Montag, 13. Januar 2020

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Je komplexer die Probleme, desto unterkomplexer die Antworten.
Und alle passen sich an.
Zeitungstexte werden kürzer, Tagesschauberichte schneller und bunter.
Passiert schlagartig etwas Schlimmes, oder bahnt sich über Jahre ein Problemberg an – immer lässt es sich mit „schärfere Gesetze“ oder „mehr Geld“ wegwischen.
Dabei sollte sich doch eigentlich rumgesprochen haben, daß Deutschland nicht gerade unter einem Gesetzesmangel leidet.
Hat sich schon einmal ein Jura-Student über die dünnen Heftchen beklagt, die er als Gesetzbücher bekommt? Bezeichnenderweise ist es gar nicht leicht zu ergoogeln wie viele Gesetze und Vorschriften es insgesamt gibt. Belastbare, aktuelle Zahlen finde ich nicht.

 […..]  Allein der Bund hat 1817 Einzelgesetze mit 55.555 Einzelnormen. Es gibt überdies 2728 Rechtsverordnungen mit weiteren 44 689 Einzelvorschriften. Nicht zu vergessen: EU und Länder produzieren noch mal so viel. [….]

[….] Wir haben einfach zu viele Gesetze. Im Augenblick gelten für Sie und mich 2197 Bundesgesetze mit 46 777 Einzelvorschriften und 3131 Verordnungen mit 39 197 Einzelvorschriften. Hinzu kommen Landesgesetze und Regelungen der Europäischen Union. Insgesamt schätze ich die Zahl aller Einzelvorschriften, die einen Deutschen derzeit binden, auf rund 150 000. [….]

Man könnte meinen, 150.000 Einzelvorschriften reichen knapp aus.
Fragt sich nur, welcher potentiell Kriminelle so genau über jede Vorschrift Bescheid weiß.
Es stellt sich wohl eher die Frage, ob es in Deutschland auch nur annähernd so viele Staatsanwälte, Richter, Steuerfahnder, Zöllner, Schöffen, Polizisten, Sozialfahnder, Ordnungsamtsmitarbeiter, Gefängniswärter, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Gutachter, Psychologen gibt, um all die Vorschriften auch durchzusetzen.

Wenn der Ruf nach mehr Gesetzen und Verboten nicht ausreicht, preisen sich Parteien und Politiker gern damit an wie viele Milliarden sie dafür bereitstellten irgendeine Situation zu verbessern.

Sicher ein guter Plan, denn Deutschland leidet nicht nur unter einer enormen Investitionslücke, sondern in den Zeiten von „Kapitalismus kaputt“, in denen es Minuszinsen, als Strafen für Sparsamkeit gibt, muss Staat das Geld ausgeben.

Es gibt genügend Aufgabenfelder. Energiewende, Stromtrassenausbau, Schulen, Kitas, Breitband.
Ein Minister, der vom Finanzminister Geld für sein Ressort ertrotzt, gilt als erfolgreich und durchsetzungsstark.
Insbesondere bei einem neuen Amtsinhaber muss die Kanzlerin dafür sorgen, daß er/sie ein paar Extramilliarden bekommt, um sich vor den Mitarbeitern als potent heraus zu stellen.
Ursula von der Leyen verstand es sehr gut PR-wirksam mehr und mehr Milliarden
Für die marode Bundeswehr rauszuholen.
Zwar sind Kriegseinsätze in Deutschland in Deutschland extrem unpopulär, aber wenn so gar kein Hubschrauber, Panzer, Schiff, Jet funktioniert, sind auch Pazifisten geneigt den Jungs auf der Hardthöhe mehr Geld zuzuschieben.

Allein, von der Leyen verkündete öffentlichkeitswirksam die Milliardenströme und verfiel off-camera sofort in den Schlafmodus.
Die Milliarden wurde nie abgerufen, weil ihr Ministerium nach all den Jahren immer noch dysfunktional ist.

Leider sind die Unions-Minister alle kaum besser. Sie verkünden großen Geldsegen und kümmern sich anschließend nicht weiter darum, was damit passiert.
Oft sind Zuschüsse vom Bund so gestaltet, daß Land oder Kommune einen Teil (meist 50%) aufbringen müssen.
Das bedeutet in der Praxis, daß die ärmsten Gemeinden, in denen die Investitionen besonders dringend sind, die Bundeshilfen gar nicht in Anspruch nehmen können.
In diesen Fällen ist das von Helmut Schmidt so sehr propagierte „verwalten statt regieren“ gefragt. Oder aber „Regierungskunst“. Da müsste ein Minister nachhaken und Lösungen finden.

Die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt lernte es immerhin während ihrer Amtszeit.
Eine neue Regelung im mächtigen „gemeinsamen Bundesausschuss“ gBA auf den Weg zu bringen, ist zwar der Zeitpunkt sich feiern zu lassen, aber noch lange nicht die Garantie, daß die dort sitzenden Krankenhaus- und Kassenvertreter das von der Ministerin Gewünschte auch umsetzen.
Ulla Schmidt machte in den Folgejahren entsprechend mehr Druck.

Aber von Pfeifen wie Andi Scheuer kann man das nicht erwarten.

[….] Trotz des schwachen Wirtschaftswachstums hat der Bund auch das Jahr 2019 mit einem unerwartet hohen Überschuss abgeschlossen. Das Plus im Bundeshaushalt beläuft sich laut dem am Montagmittag vorgestellten Jahresabschluss auf einen bereinigten Rekordwert von 13,5 Milliarden Euro. Zur Verfügung stehen dem Finanzminister sogar insgesamt 17,1 Milliarden Euro, aufgrund von nicht ausgegebener Rücklagen. […..] Die Steuereinnahmen fielen wieder höher aus als erwartet; die Zinszahlungen für den Schuldendienst wegen der extrem niedrigen und teilweise sogar negativen Zinsen dagegen um einige Milliarden Euro niedriger. Schließlich flossen erneut einige Milliarden Euro aus verschiedenen Sonderfonds der Bundesregierung nicht ab; das betrifft den Energie- und Klimafonds, die beiden Kommunalinvestitionsfonds, die unter anderem für Schulsanierungen aufgelegt sind, den Fonds für den Kita-Ausbau sowie den Digitalfonds, der für Schulen sowie den Glasfaserkabelausbau eingerichtet worden ist. Oft fehlen in den Kommunen die Voraussetzungen, um die Gelder verbauen zu können. […..]

Merke, Überschüsse zu erwirtschaften ist ganz hübsch.
Aber gute Minister müssen auch die Kunst beherrschen die vielen Milliarden wieder auszugeben und dafür sorgen, daß die Moneten dort ankommen wo sie gebraucht werden.

[…..] Die hohen Überschüsse sind kein Grund zur Freude. Sie sind das Ergebnis schlechter Mittelabflüsse, vor allem bei Investitionsmitteln. Das heißt, dass zu wenig Geld ausgegeben wurde für eine moderne und zukunftsfähige Infrastruktur. Die Verantwortung für den schlechten Mittelabfluss liegt bei der Bundesregierung. Die Überschüsse müssen jetzt gesichert werden für Investitionen in die Zukunft. Investitionen in den Klimaschutz, in Digitalisierung in Bildung und eine moderne und saubere Verkehrsinfrastruktur müssen jetzt Vorrang haben.
Die Bundesregierung hat keine Investitionsstrategie. Investitionen gibt es immer nur nach Kassenlage. Der Bundesregierung fehlen das Konzept und die Verlässlichkeit, deswegen bleiben auch viele Investitionsmittel liegen. Die Bundesregierung muss es endlich schaffen, die veranschlagten Mittel für Investitionen auch auszugeben. Die Investitionsprogramme müssen so gestaltet werden, dass die Kommunen sie auch wirklich nutzen können. Die Probleme liegen unter anderem bei zu hohen Anforderungen bei der Ko-Finanzierung, bei undurchschaubaren Anforderungen für die Förderung und fehlenden Planungskapazitäten vor Ort. Alles Probleme die der Bund durchaus ändern kann. […..]
(Pressestelle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 13.01.20)

Sonntag, 12. Januar 2020

40 Jahre Grüne

In den letzten Tagen habe ich so viele Rückblicke und Würdigungen der vier Dekaden „Grüne“ gelesen, daß ich es schon singen kann.
Da ich zufällig in einem Alter bin, in dem ich fast die gesamte Geschichte aufmerksam verfolgte, staune ich immer noch etwas darüber mit welcher Selbstverständlichkeit sich heute Grüne und CDU aneinanderwanzen. Ich erinnere noch sehr gut, mit welchem abgrundtiefen Hasse der ewige CDU-Vorsitzende und Endlos-Bundeskanzler Kohl auf die Grünen im Bundestag reagierte. Kohl, der damals erklärte, es wäre sicher, in zwei Jahren habe sich der Spuk erledigt, die Grünen würden sich auflösen und „zur SPD rübermachen“.
Die unglaubliche Empörung, die auf Joschka Fischers erste Ernennung zum Landesminister losbrach. Die gesamte JU-Fraktion meiner Schule lief Amok, prophezeite den völligen ökonomischen Exitus Hessens.
Die ersten Grünen des Jahres 1980 waren eine wirklich im besten Sinne des Wortes „bunte Truppe“, in der sich die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte zusammenfanden, um basisdemokratisch, feministisch und sozial ökologische Politik zu machen. Dieser Zusammenschluss war eine enorme Errungenschaft und natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß bei so vielen Partikularinteressen in einer derart heterogenen Partei im Laufe der Jahre immer wieder Gründungsmitglieder nach Links und rechts absprangen, mit dem aktuellen Kurs haderten.
Wirklich spektakulär ist es eher, daß der ursprünglich ganz linke Hamburger Landesverband der Grünen sich im Laufe der Jahren konsequent und ohne zu mäandern nach rechts bewegte und im Jahr 2020 viel konservativer als SPD oder FDP fest an der Seite der CDU steht.

Demoskopisch ist der neue Rechts-Kurs der Elb-Grünen ein voller Erfolg. Man bewegt sich auf die 30%-Marke zu und könnte bei der Bürgerschaftswahl 2020 stärkste Partei werden.
Auch im stramm rechten CDU-affinen Landesverband Baden-Württemberg funktioniert dieser Kurs; bei den Landtagswahlen am 13.03.2016 holte der Autoindustrie-freundliche, erzkatholische und flüchtlingskritische Winfried Kretschmann, der bekundete jeden Tag für Angela Merkel zu beten stolze 30,3%; Ende 2019 wurden sogar bis 38% für die Grünen in BW demoskopisch ermittelt.
Ein sehr ähnliches Bild gibt es in Hessen; auch der dortige Landesverband ist extrem nach rechts gerutscht, harmoniert prächtig mit der nationalkonservativen Hessen-CDU und schickt sich an stärkste Partei des Landes zu werden.
Die frommen und nationalen Grünen auf Erfolgskurs.

Heute werden skandalöse marktradikale Grünen-Vorschläge ohne irgendein bemerkbares Murren ventiliert.
Bestes Beispiel dafür ist der Grünenpapier zu den Arzneimittelengpässen.
Wie immer mehr Medien seit Jahren berichten, haben Apotheken mehr und mehr Schwierigkeiten alle benötigten Präparate für Kassenpatienten zu besorgen.

[…..] Dr. Michael Baehr ist an einer der modernsten Kliniken Deutschlands für den zentralen Arzneimitteleinkauf verantwortlich. Täglich versucht er, solche wichtigen Arzneien bei verschiedenen Pharmahändlern einzukaufen – und das weltweit.  Doch immer öfter stoßen Ärzte und Apotheker an ihre Grenzen, weil wichtige Medikamente einfach nicht lieferbar sind. Dieses Problem trifft alle Patienten, egal ob im Krankenhaus oder in der öffentlichen Apotheke, Baehr. Er kämpft täglich darum, die benötigten Arzneien zu bekommen und momentan ist es wirklich brisant. Diese Situation ist Baehr in einem Industrieland wie Deutschland unverständlich. […..]

274 Medikamente sind derzeit nicht lieferbar, weil die raffgierigen Pharmakonzerne in völlig unverantwortlicher Weise nur sehr viel teurere Alternativen zur Verfügung stellen.
Die Unterschiede sind gewaltig.
Meine Eltern gehörten zu den über eine Millionen Menschen, die dauerhaft Blutverdünner nehmen mussten.
Das Mittel der Wahl – damals: Phenprocoumon = Rattengift. Bekannter unter dem Namen Marcumar.
Preis: 98 Stück für 12,50 Euro.
Da man oft nur eine Viertel Tablette am Tag braucht, reichen diese 12,50 Euro für ein ganzes Jahr.
Der alte Herr, den ich betreue, bekommt seit zwei Jahren statt Marcumar das moderne Mittel Xarelto zur Blutverdünnung.
98 Stück Xarelto 20mg von Bayer kosten 320,80 Euro; man muss immer eine am Tag nehmen. Das sind knapp 1.200,- im Jahr, also nahezu exakt der hundertfache Verdienst für die Pharmaindustrie.


Der Plan der Grünen dagegen: Brummt die Verhundertfachung der Kosten den Kassenpatienten auf und schont dafür die Privatpatienten und schont insbesondere die Pharmariesen!

[…..] Die in die­ser Wo­che be­kannt ge­wor­de­nen Plä­ne der Grü­nen, wie die Lie­fer­eng­päs­se in der Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung be­kämpft wer­den könn­ten, sto­ßen auf Kri­tik. Der re­nom­mier­te Wis­sen­schaft­ler Gerd Gla­es­ke hält die Ide­en für »we­nig durch­dacht«. Min­des­tens 274 Me­di­ka­men­te gel­ten der­zeit als nicht lie­fer­bar, dar­un­ter Krebs­mit­tel und An­ti­de­pres­si­va. Nach dem Wil­len der Grü­nen sol­len Kran­ken­kas­sen die Mehr­kos­ten der Pa­ti­en­ten für Aus­weich­prä­pa­ra­te über­neh­men. »War­um soll­ten Ver­si­cher­te mit ih­ren Bei­trä­gen da­für auf­kom­men, dass Phar­ma­un­ter­neh­men nicht lie­fern kön­nen und teu­re Al­ter­na­ti­ven not­wen­dig wer­den?«, so Gla­es­ke, der Apo­the­ker ist und an der Uni­ver­si­tät Bre­men forscht. »Dies ist für mich ein völ­lig un­nö­ti­ger Schutz der Phar­ma­bran­che, die zu den pro­fi­ta­bels­ten über­haupt ge­hört.« Die Kon­zer­ne soll­ten viel­mehr die Kos­ten für Er­satz­prä­pa­ra­te tra­gen. In dem Pa­pier heißt es zu­dem, der Arz­nei­mit­tel­groß­han­del sol­le Pro­ble­me an eine Art Eng­pass­re­gis­ter mel­den. Das er­ge­be we­nig Sinn, so Gla­es­ke. Die Kran­ken­häu­ser, die haupt­säch­lich von den Lie­fer­eng­päs­sen be­trof­fen sei­en, wür­den ihre Me­di­ka­men­te in der Re­gel nicht nur über den Groß­han­del ein­kau­fen, son­dern auch di­rekt bei Her­stel­lern. […..]
(DER SPIEGEL Nr 03/20, 11.01.20, s.63)

Dreisteren Pharmalobbyismus gibt es noch nicht mal bei dem klassischen Privatkrankenkassenverband FDP.
(Unnötig zu erwähnen, daß Jens Spahn nicht handelt.)


Samstag, 11. Januar 2020

Barmherzigkeit


Zu Weihnachten kamen sie wieder, die Bettelbriefe von Bethel und Bodelschwingh, in denen allerlei Pastoren auf die Tränendrüse drückten und erklärten wie christliche Barmherzigkeit den Menschen helfe.

[…..] Der Name „Bodelschwingh“ ist genauso wenig positiv zu konnotieren, wie „christliche Werte.“ Die Diakonie wirbt zwar damit, aber das funktioniert nur aufgrund der Unkenntnis ihrer Kunden.

Daher an dieser Stelle ein paar Sätze zu den Bodelschwinghern.

Dabei handelt es sich um ein aus dem 13. Jahrhundert stammendes rheinisch-westfälisches Adelsgeschlecht. Die Herren von Bodelschwingh gehen auf raubende Ritter zurück und besetzen seit Jahrhunderten Machtpositionen; die Familie besteht bis heute.
Zu den steinreichen Freiherren und Grafen gehören konservative Minister, preußische Regierungsmitglieder, CDU-Abgeordnete und viele Theologen.
Die heute so bekannten Gründer und Leiter der gleichnamigen christlichen Anstalten waren

Friedrich von Bodelschwingh der Ältere (1831–1910), deutscher evangelischer Theologe, Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel.
Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere (1877–1946), deutscher evangelischer Theologe und Reichsbischof
Friedrich von Bodelschwingh (Theologe, 1902) (1902–1977), deutscher evangelischer Pastor und Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten
   
Wie beispielsweise der erste deutsche Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh tickte, ist unzweifelhaft.
 Er war glühender Nazi und beteiligte sich an der Aktion T4, also der Sterilisierung und Tötung von psychisch und körperlich Behinderten.

Das ist nichts weniger als Massenmord. Womit die Namen „Bodelschwingh“ und „Bethel“ verbunden sind, sollte man also wissen, wenn einen zu Weihnachten die Bettelbriefe dieser Vereine erreichen.

[….] Im Folgenden wird der Begriff »Euthanasie« bzw. »Euthanasie« Morde als kollektive Bezeichnung für die nationalsozialistischen Massenverbrechen an Kranken und an Menschen mit Behinderungen verwendet. Die Bezeichnung selbst ist schon wegen seiner Verwendung im Nationalsozialismus hoch problematisch; wenn sie dennoch Verwendung findet, dann aus dem Grunde, weil zahlreiche Tötungsverbrechen durch den (ohnehin erst nach 1945 geprägten) Terminus »Aktion T4« nicht abgedeckt sind, weil namentlich die Krankenmorde im besetzten Ostmittel- und Osteuropa sowie die dezentral organisierten Tötungen nach dem Sommer 1941 wenig oder gar nicht in die institutionelle Zuständigkeit der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 fielen. […..] Der Mord an Kranken, Menschen mit Behinderungen und anderen als »rassisch minderwertig« stigmatisierten Opfern im Nationalsozialismus versuchte, seine Legitimation aus der Eugenik abzuleiten, ist aber schon seiner Einmaligkeit wegen nicht allein als eine direkte Folge der eugenischen Bewegung vor 1933 zu interpretieren.
Formen der »Ausmerze«, die aus der heutigen Perspektive als Mord an Anstaltsinsassen angesehen werden müssen, finden sich jedoch bereits lange vor 1933, namentlich die so bezeichnete »Hungereuthanasie«, d. h. die systematische Unterernährung von Kranken und Anstaltsinsassen, der allein während des Ersten Weltkrieges ca. 70 000 Menschen zum Opfer fielen. [….]

Hitler und die Nationalsozialisten waren neben der generellen Begeisterung für das Töten von Kindern insbesondere an den an Techniken zur massenhaften Tötung von Behinderten interessiert. Medikamente und verschiedene Gase wurden ausführlich erprobt.

[….] Insgesamt wurden in sechs Anstalten Patienten durch das Giftgas Kohlenmonoxid in eigens hierfür eingerichteten Gaskammern ermordet: in Brandenburg an der Havel, Hadamar bei Limburg, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim bei Linz und Bernburg an der Saale. Nicht in allen sechs Anstalten wurden zeitgleich Patienten umgebracht, vielmehr wurde die Anstalt Brandenburg im September 1940 von Bernburg, Grafeneck Ende 1940 von Hadamar abgelöst. [….]

Beeindruckend ist insbesondere die Fähigkeit zur Geschichtsklitterung. So wie die Wehrmacht noch 50 Jahre lang nach 1945 den Mythos aufrecht erhalten konnte keinerlei Kontakt zu der Judentötung gehabt zu haben, erreichte es insbesondere die Evangelische Kirche die Falschdarstellung zu verbreiten, aufgrund der christlichen Proteste habe Hitler im Jahr 1941 von der Aktion T4 abgelassen. 

Tatsächlich wurden Myriaden Kranke direkt aus der Obhut der Kirchen vergast.
Vom Ende der Aktion T4 kann davon keine Rede sein. Das Töten von Behinderten – auch in den Bodelschwingh- und Bethel-Anstalten war nur so weit professionalisiert worden, daß die großen Vernichtungs-KZs Majdanek, Treblinka, Sobibór und Bełżec, sowie Auschwitz-Birkenau übernahmen. [….]

Für die konservativen Landesregierungen waren diese Taten kein Grund nicht weiterhin den Bodelschwinghern zu vertrauen. Im Gegenteil.

Beispiel Schleswig-Holstein. Der Barschel-Skandal von 1987 ist eine der größten Stories im Vorwende-Deutschlands. Die jüngeren mögen vergessen haben welch Sensation die darauf folgende SPD-Regierung unter Björn Engholm war. Denn das bäuerlich-ärmlich geprägte nördlichste Bundesland war über vier Jahrzehnte ultrakonservativ und fest in CDU-Hand.

Walter Bartram (CDU) 1950–1951
Friedrich Wilhelm Lübke (CDU)   1951–1954  
Kai-Uwe von Hassel (CDU) 1954–1963
Helmut Lemke (CDU) 1963–1971
Gerhard Stoltenberg (CDU) 1971–1982
Uwe Barschel (CDU) 1982–1987

Kinderheime, Krankenhäuser, sowie „Irrenanstalten“ wurden in kirchliche Trägerschaft gegeben und es passierte das was immer passiert, wenn Kinder und Christentum systematisch verquickt werden:
Folter, Missbrauch, Quälerei und Mord.
Mit dem Ende des „dritten Reiches“ endete bei Bethel und Bodelschwingh nicht etwa die systematische Misshandlung von Kranken, Behinderten, Kindern  - eigentlich allen Schutzbefohlenen.

Heimkinder wurden als Versuchsobjekte bei Arzneimittelprüfungen in Bethel 1949 bis 1975 eingesetzt.


 
Viele Jahrzehnte drückten sich Kirche und Diakonie darum diese systematische Folter zuzugeben. Erst jetzt wird zögerlich „aufgearbeitet“ – natürlich nicht etwa, weil Bischöfe und konservative Christen ihr Unrecht einsehen, sondern auf massiven Druck der Opfer.

[…..]Seit dem vergangenen Jahr 2017 laufen die beiden Forschungsprojekte zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen in „Bethel 1924 bis 1949“ und „Arzneimittelprüfungen in Bethel 1949 bis 1975“. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für beide Forschungen ist der Theologe [Täter klären über Täter auf? –T.]  Prof. Dr. Traugott Jähnichen. […..] Nach Auswertung von rund 300 Patientenakten werden erste Ergebnisse zur Frage, ob und wie an Kindern und Jugendlichen in Bethel neue Medikamente getestet wurden, für Ende dieses Jahres erwartet. […..]

In den CDU-Jahrzehnten Schleswig-Holsteins waren die perversen, bestialischen und menschenfeindlichen Methoden allerdings nicht auf kirchliche Einrichtungen beschränkt, sondern fanden auch unter der direkten Aufsicht der Landesregierung statt.

[….] Es ging um Geld: Ärzte an landeseigenen Kliniken haben in der Nachkriegszeit neue Medikamente an Heimkindern und Psychiatriepatienten getestet. Profitiert haben die Pharmafirmen, die dank der Versuche mehr über Nebenwirkungen erfuhren und neue Absatzmärkte erschlossen. Profitiert haben aber auch das Land und dessen Kliniken, weil sie die neuen Präparate kostenlos oder stark vergünstigt bekamen. Zu dem Ergebnis kommen Forscher des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Uni Lübeck. Christof Beyer, einer der beteiligten Forscher, sieht einen der Gründe für die Zusammenarbeit in der "desolaten Situation" der Landeskrankenhäuser und der psychiatrischen Kliniken in Schleswig-Holstein in der Nachkriegszeit: "Personelle Unterversorgung und überfüllte Kliniken haben es begünstigt, dass Patienten ruhiggestellt werden sollten." Auch mithilfe von Medikamenten in der Erprobungsphase. […..] Bis 1970 unterstanden die Landeskrankenhäuser direkt der Haushaltsplanung des Landes Schleswig-Holstein. […..]
Im Rahmen von Versuchsreihen fanden die Ärzte dabei auch mehr über mögliche Nebenwirkungen der neuen Medikamente heraus: In Fachaufsätzen aus der Zeit finden sich Belege für "Atemstillstand", "Kollaps", "psychische Störungen". Hinweise auf eine Aufklärung der Patienten oder deren Einwilligung habe man in keinem der Dokumente gefunden. Das sei typisch für die Zeit gewesen, so Beyer: "Patienten wurden damals häufig als Objekte und Krankheitsträger und nicht als Menschen im Sinne einer ganzheitlichen Medizin behandelt. Der Medikamenteneinsatz ist ein Symbol der Unrechtsverhältnisse, die damals in der Psychiatrie vorgeherrscht haben."
[…..] Zusammenarbeit zwischen Pharmaindustrie und Ärzten gab es dem Bericht zufolge nicht nur am Landeskrankenhaus Schleswig, sondern in weitaus größerem Umfang als bislang bekannt - zum Beispiel am LKH Neustadt, am LKH Heiligenhafen, an der Universitäts-Kinderklinik Kiel, der Universitäts-Frauenklinik Kiel sowie Kliniken in Lübeck und Rickling. Die ehemaligen Heimkinder und Psychiatriepatienten leiden teilweise noch heute unter den Folgen der Versuche. […..]

Die Mengele-Methoden wurden vielerorts in Deutschland nach 1945 noch Dekaden weitergeführt.


 Viele Landes- und Bundespolitiker geben sich empört.

[…..] "Erschreckend" fand Wolfgang Baasch (SPD) die neuen Fakten. "Unfassbar" nannte Dennis Bornhöft (FDP) die Erkenntnisse - und als "schockierend" bezeichnete Marret Bohn (Grüne) das, was Christof Beyer vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Uni Lübeck im Ausschuss vortrug. […..]

Nur die eine, die einzig richtige Reaktion bleibt aus:
Nie wieder darf die Kirche Trägerin von Einrichtungen sein, in denen sich Kinder befinden.