Mittwoch, 8. Juni 2016

Versöhnung



Das war wieder eine lange Nacht bis endlich die Ergebnisse aus Kalifornien vorlagen und der Bernie-Geront in Santa Monica auf die Bühne gewankt kam.

Der mit Abstand bevölkerungsreichste Staat der USA bringt 550 Delegierte in die demokratische Convention ein.
Hillary Clinton hatte schon vorher eine Mehrheit, aber Bernie Sanders wollte offensichtlich wenigstens eine Mehrheit der „pledged delegates“ anstreben, so daß Clinton auf ihre superdelegates angewiesen wäre, um ihn zu schlagen.
Dafür hätte er mindestens 70% der Stimmen in Kalifornien holen müssen.
Stattdessen verlor er deutlich.
Clinton liegt etwa bei 56% und Sanders bei 43%.
Der mit Abstand zweitgrößte Staat von den sechs, die gestern abstimmten, ist New Jersey. Hier gewann Clinton mit 63% zu 38% und sicherte sich damit 88 der 142 Delegierten.
Sie holte allein in Kalifornien eine halbe Million Stimmen mehr als Sanders; insgesamt bekam sie bei den gesamten demokratischen Primaries über drei Millionen mehr absolute Stimmen als er.
Sofern Sanders also Demokratie akzeptiert, muß er einsehen verloren zu haben.
Aber unter dem Jubel seiner Anhänger kündigte er an, nicht aufzugeben. „The struggle continues“ sprach er und will auch noch den allerletzten Wahltermin nächste Woche in Washington DC wahrnehmen.
Der Mann möchte also weiterhin Trump helfen.

Der GOP-Kandidat hatte nach der heftigen innerparteilichen Kritik ob seiner rassistischen Ausfälle ganz offensichtlich die Hosen voll. Dem Großmaul war selbiges gestopft.
Also war die loose cannon diesmal gleich zu Hause geblieben, las seine Rede vom Teleprompter ab und ließ keine Fragen zu.

Nichts Neues also bei Sanders und Trump.

Wir erlebten aber eine zur presumptive presidential nominee aufgestiegene Hillary Clinton, die damit schon Geschichte schrieb, weil sie die erste Kandidatin einer großen Partei in der gesamten Geschichte der USA ist.


Nachdem 44 Männer als US-Präsidenten amtierten, könnte Nr. 45 tatsächlich eine Frau werden.
Könnte.
Man verwende tunlichst eine Konjunktiv-Formulierung, denn Trump und die GOP haben es vermocht eine tiefe Sehnsucht nach den 50er Jahren zu schüren, als es noch nicht diese widerliche „Diversity“ gab. Als Schwarze und Latinos nichts zu melden hatten, Frauen die Klappe hielten, als Schwule in den Knast kamen und außenpolitische Aufmüpfigkeit mit Bombardierungen gelöst wurden.
Nichts anderes bedeutet Trumps Slogan „make America great again“ – zurück in die Vergangenheit, als wir Weißen allein bestimmten.
Diese teebeuteligen Hassfanatiker sind so unerträglich, daß ich als US-Wähler für jeden demokratischen Kandidaten stimmen würde.

Daß mir Hillary Clinton schon seit Jahren auf die Nerven geht, ich ihre Lautstärke, den stets weit aufgerissenen Lach-Mund und das ständige augenrollende Nicken kaum noch ertrage, ist also irrelevant.
Sie bekommt sowieso meine Stimme. Das war über Jahre mein amerikanisches Wahlmantra.

In den letzten Wochen haben sich aber zwei Dinge verändert.

Da ist einerseits die inzwischen nur noch theoretische innerparteiliche Alternative Sanders. Viele Jahre bin sich Abonnent seines Youtube-Kanals und freute mich oft an seinen Reden im Senat.
Seine linke sozialpolitische Agenda ist mir lieber als die Clinton-Linie.
Aber Sanders scheint mir doch intellektuell sehr verengt zu sein. Von Außenpolitik hat er keinen Schimmer, er interessiert sich auch offenbar gar nicht dafür.
Sanders sagt kein Wort zur Flüchtlingskrise im Nahen Osten. Das Elend in der Welt ist ihm egal. Ihm fiele es nicht ein dafür zu plädieren syrische Flüchtlinge aufzunehmen.
Clintons Agenda ist viel weiter gefasst. Sie ist erheblich besser informiert und sieht das Gesamtbild.
Außerdem zeigte sie 2008 wie man sich selbst zurücknimmt, um der Sache willen.
Sanders befindet sich immer stärker auf einem neroesken Egotrip.
Tatsächlich würde ich also bei einer Wahl zwischen Bernie und Hillary inzwischen für sie stimmen, weil ich sie für das Amt als erheblich besser geeignet erachte.

Da ist andererseits mal wieder eine neue Hillary, die zeigt wie lernfähig sie ist.
Lernfähigkeit halte ich für ein Zeichen von Intelligenz. Sie hat die Zustimmung zu Sanders analysiert und daraus die Konsequenz gezogen sich deutlich sozialer zu positionieren.
Anders als der ausschließlich sozial tickende Sanders denkt Hillary auch gesellschaftspolitisch, setzt sich schon sehr lange für Minderheiten ein; erwähnt diese bei allen Reden.
Damit bin ich schon beim entscheidenden Punkt.
Innerhalb einer Woche habe ich nun zwei große Reden Clintons gehört.
Letzte Woche in San Diego die zur Außenpolitik, in der sie Trump vernichtete und gestern ihre Kandidatenrede zum Abschluss der Primaries.

Beide, aber insbesondere die gestern waren brillant.
Ich bin ernsthaft beeindruck was für einen Ton sie fand und wie sie das Motto „Brücken bauen“ dem Trumpschen „Mauern erreichten“ entgegensetzte.
„Stronger Together“ lautete ihr Leitmotiv und so setzte sie eine klar diametral Trump entgegengesetzte Botschaft ab: Keine Ausgrenzung, sondern Inklusion, nicht gegen das Ausland, sondern mit den Partnern zusammen.


Beeindruckend wie Clinton die Versöhnung sucht, auch diejenigen mitnehmen will, die sie nicht wählen und sich wieder demonstrativ freundlich Bernie Sanders zuwendete.
Hier zeigte sich auch der größte Unterschied zur Sanders-Veranstaltung.

Während Hillarys Unterstützer bei ihrem Sanders-Lob applaudierte, buhte es Sanders heftig entgegen, als er Clinton erwähnte.
Seine Anhänger sind offensichtlich Fanatiker, die lieber untergehen und Trump Präsident werden lassen.

Wir haben jetzt immerhin klare Alternativen.

Hillary Clinton, oder Trump:

Schockierend dagegen ist das, was Trump über Amerika verrät. Ihm gelingt es, aus jedem Jahrzehnt die negativsten Eigenschaften mitzuschleppen und zu vermengen, von der Gier und Rücksichtslosigkeit der Achtziger bis zur permanenten Selbstdarstellung auf den Social-Media-Bühnen der Nullerjahre bis hin zu der zunehmend salonfähigen Ausländerfeindlichkeit der Zehnerjahre. In diesen Tagen wirft er einem US-Richter mexikanischer Herkunft vor, befangen zu sein, bloß weil er mexikanische Wurzeln hat. Vor einem Jahr mag man gedacht haben, offener Rassismus durch einen Spitzenpolitiker sei undenkbar in diesem toleranten Einwanderungsland, das noch immer die treibende Kraft der Globalisierung ist.
Aber der Blick in den Spiegel hat etwas anderes verraten. Die einst so stolze Republikanische Partei ist durchsetzt von Ressentiments - gegen Illegale, gegen Muslime, gegen angebliche Schmarotzer. Die älteren weißen Wähler befürchten, dass sie die Kontrolle verlieren, dass sie zu wenig abbekommen, während die anderen, die Fremden, zu viel kriegen. [….]

Hoffen wir, daß Clinton die USA vor de, GOP-Wahnsinn rettet.



Dienstag, 7. Juni 2016

Sportsommer


Vielleicht bin ich doch falsch auf diesem Planeten.

Was ist das mit diesem Mohammad Ali?
OK, weltbekannter Boxer und so. Klar, daß der Tod gemeldet wird.
Aber muß das tagelang in der gesamten Weltpresse die Schlagzeilen dominieren?
Das war ein Typ, der anderen auf die Nase gehauen hat und nicht der Erfinder eines Krebsmittels.

Während die Welt zusieht, wie in Syrien Zehntausende dem Hungertod ausgeliefert sind und sich niemand in der hochgerüsteten westlichen Welt technisch in der Lage sieht wenigstens Lebensmittel abzuwerfen („Fluchtursachen bekämpfen und so…“), läuft die Olympia-Logistik wie am Schnürchen.
38 deutsche Pferde wurden für die Reiterei in Rio mit einer gecharterten Boeing 777 nach Südamerika geflogen.
Die teuren Rosse kennen das schon, sie fliegen durchschnittlich einmal im Monat.
Geld spielt keine Rolle.

Zunächst steht aber eine EM in Frankreich an.
Ausrichter sind diese Fifa-Jungs, die sich tagtäglich mit neuen Korruptionsgeschichten in die Nachrichten beamen.

Der langjährige Präsident Sepp Blatter, der frühere Generalsekretär Jérôme Valcke sowie der erst vor zwei Wochen fristlos entlassene Finanzchef Markus Kattner sollen zusammen allein in den vergangenen fünf Jahren mindestens 79 Millionen Schweizer Franken (80 Millionen Dollar) an Gehältern und Boni erhalten haben. Die Zahlungen beruhten weitgehend auf diskreten Vereinbarungen, die nur Blatter, Valcke sowie der im Juli 2014 verstorbene, langjährige Blatter-Stellvertreter Julio Grondona (Argentinien) unterzeichnet hatten.

Diese Multimillionäre richten nun ein Gathering für einige Dutzend weitere leichtbekleidete Multimillionäre aus, die dann anderthalb Stunden auf einem Rasenplatz einem Ballspiel nachgehen.
Die Multimillionäre sind allerdings ob ihrer randvollen, teilweise in Panama beheimateten Bankkonten so träge, daß sie nicht etwa von allein oder wegen der patriotischen Ehre spielen, sondern noch zusätzlich mit sechsstelligen Prämien gelockt werden müssen.

Das ist ein derart gefährliches Vorhaben, daß allein in Frankreich 90.000 bis 100.000 Bewaffnete „die Spiele“ sichern müssen.

Myriaden Paramilitärs kommen in den Zuschauernationen hinzu, denn auch die Deutschen gucken nicht gern in ihren bequemen und sicheren Wohnzimmern zu, sondern rotten sich ebenfalls zum Entzücken und IS und Al Kaida zu Hunderttausenden dicht auf öffentlichen Plätzen zusammen.

Europa, das leider, leider kein Personal hatte, um die rund 2.500 dieses Jahr im Mittelmeer krepierten Frauen und Kinder zu retten, kann also zum reinen Vergnügen scheinbar mühelos Hunderttausende Soldaten und Polizisten aufbieten.
Fußball erfordert eine derartige Armee, daß man damit Irak und Syrien vom IS befreien könnte, um Frieden zu erlangen.

Aber daran würden Fifa, Medien und Boateng* nichts verdienen.

*Ich weiß übrigens gar nicht, daß der Deutscher, Schwarzer und Christ ist.

Montag, 6. Juni 2016

Meine Bundespräsidentin



Manchmal staune ich ja doch noch, wie einig sich Volk und Presse sind.

Heute sind Zeitungen, Internet und Glotze voll des Lobes über Joachim Gauck.
Der Mann scheint eine Kreuzung aus Jesus und Einstein zu sein.
Die Grünen liegen ihm zu Füßen und jubilieren, Gauck habe dem Amt die Würde zurückgegeben.
Ich habe so gut wie keine andere Meinung gefunden. Alle lieben Gauck und das wird nur von einem Mann übertroffen: Gauck selbst ist sein eigener größter Fan.
Er findet sich so ungeheuer fabelhaft, daß er leider nicht dazu kam mal eine rauchende Ruine einer Flüchtlingsunterkunft zu besuchen, weil er zu sehr damit beschäftigt war sein Spiegelbild zu küssen.
Bei den großen weltpolitischen Fragen war Gauck stets ein Totalausfall, schwieg über Monate zu den fremdenfeindlichen Anschlägen, zur EU-Griechenland-Krise, zu den massenhaft missbrauchten Opfern der beiden Kirchen, zur xenophoben Stimmungsmache bei der Antiausländermaut und Minderheitenrechte sind ihm ohnehin egal.
Der neoliberale Gauck ist zudem ein intellektueller Underachiever, der immer wieder seine verblüffenden Bildungslücken offenbarte.

That said, bin ich natürlich froh, daß Gauck heute verkündete keine weiteren fünf Jahre zu amtieren.
Ich halte ihn für den drittschlechtesten Bundespräsidenten nach Lübke und Carstens. Im Gegensatz zum bundesrepublikanischen Narrativ vom großen Präsidentenglück nach 1949, glaube ich, daß Deutschland weit bessere Präsidenten hätte haben können.
Herzog, Köhler und Wulff haben keinerlei Akzente gesetzt.
Die ins Spiel gebrachten Gegenkandidaten Carl-Friedrich von Weizsäcker, Marion Gräfin Dönhoff oder Hildegard Hamm-Brücher wären deutlich besser gewesen.

Schon lange drehte sich hinter den Kulissen das 2017ner Kandidatenkarussell, denn Gaucks Alter ist schließlich kein Geheimnis.
Heute platzen die Zeitungen mit langen Kandidatenlisten heraus.
So generiert man Aufmerksamkeit. Kostenlose Aufmerksamkeit, denn das sind alles nur Spekulationen ohne Wert.
Bundespräsidenten werden nicht vom Volk gewählt und auch nicht in den Redaktionen auf den Schild gehoben, sondern ganz unspektakulär unter den Parteichefs ausgeklüngelt.
Merkel, Gabriel und Seehofer werden also letztendlich bestimmen, wer es denn wird.
Solche Klüngelrunden haben manchmal eine unfreiwillig komische Note. Ich grinse immer noch bei der Vorstellung von Stoibers entsetzen Gesichtsausdruck, als der Bundespräsident im März 2004 in Westerwelles Privatwohnung ausgeknobelt wurde.
Die damaligen drei Parteichefs hatten die Presse ausgetrickst und sich heimlich beim FDP-Chef zu Hause getroffen, der sie auf Socken mit rutschfesten Gumminoppen empfing.
Zu essen gab es nichts und so hockte man zu dritt in Westerwelles Wohnzimmern unter den riesigen schwulen Knabengemälden des schwulen Künsters Norbert Bisky – dem Sohn des PDS-Chefs Lothar Bisky.
Heraus kam am Ende der Name „Horst Köhler“, den 99% der Deutschen noch nie vorher gehört hatten. Am meisten wunderte sich Guildo Horn („Piep, piep, piep, ich hab dich lieb!“, * 15. Februar 1963 als Horst Köhler in Trier) über die Verkündigung und konnte sein Glück kaum fassen Bundespräsident zu werden. 


Als Freund der repräsentativen Demokratie gefällt mir das deutsche Wahlsystem über die Bundesversammlung. Dadurch ist eine größtmögliche Repräsentanz gegeben und uns bleibt ein widerlicher Populismuswettbewerb wie zuletzt in Österreich erspart.

Neun Monate vor der Wahl mit Namen um sich zu werfen ist albern und überflüssig.
Aber kurzweilig.

Brisanz bekommt die Causa dadurch, daß es eine wichtige Personalentscheidung ist, die weitgehend von Merkel abhängig ist.

Zwar gibt es eine knappe rotrotgrüne Mehrheit in der Bundesversammlung (~626:619), so daß Gabriel CDU/CSU/AFD/FDP ganz gewaltig ärgern könnte – zumal Katja Kipping bereits signalisierte einen RRG-Kandidaten mit zu wählen, aber wie schon so oft sind Rot und Grün leider viel zu doof dazu und lassen sich lieber einen Konservativen aufs Auge drücken.
Derzeit scheinen es insbesondere die Grünen zu sein, die kurz vor der Bundestagswahl 2017 auf keinen Fall ein RRG-Signal senden wollen, weil sie auf eine schwarzgrüne Koalition im Bund setzten.
Hochwahrscheinlich also, daß die fromme Merkel-Freundin Katrin Göring-Kirchentag ihre Partei auf CDU-Kurs trimmt.

Es liegt also alles in der Hand Merkels und damit ausgerechnet bei der Frau, die ein extrem schlechtes Händchen für Personalentscheidungen hat.
Merkels Menschenkenntnis ist legendär schlecht.
Wann immer sie persönlich eine Personalie durchsetzt, stellt sie sich kurz darauf als grober Fehler heraus.
Man denke nur an die lange Reihe völlig unfähiger CDU-Generalsekretäre und Staatsminister ihres Kanzleramts, die allesamt in Rekordtempo Merkel blamierten, indem sie sich von Lobbyisten abwerben ließen.
Beide Bundespräsidenten, die sie durchsetzte, Köhler und Wulff, traten unter extrem blamablen Umständen zurück.

Das wird lustig zu sehen, wenn die Kanzlerin wohl diesmal vorschlägt.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein extrem ungeeigneter Mensch.
Man erinnere sich auch an die Wulff-Wahl von 2010, als Merkel trotz gewaltiger CDU/CSU/FDP-Mehrheit in der Bundesversammlung um ein Haar scheiterte und den ganzen Tag bis zum dritten Wahlgang brauchte, um den ungeliebten Wulff durchzudrücken.

Eine einsame Entscheidung für einen charakterlich ungeeigneten CDU-Karrierist wird Merkel 2017 wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht noch einmal wagen. Ein gewisser überparteilicher Konsens ist erforderlich, um Merkel nicht erneut zu blamieren.
Um ihr Wahlvolk zu erfreuen, muß es eine Person sein, die nicht aus dem innersten politischen Zirkel kommt und um Merkel das Leben zu erleichtern, darf es auch kein zu selbstbewußter Menschen sein, der ihr womöglich in die Quere käme.
Gauck war in dieser Hinsicht ideal, denn er beschäftigte sich im Grunde nur mit dem Gauck-sein an sich und hatte nie das Rückgrat tatsächlich ein umstrittenes Gesetz, wie das zum ESM-Mechanismus, nicht zu unterschreiben.
Er tat also brav alles was Merkel wollte, galt aber dennoch kurioserweise beim Wahlvolk als unabhängiger und freier Geist.

Eine richtig schwierige Aufgabe für Merkel.
Sie entscheidet.
Ich nicht.

Hätte ich die Macht einen Bundespräsidenten zu bestimmen, wüßte ich aber auf wen meine Wahl fiele:

Herta Müller wäre ideal.

Müller, (*1953 in Nițchidorf, Rumänien), emigrierte 1987 nach Deutschland und bekam 2009 hochverdient den Literaturnobelpreis verliehen.
Sie ist eine extrem mutige und unbestechliche Frau.
Im diametralen Gegensatz zu Gauck ist Müller eine hochintelligente und engagierte Person, die sich eben gerade nicht selbst genügt.

Neben ihrer intensiven schriftstellerischen Arbeit findet Müller immer wieder Zeit für öffentliche Aufgaben im In- und Ausland: Sie nimmt Gastprofessuren an deutschen Universitäten wahr, (Hamburg, Bochum,Tübingen, Berlin, Paderborn) und wird writer in residence im Ausland (University of Warwick, Dickinson College, University of Wales in Swansea , University of Florida). Im Jahre 2010 wurde ihr die Ehrendoktorwürde von der Frauenuniversität Seoul verliehen und im Jahre 2012 erhielt sie die gleiche Ehre von der Universität Paderborn, der Universität Swansea und dem Dickinson College. Eine Konstante in ihrem Leben ist ihr unermüdlicher Einsatz für Menschenrechte und die öffentliche Kritik an intellektueller Feigheit.

Müller ist eine brillante Denkerin und Rednerin, die aus eigenem Vermögen die Rolle als Bundespräsidentin ausfüllen könnte.

Sie schreibt tagesaktuelle Texte, die dann zum Beispiel 2013 im SPIEGEL erscheinen („Vorschlag eines Exilanten-Museums“) und so kommentiert werden, daß sie dafür gleich einen zweiten Nobelpreis verdient hätte.
Ich unterstütze den Vorschlag Müller mit weiteren Nobelpreisen zu ehren ausdrücklich.

Es sprechen so viele Gründe für Herta Müller als Bundespräsidentin, daß ich nicht verstehe, wie man an andere Kandidaten denken kann.

1) liebe ich diese Frau
2) ist sie keine Politikerin
3) ist sie intelligent und gebildet
4) würde sie als Nobelpreisträgerin ein klares Signal in Richtung "Kulturnation" aussenden
5) ist sie Migrantin
6) kennt sie diktatorische Regime aus eigener Erfahrung und würde im Ausland extrem glaubwürdig Stellung beziehen können
7) könnte sie in der Bundesversammlung durchsetzbar sein
8) ist sie nicht wie damals Köhler oder nun Jutta Allmendinger zu unbekannt
9) ist sie keine Pfäffin wie Gauck, Käßmann oder Lieberknecht
10) ist sie endlich mal kein Mann
11) hat sie mit 62 Jahren das beste Bundespräsidentenalter
12) beweist sie durch ihre Vita ihre Unerschrockenheit und ihren Mut
13) würde sie sich nicht von Parteichefs manipulieren lassen
14) staunte das Ausland über diese Wahl
15) wäre ich endlich mal stolz auf Deutschland.

Leider entscheide ich aber nicht, sondern Merkel.
Und die mag Typen wie Pofalla oder Gröhe.

Sonntag, 5. Juni 2016

Wochenendenttäuschung



Wenn man so viele Zeitungen liest wie ich, wird es auch zur abendfüllenden Beschäftigung sich über „den Journalismus“ zu ärgern.
Ich kann es nicht leiden, wenn man mit Déjà-vus konfrontiert wird, denkt daß man den Artikel doch kürzlich schon mal gelesen hat und dann mit etwas Grübeln feststellt, daß der SZ-Mann einfach nur das wiedergegeben hatte worüber zwei Wochen zuvor schon Newsweek ausführlich berichtete.

An dieser Stelle fragen mich dann die usual suspects wieso ich überhaupt so viel Geld für die Printabos ausgebe; man könne doch auch online alles lesen.

Aber das ist eben genau falsch. Da es über Twitter, Facebook und Co eine so gewaltige Menge von Informationen gibt, die ungefiltert durch die Welt sprudeln, ohne daß sich die Multiplikatoren noch die Mühe geben die Quelle zu prüfen, tauchen auch all die Enten von Kopp, DWN, RT oder Focus Online auf dem Schirm auf.
Um sich dieser gewaltigen Meldungsflut zu erwehren, schränkt jeder Internetler seine Zuträger ein.
Und dazu juckt es auch in den Fingern.
Wenn Anne Will, wie jetzt im Moment den Rassisten Gauland und den Pegida-Freund Prof Patzelt den roten Teppich ausrollt (dieses Jahr hatte sie zweimal Trixi Storch und einmal Frauke Petry ebenfalls schon eingeladen), kann man das völkische „Man wird doch wohl nach sagen dürfen….“-Twitterfacebook-Rauschen kaum ertragen und möchte solche Stimmen nur noch blockieren.
Pegidioten verfahren genauso und werden Meinungsäußerungen von Linken und Grünen abknipsen.

Am Ende befindet sich jeder in seiner selbst kreierten Informationsinzestblase, in der alle gleich denken.
Man gewöhnt sich schnell daran, daß alle anderen Multikulti genauso hassen wie man selbst und glaubt tatsächlich beim Abfackeln einer Flüchtlingsunterkunft nur den Willen der Mehrheit exekutiert zu haben.

Umgekehrt denken die Linken, daß Trump und Seehofer von jedem genauso verachtet werden, wie man sie selbst verabscheut.
Norbert Hofer. Was für eine verlogene Witzfigur. Den kann ja keiner wählen.
Bis dann das böse Erwachen am Wahlabend kommt, in Bayern schon wieder die CSU mit absoluter Mehrheit regiert, die FPÖ um ein Haar die 50% erreicht und an den 08.11.2016 will ich gar nicht denken.

Diesen Informationsinzest gilt es also zu vermeiden und dafür ist der klassische professionelle Journalismus unabdingbar.
Die gatekeeping-Funktion muß jemand ausfüllen.
Bestes Bespiel dafür sind die „Panama-papers“ mit einem Umfang von 11,5 Millionen Dateien, also 2,6 Terabyte = 2,6 Millionen Megabyte.
Es ist nicht möglich sich selbst ein Bild zu machen, wenn überall in der Welt einzelne Sätze als Originalzitate kursieren.
Es erfordert vielmehr eine große Anzahl Profi-Journalisten, die über eine lange Zeit das gesamte Material sichten und dann objektiv darüber berichten.

Man kann ebenso wenig alle Gesetzesentwürfe des Bundestages selbst lesen, alle Bundestagsdebatten-Protokolle nachlesen und jedes Parteiprogramm analysieren; zumindest nicht, wenn man es nicht hauptberuflich tut.
Man ist auf Journalisten angewiesen. Journalisten müssen gut bezahlt werden, weil sich ihre zeitaufwändige Arbeit sonst nicht lohnt.
Schlecht bezahlter Journalismus wird zu schlechtem Journalismus, weil unter Zeit- und Gelddruck statt der teuren und zeitraubenden Dokumentarabteilung nur das billige, schnelle Wikipdedia zum Factchecking verwendet wird.
Investigative Recherche bedeutet eben nicht googlen, wie man es für Blogs tun kann, sondern hinfahren, persönlich ansehen, selbst nachfragen.

Schließlich muß man als „User“ seinen Journalisten vertrauen.
 Das ist ein langwieriger Prozess, bei dem es gerade nicht darauf ankommt jemand zu finden, der das schreibt, was man gern hört.
Man muß die Autoren, Kolumnisten und Reporter gut kennen und sie gewissermaßen durch Kollegen anderer Presseorgane immer wieder eichen.
Es ist wichtig die Journalisten, auf die man sich verlässt auch bis zu einem gewissen Grad als Persönlichkeit einschätzen zu können.
SZ-Autor Matthias Drobinski ist sicher ein honoriger Mann, der nicht auf den Kopf gefallen ist, aber man muß wissen, daß er ein frommer und überzeugter Katholik ist und seiner Kirche nie so objektiv gegenüberstehen wird, wie er es als Kirchenjournalist eigentlich sollte.

Gerade in den letzten Wochen hatte ich verstärkt das Gefühl, der klassische Qualitätsjournalismus besinne sich mehr auf die eigenen Stärken, statt im flachen Gezwitscher mitzuspielen.

Richtig auffallend wie oft die viel kritisierten Jungs von SPON wirklich sehr gute und nachdenkenswerte Kolumnen online stellten.
Popp, Augstein, Pitzke und Diez fabrizieren jede Menge Texte, die ich gerne und überzeugt weiterempfehle.

Journalistisch hätte eigentlich ein schönes Wochenende vor mir liegen sollen, als ich gestern die Titelgeschichte des SPIEGELs über das zerrüttete  Verhältnis zwischen CSU und CDU zur Hand nahm und dazu auch noch den SZ-Leitkommentar von Heribert Prantl las.

Mein Leib- und Magenthema. Innenpolitik und Parteipolitik. Das sollte ein Spaß werden.

Aber was für eine Enttäuschung!

Keinerlei Neuigkeiten in beiden langen Artikeln.

Ralf Neukirch und René Pfister vom SPIEGEL erklären wie wütend Seehofer immer noch ist, daß er 2004 als gesundheitspolitischer Sprecher zum Rücktritt gezwungen wurde, weil Merkel ihre Gesundheitsprämie durchsetzte.
Dann kämen die Demütigungen durch die gescheiterten CSU-Projekte Herdprämie und Antiausländermaut hinzu, die dazu führten, daß Seehofer um seine Macht bange, weil Söder ihm im Nacken säße.
Als Konsequenz mache er Opposition gegen die Koalition, weil das schon immer geholfen habe, sie CSU-Reihen zu schließen.
Da kam die „Flüchtlingskrise“ gerade recht, um ein Thema zu finden, mit dem sich die Bayern von Merkel absetzen konnten.
Nun gäbe es die CSU-Lesart der Linkskurs der CDU habe Platz für die AfD geschaffen und die CDU-Lesart, der Rechtskurs der CSU habe die AfD erst hoffähig gemacht. Im Übrigen spreche man nicht genügend miteinander, sondern nur übereinander.

What else is new?

Prantl fügt in seiner SZ hinzu, daß CSU und CDU Merkmale einer zerrütteten Ehe aufwiesen. Seehofer wolle da raus, sich aus Merkels Umklammerung befreien, hadere aber damit zu wissen, daß der Schaden den Nutzen überwiege.

[….] Angela Merkel steht da ja schon seit 16 Jahren - aber erst in jüngerer Zeit ist ein Zustand eingetreten, der sich nicht mehr als neckisch-produktiver Antagonismus, nicht als bloßes Zerwürfnis, sondern als Zerrüttung beschreiben lässt. Bei klassischen Ehen denkt man bei diesem Wort an Scheidung. Zerrüttung heißt: Das Gefühl der inneren Bindung ist verloren gegangen.
In einem solchen Fall gibt es im Familienrecht Möglichkeiten, die eine Scheidung auch ohne vorherige Einhaltung einer Trennungszeit ermöglichen: bei "Unvereinbarkeit der Charaktere", "dauerhafter Lieblosigkeit" und bei "Misshandlungen". All das lässt sich derzeit im Verhältnis von CSU und CDU und in den Dauerattacken von Seehofer gegen Merkel finden. [….]

In diesen Sätzen spricht der Feuilletonist und ehemalige Richter Prantl.

Hübsch formuliert.

Leider auch ganz ohne Erkenntnisgewinn.

Aber morgen kommt ja wieder eine neue SZ….