert wurde. »Solche Diskriminierungserfahrungen wurden insbesondere von Interviewten benannt, die in Ostdeutschland gelebt oder sich dort aufgehalten hatten«, heißt es in der Studie. Das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erkennt inzwischen gar »Standortnachteile« für den Osten.  […..]

(SPIEGEL Nr.37. 09.09.2023)

Kaum zu glauben, Deutschland leidet unter einem massiven EMIGRATIONSPROBLEM, eine Million Menschen jährlich empfinden die Arbeits- und Lebensbedingungen als so feindlich, daß sie ihre Koffer packen und eine ganz große rechts-liberale-rechtsextreme-populistische Koalition überbietet sich mit Ideen, wie man noch schneller, noch mehr Menschen aus Deutschland vertreiben kann.

Dabei ist der Fachkräftemangel bereits jetzt die ganz große ökonomische Wachstumsbremse, die Deutschland international zurückwirft.

Eine Fachkraft, die in Deutschland gearbeitet hat, aber aus Gram als Arbeitsmigrant in eine andere Nation wechselt, staunt im Rückblick, nicht schlecht.
Zum Beispiel die Mexikanische Finanzexpertin Patricia Salinas, die nach unfreundlichen vier Jahren in Hamburg nach Dubai weiterzog.

[…..] Eine Freundin ist ein Jahr vor mir nach Dubai gezogen. ›Nach einer Woche dort brauchst du meine Hilfe nicht mehr‹, hatte sie gesagt. Und das stimmt.

Ich kann selbst kaum glauben, wie einfach mir die Ankunft gemacht wurde. Visum, Einwohnerausweis, Bankkonto – in weniger als zwei Wochen sind alle Formalitäten erledigt. Für die Kontoeröffnung kam ein Bankmitarbeiter zu mir ins Büro, der Immobilienmakler hat mich für die Wohnungsbesichtigungen abgeholt und wieder zurückgefahren. Von der Post wurde ich freundlich gefragt, wann mir die Zustellung passen würde.

Jeder hier spricht Englisch. Wenn ich in Deutschland Probleme mit meinem Internetzugang hatte oder die Waschmaschine repariert werden musste, brauchte ich einen Dolmetscher. Mein Deutsch ist immer noch auf Anfängerniveau.

Drei Monate lang hatte ich versucht, einen Behördentermin zu bekommen, um eine Ausnahmeregelung für meine Blue Card zu beantragen. Mit ihr kann ich in der EU arbeiten. Ich hätte sie gern behalten. Der Plan war ursprünglich, dass ich in drei Jahren aus Dubai nach Hamburg zurückkehre.

Denn als ich persönlich im Amt erschien, um die Verlängerung zu beantragen und ich die Dame bat, langsam zu sprechen, schnauzte sie mich an: ›Wenn Sie in Deutschland leben, müssen Sie Deutsch sprechen.‹ Da fühlte ich mich sehr diskriminiert. Als Finanzchefin für Lateinamerika musste ich in Hamburg den ganzen Tag Spanisch, Portugiesisch und Englisch sprechen. Ich hatte keine Möglichkeit, mein Deutsch anzuwenden.

Die deutsche Blue Card wurde mir inzwischen ohne stichhaltige Argumente entzogen, aber ich will aus Dubai auch gar nicht mehr weg. […..]

(SPIEGEL Nr.37. 09.09.2023)

Montag, 25. September 2023

Quot erat expectandum – Teil III

Als aufmerksamer Medienbeobachter, Zeitungsleser, der kein ungewaschener Wutbürger ist, trainiert man sich die Überraschung über gewisse immer wiederkehrende Themen ab.

Rassistische Lügen der US-Republikaner, rechtsradikales Blinken der C-Parteien, sexuelle Übergriffe von katholischen Geistlichen auf Schutzbefohlene sind einfach zu häufig. Zu alltäglich, um jedes Mal wieder die Neurotransmitter in den eigenen Hirnsynapsen abzufeuern.

Andererseits sind die Taten an sich so übel und verwerflich, daß man seine Missbilligung irgendwie kanalisieren muss. Dafür hat der liebe G*tt Zynismus, Ironie und Sarkasmus erfunden. Und Memes.

Es ist notwendig, sich die Wut zu bewahren, weil die genannten Ekel-Organisation nicht nur im luftleeren Raum agieren, sondern kontinuierlich Opfer produzieren.

Die Kirche konnte und kann nur deswegen Hunderttausende Kinder und Pubertierende quälen und vergewaltigen, ohne dafür aus dem Verkehr gezogen zu werden, oder wenigstens finanziell zu bluten, weil ein breiter Gewöhnungsprozess eingesetzt hat. Die christliche Unwertegemeinschaft ist indolent gegenüber den Opfern und tolerant gegenüber den Tätern geworden.

Kinder vergewaltigen? Na und? Ist doch kein Grund, denjenigen, die das ermöglichen keine Denkmäler zu setzen und sie fürstlich zu bezahlen.

Stichwort Hengsbach-Affäre.

Da kann Ruhrbischof Overbeck, der schon vor zehn Jahren mit derartig abfälligen homophoben Sprüchen in Talkshows saß, daß er sogar den rechtsradikalen Erz-Dunkelkatholiken David Berger aus der Kirche trieb, herzlich lachen.

Wir, die gesamte Gesellschaft, jeder, der nicht aus der Kirche ausgetreten ist; jeder, der nicht jeden Tag vor einer Kirche demonstriert; jeder, der nicht jeden Tag seine Parlamentsabgeordneten mit Anfragen nach staatlichen Untersuchungen des Kirchensexsumpfes überschüttet, hat Mitschuld.

Wir sind gegenüber den von Priestern vergewaltigten Opfern genauso abgestumpft, wie gegenüber den in der Ägäis ertrinkenden Kleinkindern aus Syrien. Wir reagieren sowohl auf die Täter in Soutanen, als auch auf die FRONTEX-Pushbacks nur mit Milde.

Wenn eine Organisation, die im großen Maßstab Kinder verprügelt, psychisch quält und sexuell missbraucht, keine Lust hat, später Entschädigungen oder Schmerzengeld zu bezahlen, stört es uns nicht. Das überlassen wir achselzuckend den Tätern selbst, was sie bereit sind zu zahlen. Wir halten sie nämlich für moralische Instanzen – nachdem sie 2.000 Jahre mit einer weltweit einmaligen Kriminalgeschichte eindrucksvoll bewiesen, eben gerade nicht als Moral-Vorbild zu taugen.

[….] Eva Behring hat zweimal Geld bekommen von der katholischen Kirche, und zweimal war es für sie ein schmerzender Schlag. Einmal bekam sie 3000 Euro, später 2000 Euro. Zusammen 5000 Euro für das, was ein katholischer Pfarrer ihr als Kind angetan hat und worunter sie seither leidet. Sie ist keine Ausnahme. Viele Betroffene von Missbrauch fühlen sich durch die "Anerkennung des Leids" ein weiteres Mal verletzt und gedemütigt - durch die geringen Summen und das Verfahren selbst.

[….] Ein aus Sicht vieler Betroffener nach wie vor unbefriedigend gelöstes Thema ist aber der Umgang mit den sogenannten Anerkennungsleistungen - also freiwilligen Entschädigungszahlungen für erlittenes Leid. Der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz fordert jetzt eine Weiterentwicklung des bestehenden Systems. [….] Im Jahr 2016 stellt Eva Behring den ersten Antrag auf "Anerkennung des Leids", wie es offiziell heißt. Sie füllt einen Fragebogen aus, in akkurater Handschrift schildert sie die Taten und was sie mit dem Kind und später der erwachsenen Frau gemacht haben. Sie leidet seither, wird psychisch krank, kann über Monate nicht arbeiten. [….] Die zuständige Stelle bei der Deutschen Bischofskonferenz empfiehlt die Zahlung von 3000 Euro, das Bistum überweist ihr die Summe, vom Generalvikar ihres Bistums erhält sie 2017 ein kühles, formales Schreiben. Es ist das erste Mal, dass eine Zahlung der Kirche sie trifft wie ein Schlag. 3000 Euro für lebenslanges Leid? [….] Das hat sich allerdings in diesem Juni geändert: Da verurteilte das Landgericht Köln das Erzbistum Köln zur Zahlung von 300 000 Euro an den ehemaligen Ministranten Georg Menne. [….] Allein: Eine Zivilklage ist anstrengend und kostet viel Geld, Betroffene müssen sich offenbaren, vor Gericht aussagen und sich unter Umständen langwierigen Begutachtungen unterziehen, wie jener Mann, der derzeit vor dem Landgericht Traunstein das Erzbistum München verklagt. [….]

(SZ, 24.09.2023)

So ist das eben, wenn man sich den Moralvorstellungen einer primitiven Hirtenkultur von vor 2.000 Jahren aussetzt. Da wird man diskriminiert und misshandelt.

Auf die Solidarität der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts kann man nicht bauen. Uns ist es egal. Kirchen dürfen ihre Mitglieder misshandeln. Nicht nur die Katholische Kirche; sondern alle Christen-Vereine sind mies; entziehen sich Antidiskriminierungsregeln und dem Arbeitsrecht.

[…..] Wie schwer es queeren Menschen weiterhin in einer der freien evangelischen Gemeinden gehen muss, wird klar, wenn man sich die aktuelle Diskussion in deren Dachorganisation anschaut. Am Samstag trifft sich der Bund Freier evangelischer Gemeinden (FeG) zu seiner Bundestagung und will dort eine homophobe Ausrichtung bekräftigen. Laut einem internen Entwurf zu den künftigen Leitlinien der Gemeinden, der der taz vorliegt, heißt es in einer Empfehlung der Bundesleitung: „Homosexuelle Partnerschaften finden aus biblischer Sicht keine Zustimmung.“ Weder Traugottesdienste noch Segnungen sollen möglich sein, ebenso wenig die Rolle als Gemeindeleitung oder als Pastor oder Pastorin.

Mehr noch: Homosexuellen Menschen wird empfohlen, auf Sexualität zu verzichten. So heißt es in Punkt 4 des Leitlinien-Entwurfs: „Aufgrund des biblischen Leitbildes der Ehe von Mann und Frau ergibt sich die Herausforderung, auf sexuelle Gemeinschaft mit Menschen gleichen Geschlechts zu verzichten […]. Eine zölibatäre Lebensform kann allerdings nur mit einer individuellen Bejahung gelebt werden.“  [….]

(taz, 22.09.2023)

Sonntag, 24. September 2023

Migrationsjournalismus

Deutschland leidet unter massivem Fachkräftemangel. Es fehlen jährlich zwischen 400.000 und 500.000 Zuwanderer.

Die fehlenden Menschen schaden massiv der Wirtschaft, weil Betriebe Aufträge ablehnen, Geschäfte schließen und Servicezeiten reduzieren müssen.

Besonders schlimm trifft es die Gastronomie, Pflege und Hotellerie. Ohne Ausländer, können wir Deutschland gleich stilllegen.

[….] In der Heimat umworben, in Deutschland beschimpft

In der Pflege herrscht Notstand. Millionenbeträge werden aufgewendet, um auf den Philippinen Pflegerinnen und Pfleger zu rekrutieren. Doch in Deutschland angekommen, wollen viele nur eines: schnell wieder weg. [….]

(Verena Töpper, 21.09.2023)

Arbeitgeber zahlen inzwischen enorme Prämien, damit überhaupt jemand bei ihnen anfängt.

[….] Im Norden Niedersachsens, mitten in der Lüneburger Heide, zwischen Äckern und Einfamilienhäusern, hängt an einem Verkehrskreisel ein Plakat, das Reichtum verspricht. »EUR 11.000,00« steht darauf, »ab sofort!« und dazu ein Dank im Voraus: »Eure Arbeit ist uns diesen Bonus wert!« Gesucht werden Köche sowie Servicekräfte für Spätschichten, und bei der Summe handelt es sich nicht etwa um den Saisonverdienst – sondern um eine satte Prämie für neue Mitarbeiter. Wer bei uns anfängt, so die Botschaft, verdient sehr schnell sehr viel!  [….]

(Anton Rainer, 24.09.2023, DER SPIEGEL 39/2023)

Die fehlende Willkommenskultur, die generelle Xenophobie und insbesondere die intolerante Garstigkeit in Ostdeutschland, führen inzwischen zu einem ökonomischen Schaden von rund 100 Milliarden Euro im Jahr.

[….] Studie zu Diversität

Deutschland entgehen 100 Milliarden Euro – wegen mangelnder kultureller Vielfalt. Menschen aus Einwandererfamilien müssen mehr Bewerbungen schreiben, bekommen weniger Gehalt und werden seltener befördert. Das bremst nicht nur sie aus, sondern auch die Wirtschaft. Der Schaden ist enorm. [….]

(SPON, 19.09.2023)

Der SPIEGEL titelt aktuell mit einem endlosen Flüchtlingsstrom, der auf Deutschland zustrebt.

Die Aufnahmekapazität sei am Ende, die Stimmung kippe.

[….] Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie ein renommiertes Leitmedium wie der Spiegel, das für Qualitätsjournalismus stehen will, ein Titelbild veröffentlichen kann, das in Aufmachung und Bildsprache an die Angstmache und Hetze rechter Parteien und Verschwörungsblätter erinnert. [….]

(Lorenz Meyer, 23.09.2023)

Das Hauptargument der SPIEGEL-Autoren wider die Migration nach Deutschland, lautet in der Tat „die Stimmung“. 84% der Wähler geben bei  Civey an, es kämen zu viele Menschen, die einen Asylantrag stellten. Die AfD sei im Osten stabil über 30%.

FDP, CDU, FW und CSU tuten in das gleiche Horn, machen kräftig Stimmung gegen Flüchtlinge. Rechtspopulismus in populär und hilft im Wahlkampf.

Christen-Politiker überbieten sich gegenseitig mit Widerlichkeiten, von denen sie wissen, daß sie ohnehin nicht machbar sind, aber sie heizen gern die menschenfeindliche Stimmung an; in der Hoffnung, parteipolitisch davon zu profitieren.

[…..]  Die Opposition hat es da leichter, sie kann sich empören und Forderungen aufstellen. Die Bundesregierung habe »die Kontrolle über das Migrationsgeschehen in Deutschland vollkommen verloren«, sagt der CDU-Politiker Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag. In einem Antrag fordern CDU und CSU den Stopp aller Bundesaufnahmeprogramme für Flüchtlinge und mehr Grenzkontrollen.

Der Erfolg der AfD hat die Union ein Stück nach rechts rücken lassen – und auch die FDP spürt die Konkurrenz von rechts außen. In der Ampelkoalition treten die Liberalen für ein restriktives Vorgehen an den EU-Außengrenzen ein. Besonders FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, in Iran geboren und einst als Kind von seinen Eltern nach Deutschland zu Verwandten geschickt, macht sich für eine harte Migrationspolitik stark. […..] Die Vorschläge aus der Opposition hält man in der Regierung für nicht umsetzbare Luftblasen.

Eine Veränderung oder gar Abschaffung des individuellen Asylrechts, wie es mancher aus der CDU gefordert hat, widerspreche der Verfassung und dem europäischen Recht. Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären, wie es CDU-Chef Friedrich Merz vorgeschlagen hat? Das würden, heißt es in Regierungskreisen, selbst CDU-geführte Regierungen im Bundesrat ablehnen, wenn sie grüne Koalitionspartner haben.

Flächendeckende Kontrollen an den Binnengrenzen? Praktisch kaum machbar, wenn sie effektiv sein sollen. […..]

(SPIEGEL Titelstory, 23.09.2023)

Ich möchte den Gedanken weiterspinnen: Selbst wenn man die populistischen Merz/Söder/Aiwanger/Höcke-Forderungen rechtlich umsetzen könnte, würde das keinen einzigen Menschen in Nordafrika, dem Nahen Osten oder Afghanistan, der durch Klima, Krieg, Hunger, politische Verfolgung gezwungen ist zu flüchten, von seiner Not befreien. Alle Fluchtgründe blieben erhalten, die Schlepper würden noch besser verdienen und es würden noch mehr Unschuldige im Mittelmeer ertrinken, in der Libyschen Wüste verdursten oder von Tunesischen Schergen totgeschlagen werden. Das ist also das Ziel der Parteien, die sich „vom christlichen Menschenbild leiten lassen“.

[…..] Und während die deutsche Politik etwas hilflos vor sich hin debattiert, dreht sich die Welt da draußen weiter. Sie interessiert sich nicht für deutsche Obergrenzen, Integrationsgrenzen oder die Umfragewerte der AfD.

Weltweit sind laut UNHCR mehr als 108 Millionen Menschen auf der Flucht. Und es werden eher noch mehr werden, wenn durch die Klimakrise, durch Hitze, Brände, Dürren oder Überflutungen ganze Regionen zerstört werden. Spätestens dann, wenn es um Klimaflüchtlinge geht, wird sich der Kreis schließen, wird sich diese Frage stellen: Kann der Westen, kann ein Staat wie Deutschland Menschen die Aufnahme verweigern, für deren unerträgliche Lebensbedingungen er mitverantwortlich ist? Deren Heimat er mindestens indirekt mit zerstört hat, durch die eigene Lebensweise, die Art des Wirtschaftens? Die Flüchtlingsfrage wird nicht mehr verschwinden, sie wird Deutschland und Europa dauerhaft beschäftigen, auf Jahre, Jahrzehnte. [….]

(SPIEGEL Titelstory, 23.09.2023)

Ganz recht, Spiegel. Aber wozu dann das rechts-reißerische Titelbild?

Aber wozu das rechts-reißerische Titelbild, wenn doch die Antragstellerzahlen immer noch moderat sind und wir so dringend Arbeitskräfte brauchen?

Statt AfD-Umfragen, rechtsdrehende CDUCSU-Altherren und xenophobe Civey-Zahlen als Totschlagargument gegen Migration zu benutzen, sollte man lieber aufklären, den AfD-Ossis klar machen, wie sehr sie sich irren, überlegen, wieso Asylsuchende immer noch keine Arbeitserlaubnis bekommen und ausländischen Berufs/Schulabschlüsse nicht anerkannt werden.

80% bei Civey gegen Asylanten muss noch lange nicht heißen, daß die 80% Recht haben.

Multikulti mag in Süd- und Ostdeutschland noch so unbeliebt sein. Ökonomisch ist es aber sinnvoll. Auch wenn ich mich wiederhole: Hamburg hat einen zehnmal so hohen Migrantenanteil in der Bevölkerung wie Sachsen und gegen den Bundestrend ein deutliches Wirtschaftswachstum. Bundesweit schrumpft 2023 die Wirtschaft um 0,5%. In Hamburg wächst sie um 2,3%. Es könnte noch viel besser aussehen, wenn nicht so viele Mitarbeiter fehlten.

[….] Gegen den Trend: Hamburgs Wirtschaft trotzt der Rezession. [….] Während andernorts der Abschwung zu spüren ist, zeigen sich wichtige Branchen in der Hansestadt in besonders guter Verfassung. Schon seit einigen Monaten ist es in Deutschland mit dem Konjunkturoptimismus vorbei. Immer häufiger taucht das Wort „Krise“ im Zusammenhang mit den weiteren Aussichten für die Unternehmen auf. Dabei verweisen Volkswirte und Börsianer auf die Gefahren eines Brexits sowie auf die Handelskonflikte, vor allem den zwischen China und den USA. Doch blickt man auf wichtige Sektoren der Hamburger Wirtschaft, etwa die Luftfahrt, die Gesundheitsbranche oder das Handwerk, so ist von einer Krise nichts zu sehen: Die jeweiligen Kennzahlen steigen weiter, auch die Beschäftigung nimmt zumindest in diesem Jahr abermals zu. [….]

„Ich rechne nicht mit einer generellen Verschlechterung am Hamburger Arbeitsmarkt“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit in Hamburg. [….] [….] Gesundheitswirtschaft: „In der öffentlichen Wahrnehmung ist gar nicht so klar, wie wichtig dieser Sektor für die Hamburger Wirtschaft ist“, findet Birgit Schweeberg, als stellvertretende Geschäftsführerin der Handelskammer zuständig für die Gesundheitsbranche. Fast 200.000 Menschen sind dort tätig. Allein die beiden größten Einzelarbeitgeber, die Krankenhausgruppe Asklepios und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), hatten Ende 2018 zusammen mehr als 25.000 Mitarbeiter. Das waren 1500 mehr als ein Jahr zuvor, was die Dynamik in diesem Wirtschaftszweig andeutet.

In der Branche suche man „händeringend“ weiteres Personal, so Schweeberg. „Es ist zu erwarten, dass die Mitarbeiterzahl in Hamburg in diesem Jahr weiter nach oben geht“ – wobei der Fachkräftemangel die Aufwärtsentwicklung begrenze. „Wenn sie denn könnten, würden die Unternehmen noch mehr Menschen einstellen.“ Das Geschäft der Gesundheitswirtschaft sei nicht von der Konjunktur abhängig, sondern werde von der Demografie bestimmt, sagt Schweeberg: „Wir haben eine alternde Gesellschaft, damit steigt die Nachfrage nach der medizinischen Versorgung.“ [….] [….]

(Hamburger Abendblatt, 16.08.2023)

Nicht nur, ist es moralisch und durch internationales Recht verpflichtend, Migranten in Deutschland auf zunehmen. Es ist auch ökonomisch dringend notwendig.

Zudem sind wir als europäische Industrienation einer der Hauptmitverursacher der Migrationsgründe. WIR fischen die Meere vor Afrikas Küsten leer, WIR ruinieren durch unsere protektionistischen Landwirtschaftssubventionen die Geschäfte afrikanischer Farmer, WIR beliefern die Krisenherde dieser Welt mit Waffen. WIR sind die Verursacher der Erderhitzung. WIR leisten nicht genug Wirtschaftshilfe. WIR lassen die Welthungerhilfe sträflich unterfinanziert. WIR verschließend die Augen vor den Kriegen, die wir mitverursacht haben.

[…..] In Syrien tobt seit zwölf Jahren der Krieg, in Afghanistan haben die Taliban wieder die Macht übernommen, Iran schlägt seit einem Jahr den Aufstand seiner jungen Frauen brutal nieder. Und Russland hat ein Nachbarland überfallen, mitten in Europa. Es gibt auf dieser Welt viele Gründe, um zu fliehen. Es werden in nächster Zeit nicht weniger werden. [….]

(SPIEGEL Titelstory, 23.09.2023)

Wir können doch nicht so amoralisch wie Söder und Merz sein und unsere Politik von Faschisten und Idioten diktieren lassen!

Samstag, 23. September 2023

Vom Glück des Geburtsortes und des Geburtsjahres

Große Veränderungen der Lebensumstände werden, von den meisten Menschen als unangenehm betrachtet. Schöner ist eine stetige und verlässliche Umwelt, in der es langsam aber kontinuierlich ökonomisch bergauf geht.

Mein Opa, Jahrgang 1890, in Norddeutschland geboren, hatte mit dem Ort viel Glück. Die Zeichen standen auf Aufbruch, auf Bildung und, sofern man mit Penis geboren war, standen einem viele Möglichkeiten offen. Wie sich aber im Laufe seines Lebens herausstellte, gehörte er zu der Pech-Generation, die ohne eigenes Zutun als Erwachsene gleich zwei Weltkriege mit erlebten, zweimal Freunde und Verwandte sterben sahen, zweimal Hunger und Kälte ertragen mussten und zweimal in einem ökonomischen Kollaps alles verloren.

Auch, wenn man als 1890 Geborener das große Glück hatte, überhaupt so lange zu leben, um Kinder zu bekommen, nicht selbst erhebliche psychische Schäden durch die Kriegserlebnisse genommen zu haben, finanziell sein gutes Auskommen zu finden und auch noch eine glückliche Partnerschaft zu führen, war es ein verdammt hartes Leben; geprägt durch schwere Verluste.

Opa hatte viele Kinder, die immerhin schon mal nur einen, statt zwei Weltkriege miterlebten. Das Geschlecht machte aber immer noch einen Unterschied. Die Töchter sollten Hauswirtschaft lernen und nach Möglichkeit einen reichen Geschäftsmann heiraten. Da seine Töchter aber die von ihm angeschleppten Verehrer verschmähten und stattdessen „Geringverdiener“ heirateten, hatten sie eben selbst schuld.

Wenige Jahre konnten einen großen Unterschied machen. Meine Tante, Jahrgang 1922, wuchs außerhalb der Stadt im Grünen auf. Als die Nazis an die Macht kamen, war sie zehn Jahre alt und kam mit 11 Jahren zum „BDM“, den sie als reine Spaß- und Abenteuerveranstaltung empfand. Singen, wandern, zelten. Toll. Sie war 18 oder 19, als ein Nachbar im Fronturlaub auf Hitler schimpfte und sagte, der Krieg ginge verloren. Sie war geschockt, konnte sich das gar nicht vorstellen, was da schief gehen sollte. Und sie erzählte ihr Leben lang, ungläubig über sich selbst, wie sagenhaft naiv sie damals war und wie verspätet sie erst alles um sich herum wahrnahm. Eine Nachbarin, die aus meiner Perspektive genauso gebildet und genauso alt war – geboren 1918 – erzählte eine diametral entgegengesetzte Geschichte. Sie war Widerständlerin. Wie konnte das angehen?

Sie wurde in Österreich geboren. Als Hitler dort 1938 an die Macht kam (statt 1933 wie bei meiner Tante), war sie kein 10-Jähriges Mädchen, sondern hatte die Matura hinter sich, studierte bereits an der Uni in Wien und erlebte, wie alle ihre (jüdischen) Professoren und Kommilitonen verschleppt wurden. Sie schloß sich der Untergrund-Opposition an und lebte das Gegenteil von Idylle, Spaß und Abenteuer, die meinte Tante damals prägten; nämlich tägliche Lebensgefahr und existentielle Angst.

Dabei waren es gerade mal vier Jahre Altersunterschied und der Zufall, in einer anderen Stadt des „Deutschen Reichs“ geboren zu werden.

Mein Opa hatte drei Söhne, geboren 1919, 1923 und 1932. Der Erste starb schon als Baby in der Not der Nachkriegszeit, weil bei einer Erkältung/Bronchitis keine Medikamente aufzutreiben waren und mutmaßlich vitaminreiche Lebensmittel und Heizung fehlten. Der Zweite verschwand im Alter von 20 Jahren an die „Ostfront“, wurde am ersten Tag zu einer Erkundigung geschickt, geriet in Gefangenschaft und kam nie aus Russland zurück. Den Eltern blieb nur der schale Trost, daß der sensible junge Mann nie eine Waffe abfeuerte und nicht selbst jemanden getötet haben musste. Sohn Nummer Drei wurde vor den Bomben „aufs Land“ in Sicherheit geschickt, mußte nicht hungern und war gerade eben noch nicht alt genug, um eingezogen zu werden, als der Krieg endete.

Alle Hoffnungen der Familie ruhten auf ihm und wieder waren es nur ganze wenige Jahre Altersunterschied zu seinen Brüdern, die sich so extrem auswirkten. Während die beiden Älteren gar nicht überlebten, wurde er genau in der Zeit erwachsen, als Frieden einkehrte und 50 Jahren Wirtschaftswachstum und Wohlstand bevorstanden. Immer nur Aufschwung und Neues zu entdecken. Durch die Welt fliegen ohne Flugscham, Amüsieren, ohne Angst vor HIV/SarsCoV2, keine Frauen, die sich #Metoo-ig beschweren, kein Krieg in Europa, keine Empörung über massenhaften katholischen Kindesmissbrauch, keinen Zusammenbruch ganzer Industrien durch Globalisierung oder Digitalisierung, keine Cyberattacken, keine politische Instabilität, keine mühselige Umstellung auf andere Energie- und Heizsysteme, keine Gedanke daran, wieso man NICHT den großen neuen Verbrenner fahren sollte. Besonders beneidenswert finde ich, das mangelnde Bewußtsein der ersten Nachkriegsgeneration auf Kosten anderer, der Umwelt, der nachfolgenden Generationen zu leben. Sie glaubte ganz selbstverständlich, es würde immer so weitergehen, hatte kein Gefühl für die Endlichkeit von Ressourcen, musste also dementsprechend auch nie ein schlechtes Gewissen haben.

Die schönen Zeiten, die fast das ganze Leben meiner Onkel-Generation prägten, sind vorbei. Heute kann man nur einen Verbrenner-SUV fahren, zum Spaß fliegen oder in einem ungedämmten Haus mit Ölheizung wohnen, wenn man sich entweder dafür schämt oder ignorant ist. 

Man konnte 1950, 1960 oder 1970 seine Kinder guten Gewissens in eine katholische Schule oder ein katholisches Internat geben. Das Bewußtsein darüber, was die verklemmten Zölibatären in ihren Soutanen mit kleinen Jungs allein anstellten, war in der breiten Öffentlichkeit schlicht und ergreifend nicht existent. Auch die Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Wer heute seine Kinder zu Geistlichen nach Ettal oder den Regensburger Domspatzen gibt, darf zumindest anschließend nicht mehr überrascht tun, wenn der 10-Jährige Sohn sexuell missbraucht wurde.


Als „Boomer“ und „GenX“ gehört man zu der Alterskohorte, die als Teenager und Twens immerhin überhaupt Problembewußtsein entwickelten. Umwelt, Feminismus, sexuelle Befreiung, Aufklärung über die Nazizeit – all das haben wir zumindest mitgedacht. Es war nicht mehr ganz so unbeschwert, wenn man in den 1980ern intensiv und sehr konkret über sein eigenes Ende in dem von SS20s und Pershing IIs verursachten Atomblitzen nachdachte. Aber wir haben das Elend nie wirklich an eigenem Leib erlebt.

[….] Meine Generation hat immer zu den Verschonten gehört. Zu denen, die - ohne eigenes Zutun oder Verdienst - Glück gehabt hatten. Auch wenn das Wort nicht verwendet wurde. Mit diesem Bewusstsein sollten wir aufwachsen. Ich bin 1967 geboren. Meine Kindheit war durchzogen von mal bewussten, mal unbewussten Verweisen meines Vaters auf Krieg und Not, die er als Kind erlebt hatte. Überall im Alltag gab es Spuren der Versehrung, die nie so benannt wurden, aber die doch als Reste von im Krieg Erlerntem erkennbar waren. Da war diese ängstliche Unruhe in geschlossenen Räumen oder das Meiden von Menschenmengen. Es wurden Fenster und Türen auch im Winter aufgerissen. In Kinos immer nur Gangplätze. Es dauerte lange, zu lange, bis ich diese eigenartigen Gewohnheiten auch den entsprechenden Erfahrungen des Kindes, das mein Vater einmal gewesen war, mit Luftbombardements zuordnen konnte.  [….]

(Carolin Emcke, 23.09.2023)

Bei der GenZ pressiert es hingegen extrem. Das Elend klopft bereits an die Tür. Im Sommer wird es 40°C heiß, mehrere Bundesländer schockieren mit politischen Nazi-Mehrheiten, in jedem Ort gibt es Kriegsflüchtlinge. Da wird es immer schwieriger, in seine private Hygge-Welt zu fliehen und die Augen fest vor der Realität zu verschließen. Für GenZ gibt es nur noch zwei Alternativen: Entweder, sie ändert sich und die ganze Gesellschaft radikal, oder alle werden sterben.

[….] Es gab sie, immer wieder, diese Einbrüche der Gewalt und der Erschütterung, mal näher, mal ferner, wie die rassistischen Anschlagsserien, den Schrecken des Terrors. Es gab sie, die Zäsuren der historischen Umbrüche wie den Fall der Mauer, und doch korrigierten sie bei vielen meiner Generation und auch den nachfolgenden nie dieses Grundgefühl des unverdienten Privilegs.

Das ist vorbei. Die letzten Jahre haben die existenziellen Krisen so verdichtet, dass sie sich wie eine einzige ausnehmen: globale Pandemie. Russischer Angriff auf die Ukraine und das elende, uferlose Sterben dort seither. Und über allem und durch alles hindurch die Klimakatastrophe. Das ist sie. Sie war schon lange da und wir als Gesellschaft haben sie nicht verstanden als das, was sie ist: unsere Prüfung. Wir müssen bestehen. In der Klimakatastrophe werden wir mit allem, was wir dachten, wer wir seien, infrage gestellt. Sie bricht ein, sie zersetzt, sie entstellt unsere Landschaften, unsere Gesellschaften, unsere Leben. Nicht nur punktuell, nicht nur auf einem begrenzten Schlachtfeld, sondern überall. In fernen Gegenden, in der Distanz, aber auch nah, in unseren privaten, intimen Bereichen. Unsere Praktiken und Überzeugungen, das, was uns selbstverständlich schien, wie wir uns bewegen oder arbeiten, was wir anbauen und essen, wie wir heizen und bauen, nichts davon bleibt unangetastet. Die Schonfrist ist vorbei.  [….]

(Carolin Emcke, 23.09.2023)

Eine unangenehme Perspektive, vor der die GenZ steht. Sie hätte sicherlich lieber die Zukunft meines Onkels, als er so alt war wie sie: 50 Jahre Aufschwung, kein schlechtes Gewissen und die realistische Hoffnung, daß es immer nur besser wird zu den eigenen Lebzeiten.

Aber dazu muss man zu dem perfekten Geburtsjahr am richtigen Ort geboren werden. Wer jetzt Twen, Teenager oder gar noch jünger ist, hat die Arschkarte gezogen.