Donnerstag, 8. November 2012

Kein Schamgefühl.




 Seinem Kind gleich zehn Vornamen zu verpassen, halte ich nach wie vor für ein Zeichen unangenehmster Dünkelhaftigkeit.
Der 600 Millionen Euro schwere Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg ist offenbar genau in diesem Geist erzogen worden.
Die Regeln des Anstands, die für andere gelten, hielt der gegelte Baron sich selbst betreffend für verzichtbar. 

Während der Plebs beim Promovieren selbst wissenschaftlich denken und arbeiten muß, schrieb die Fränkische Flitzpiepe ab was andere bereits erdacht hatten.

Während von Otto Normalverbraucher ein Mindestmaß an Ehrlichkeit erwartet wird, log Merkels einstiger Kabinettsstar, daß sich die Balken biegen. 
„Meine Dissertation [zu 95 % abgeschrieben - T.] ist kein Plagiat!“
 Während von üblichen Ministern erwartet wird dafür gerade zu stehen, wenn sie grobe Fehler gemacht haben, fand Verteidigungsminister Guttenberg Bauern, die er opferte. 
Großplagiator Guttenberg versagte in der Causa Kundus, log, daß sich die Balken bogen und ließ dafür die Köpfe von Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan und Staatssekretär Peter Wichert rollen.

Während andere Spitzenpolitiker immer wieder Ausflüge in die lästige Sachpolitik unternahmen, befand der CSU-Star für ihn genüge es bei „Wetten, daß…“ und Co aufzutreten und Photosessions abzuhalten. Selbst seine begeistertsten Anhänger können sich an keine einzige Initiative aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister erinnern. Er war ein reiner Grüßaugust, der zu keiner der bekannten politischen Streitpunkte eine Ansicht entwickelte. 
Für diese Arbeitsverweigerung wurde er mit dem Verteidigungsministerium belohnt.
Politisch erinnerlich ist von Guttenberg nur noch die Abschaffung der Wehrpflicht, die er kurz vorher noch für unverzichtbar hielt und dann so stümperhaft über Bord warf, daß heute noch die Ministerialen auf der Hardthöhe und im Bendlerblock rote Pusteln vor Wut bekommen, wenn sie nur den Namen des dreisten Freiherren hören.

Wie bei Googleberg üblich durfte ein anderer, diesmal Thomas de Maizière den Augiasstall ausmisten, den der CSU-Star hinterließ.

Noch nicht mal bei seinem eigenen Comeback-Versuch dachte der Bayerische Baron daran seine eigene Denkmurmel zu benutzen, sondern ließ den devoten Katholiken Giovanni di Lorenzo das dazugehörige Buch schreiben und die Promotion erledigen.

Die speziell adelige Arbeitsweise Guttenbergs führte zu katastrophalen Leistungen an der Uni, daß er noch nicht mal zur Promotion zugelassen wurde. Erst nach einer Zuwendung im hohen sechsstelligen Bereich an die Uni Bayreuth wurde der angehende „Dr. jur.“ überhaupt zur Promotion zugelassen.

Freiherr von und zu Guttenberg ist ein politisch Gescheiterter, ein menschlich Erbärmlicher und akademischer Versager.

Sein neuester Streich ist nun ausgerechnet ein Vortrag an einer Elite-Uni. Yale. 
Eine Nummer weniger dreist geht es nicht beim akademischen Betrüger Guttenberg.

Daß das nicht jedem Doktoranden passt, versteht der feine Freiherr gar nicht.

Karl-Theodor zu Guttenberg war gekommen, um über die "Mythen der transatlantischen Beziehungen" zu sprechen. So lautet der Titel des Vortrags, den der ehemalige Bundesverteidigungsminister am Mittwochnachmittag an der renommierten Yale University in den USA hielt. Doch einigen deutschen Doktoranden kam dabei ein anderer Mythos zu kurz: Guttenbergs Doktorwürde. Sie riefen zu einem Protest für "akademische Integrität" auf und verließen demonstrativ den Seminarraum, als der CSU-Politiker anfing zu sprechen.
"Wir wollten ein Zeichen setzen", sagte Doktorand Malte Lierl, 29, der den Protest mit organisiert hatte. Guttenberg könne gern auf einem Parteitag oder in einem Bierzelt sprechen. "Aber ich finde es nicht angemessen, dass er wieder einmal eine Universität benutzt, um sich zu profilieren." Für Wissenschaftler an der Yale University habe akademische Integrität einen hohen Stellenwert. […] 
Rund sechzig Studenten seien erschienen, sagte Politikwissenschaftler Lierl, etwa die Hälfte sei vorzeitig aus dem Raum gegangen. Es habe ihn und andere deutsche Doktoranden geärgert, dass die YIRA Guttenbergs Plagiatsaffäre unerwähnt gelassen habe, als sie den Vortrag ankündigte. […]   Guttenberg lebt im US-Bundesstaat Connecticut und ist als "angesehener Staatsmann" bei einem Think-Tank, dem Center for Strategic and International Studies (CSIS), engagiert.
(Heike Sonnberger 08.11.12)

Mittwoch, 7. November 2012

Sinnlose Nacht



Langsam bekomme ich quadratische Augen. 
Gestern bis 01.00 Uhr nachts vorm PC und dann nonstop bis 10.00 Uhr am TV-Schirm mit CNN.

Falls es jemand noch nicht weiß:
Obama ist wiedergewählt worden. Die politischen Machtverhältnisse sind wie vorher. Teebeutelmehrheit im „House“, demokratische Mehrheit im Senat und eine nahezu in zwei gleich große Hälften gespaltene Nation bei der Präsidentschaftswahl. 
Die gräßlichen GOPer halten 30 Gouverneursposten, Obamas Demokraten regieren lediglich in 18 Staaten.
 Romney bekam die Mehrheit in 24 von 51 Staaten und in den großen Wahlmänner-bringenden Staaten, die Obama gewann - also Ohio, Florida und Virginia - ging es äußerst knapp zu. 
Die Obama-Mehrheit im „electoral college“, also die Wahlmännerversammlung, die den US-Präsidenten wählt, ist durch die vielen knappen Siege viel größer als, als die „popular votes“, also die realen Stimmen vermuten lassen: 
60,193,076 Stimmen = 50.4% für Obama und 57,468,587 Stimmen = 48.1% für Romney.

Eigentlich shocking. 
Da tritt ein Kandidat an, der offensichtlich zu doof für den Job ist, als notorischer Lügner das Blaue vom Himmel runterphantasiert und bekommt dafür von der Hälfte des Landes die Stimme.

Ein Grund zur Freude ist die klare Wiederwahl des unabhängigen Senators Bernie Sanders aus Vermont.
Er ist für US-Verhältnisse extrem links und erfreut mich regelmäßig mit seinen Reden, die ich über seinen Youtube-Channel zugeschickt bekomme. 
Er erhielt gestern satte 71% der Stimmen und wird nun weitere sechs Jahre den Demokraten von links Druck machen.

Ein Grund zur Freude ist die Aussicht, daß für die anstehenden zwei Wechsel im für die US-Politik außerordentlich wichtigen Supreme-Court eine demokratische Administration auf Personalsuche gehen wird.

Ein Grund zur Freude ist der Erfolg der eher linksliberalen Elisabeth Warren gegen den republikanischen Senator Scott Brown von Massachusetts.
 Senatoren amtieren eigentlich sechs Jahre, aber Brown gewann im Teaparty-Powerjahr 2010 den Senatssitz des verstorbenen Ted Kennedys. Die GOPer werteten den Sieg damals als Beweis für ihre Fähigkeit auch in demokratischen Hochburgen durchzumarschieren.
Vorbei.

Ein Grund zur Freude ist die Blamage für Israelischen Ministerpräsidenten, der schon durchblicken ließ, er selbst wäre als US-Präsident allemal geeignet und gegen jede diplomatische Gepflogenheit massiv in inneramerikanische Angelegenheiten eingriff, indem er für Mitt Romney Wahlkampf machte.
Bellizist Bibi hat sich damit zum zweiten Mal massiv vergaloppiert.
 Erst war er größenwahnsinnig genug allein den Iran plattmachen zu wollen und wurde dann von den eigenen Militärs und Geheimdienstlern zurückgepfiffen.
 Dann glaubte er entscheidend in den US-Wahlkampf eingreifen zu können, um sich den Bibianer Romney als Partner sichern zu können. Und wieder fiel er auf die Nase. 
Auch wenn Netanjahu mangels Alternative wohl bald wiedergewählt wird, steht er dennoch etwas enteiert da. Obama war ohnehin nie sein größter Fan, aber nun dürfte US-Unterstützung für Israelische Militärschlagträume nahezu unmöglich zu bekommen sein.

Ein Grund zur Freude ist die Wahl des Demokraten Joe Donnelly zum US-Senator aus Indiana. 
Der am Michigansee gelegene Bundesstaat zwischen den Ohio und Illinois ist eine absolute Republikaner-Hochburg. Selbstverständlich entsendete er zwei GOP-Senatoren nach Washington und wird von einem GOP-Gouverneur regiert.
Seit 1977 (sic!) sitzt das GOP-Urgestein Richard „Dick“ Lugar ununterbrochen für Indiana im US-Senat.
Der 80-Jährige Außenpolitik-Experte sammelte bisher sage und schreibe 32 Ehrendoktorwürden ein und wäre gern im Senat geblieben.
 Hätte ihn die GOP weiterhin aufgestellt, wäre seine Wahl absolut sicher gewesen. Kein Gegenkandidat hätte eine Chance gehabt.
Die fanatisierte Teebeutel-Basis der Republikaner störte sich aber an den aus ihrer Sicht zu liberalen Ansichten Lugars.  Er wagte ungeheuerliches, indem er sich beispielsweise für internationale Abrüstung einsetzte.
In der parteiinternen Vorwahl drückten die GOPer stattdessen den ultraradikalen Hassfanatiker Richard Mourdock als Nominierung für den Senatssitz durch.
Also einen Teebeutel, der auf Bachmann-Palin-Linie verkündete Vergewaltigungen wären ein Geschenk Gottes.
Und nun ist der eigentlich 100% sicherer GOP-Sitz an die Demokraten gegangen.

Seien wir mal ehrlich; eigentlich hätten die US-Republikaner die 2012er Präsidentschaftswahl locker gewinnen müssen.

Der amtierende Präsident wird von weiten Teilen der Bevölkerung entweder als Sozialist, Muslim, Kenianer oder Amerikahasser angesehen, der definitiv die falsche Hautfarbe hat. 
Die wirtschaftlichen Kerndaten sind nach vier Jahren Obama so mies, daß man damit in Amerika eigentlich nicht wieder gewählt werden kann. Schließlich verfügen die Republikaner unter anderem durch die von den GOPern des Supreme-Courts durchgesetzten Super-PAC-Regeln über unbegrenzte Finanzmittel. Sechs Milliarden Dollar sollen in den Wahlkampf geflossen sein.
 Allein in Ohio gab Romney im letzten Monat 102 Millionen US-Dollar für Werbespots im Fernsehen aus.

Obama war also durchaus zu schlagen.

Die GOPer haben es selbst verbockt, indem sie einen schlechten Kandidaten aufstellten. 
Für die Opposition kommt ein Durchmarsch auf nationaler Ebene der Quadratur des Kreises gleich. Zunächst muß man sich der Basis stellen, die derartig realitätsentrückt und religiös fanatisiert ist, daß sie niemals einen Typen akzeptieren würde, der im Land mehrheitsfähig ist. 
Das begriff sogar der nicht eben gebildete Mitt Romney, der im Vorwahlkampf zunächst all die ultraradikalen Positionen einnahm, um die Nominierung zu bekommen und dann sofort anfing diese Ansichten wieder zu revidieren, als die Auseinandersetzung mit Obama begann. 
Womit er es zwar jedem recht machte, aber sofort ins nächste Dilemma rutschte: 
Er war der Flipflopper, der Kandidat, dem man nicht glauben kann.

Die US-Republikaner sind in einem Ratzinger/-Kreuznet-artigen Dilemma.
 Ihnen laufen die Wähler weg, aber sie können sich nicht darauf einigen, ob es daran liegt, daß sie inzwischen zu radikal-fanatisch geworden sind, oder aber noch nicht radikal-fanatisch genug.

Muß man jetzt konsequent weiter auf ganz konservative Kräfte wie Kreuznet, die Piusbrüder und Mixa setzen, oder aber ganz im Gegenteil wieder mehr in Richtung des liberaleren Konkurrenten rutschen?

Und genau wie ich Ratzinger wünsche noch möglichst lange Papst zu sein und weiterhin kontinuierlich konservativer zu werden, damit die RKK’ler noch schneller aus seinem Verein austreten, wünsche ich mir auch einen Teebeuteldurchmarsch bei den GOPern. 
Fanatisch-konservatives Personal gibt es genügend bei ihnen: 
 Paul Ryan, Senator Marco Rubio (Fl), Senator Rand Paul (Kentucky) und Gouverneur Bobby Jindal (Louisiana). Sie alle sind jung, brennen darauf die Karriereleiter weiter hinauf zu steigen und sind komplett durchgedreht.
Die US-Republikaner stürzen sich in die nächste Schlacht: Nach der Niederlage von Mitt Romney tobt in der Partei eine Kursdebatte, besonders die konservative Tea-Party-Bewegung lässt ihrem Frust freien Lauf. Die Partei könnte noch weiter nach rechts rücken.
[…]   Der Ausgang der Präsidentschaftswahl ist für [die Tea-Party-Bewegung] der Beleg dafür, dass man einem moderaten Kurs nicht weiter kommt. Erst John McCain, dann Romney. Zwei Gemäßigte, zwei Niederlagen - das ist die Rechnung, die sie aufmachen. Es soll jetzt alles ein bisschen radikaler, ein bisschen prinzipienfester werden. Steuersenkungen. Haushaltsdisziplin. Schlanker Staat. Anti-Abtreibung. Harte Haltung in der Einwanderungspolitik. So lässt sich das Land schon wieder drehen. Glauben sie.
"Wir wollten jemanden, der für unsere Ziele kämpft", schimpft Jenny Beth Martin, Chefin der Tea Party Patriots, einer rund 15 Millionen Anhänger starken Dachorganisation der Bewegung. "Stattdessen haben wir einen schwachen Moderaten bekommen - handverlesen von der Parteielite. Diese Niederlage bei der Präsidentschaftswahl geht ohne Einschränkung auf deren Kappe."
 Vorbei die Leichtigkeit, mit der man vor zwei Jahren mal eben den Kongress mit eigenen Leuten flutete. Jetzt musste sogar Michele Bachmann, die schrille Ikone der Bewegung, um ihr Abgeordnetenmandat zittern. Mit ein paar tausend Stimmen Vorsprung rettete sie sich in Minnesota ins Ziel.
 Ein echtes Dilemma für die Ultras, die sich auf ihre „moral issues“ versteifen.
Ihnen läuft die Zeit weg, weil die Demographie sich gegen sie entwickelt.
Der Anteil der WASPs (White Anglo-Saxon Protestant) schrumpft, die USA werden bunter.

Gestern fanden auch 170 Volksentscheide statt, deren Ergebnisse keinen Grund zur Freude für GOPer Strategen darstellen.
Zu den wichtigsten gehörten die Entscheidungen in den Ostküstenstaaten Maine und Maryland. Die Wähler sollten hier über die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare abstimmen - und entschieden sich knapp dafür. […]
Auch im Bundesstaat Washington stimmten die Bürger über die gleichgeschlechtliche Ehe ab. Hier gibt es jedoch Verzögerungen bei der Briefwahl, so dass das Ergebnis erst in den kommenden Tagen erwartet wird. […]
Der neu gewählte Präsident dürfte mit den Ergebnissen ebenfalls zufrieden sein. Barack Obama hatte Homosexuellen, die heiraten wollen, im Mai diesen Jahres seine Unterstützung zugesprochen. Mit der Demokratin Tammy Baldwin zieht zudem die erste bekennende Homosexuelle für den Bundesstaat Wisconsin in den Senat ein.
Volksentscheide zu einem weiteren polarisierenden Thema standen unter anderem in Colorado und Washington an: In beiden Staaten stimmten die Wähler für die Legalisierung von Marihuana. In Oregon votierten sie dagegen.
(Felicitas Kock 07.11.12)

Dienstag, 6. November 2012

Sinnloser Tag



Amerika war für viele meine Vorfahren ein Sehnsuchtsort.

Um die vorletzte Jahrhundertwende emigrierte ein Schwung Ur-Tammoxe aus Galizien nach Pennsylvania, ein gutes halbes Jahrhundert später folgten noch mal einige aus Deutschland; diesmal ging es direkt nach New York.
Offensichtlich liegen Nationalismus und Patriotismus nicht so sehr in meinem genetischen Code. Selbst meine engere Familie ist über drei Kontinente verstreut.
(Nur ich falle etwas aus dem Rahmen und lege eine Periode der Sesshaftigkeit ein.)

Wenn ich mich an meine Kindheit zurück erinnere, spielte Amerika immer eine große Rolle. Wer gerade nicht dort war, wollte dorthin zurück oder gab mit einem Seufzer beim Einkaufen „Amerika, du hast es besser“ von sich.
Ich war gewillt das zu glauben, denn aus den Staaten kamen immer diese tollen Pakete mit Geschenken für uns Kinder.

Als ich anfing politisch zu denken, war es sehr schnell vorbei mit der Amerikabegeisterung und ich fing mir einige böse Rügen ein, wenn ich en passant „Amerika ist doch scheiße!“ fallen ließ.

Es muß so ungefähr im Jahr 2003 gewesen sein, als auch die glühendsten Amerika-Liebhaber in meiner Familie zähneknirschend aufhörten noch Entschuldigungen zu finden.
Ein in New Jersey lebender Onkel weinte, als wir über Bushs Irakpolitik sprachen.
 „What is this guy doing to our country?“

Inzwischen drehen sich die sehnsüchtigen Blicke nach weit über einem Jahrhundert erstmals wieder gen Osten.

Meine Lieblingstante, die zu JFK’s Zeiten als Assistentin im Weißen Haus gearbeitet hatte und heute, 80-Jährig, immer noch glühende Demokratin ist, sagt mir gelegentlich, daß sie nach Europa auswandern würde, wenn sie etwas jünger wäre.

Ein Cousin in Ohio sitzt quasi auf gepackten Koffern und sucht einen Job in Kanada.

Selbst in Deutschland bemerkt man die Fliehkräfte der amerikanischen Gesellschaft.
Während der GWB-Jahre gab es einen regelrechten künstlerischen Exodus gen Berlin, weil so viele unter PATRIOT-Act und Prüderie litten.
Es ist sehr befreiend nicht mehr die BEEP-Laute zu hören, wenn einem ein unsittliches Wort rausrutscht, wenn einem Photographen keine Geldstrafe mehr droht, weil irgendwo ein Nippel zu sehen war.
Auch amerikanische Promis leben heute mit großer Selbstverständlichkeit zeitweilig oder dauerhaft in Europa.
Goldie Hawn oder Robert Redford trifft man inzwischen auch in der Hamburger Innenstadt.
Berliner Juweliere zählen ganz selbstverständlich auch Christopher Lee oder Brad Pitt zu ihren Kunden.
Rufus Wainright und Helen Schneider haben Wohnungen in Berlin.
Beim Lebensmittelgroßeinkauf wundere ich mich oft darüber wie viele ganz junge Leute ich amerikanisch sprechen höre.

Angenehmerweise sind die Amerikaner, die man in Deutschland trifft generell eher die aufgeschlosseneren und schlaueren Mitbürger. Logisch, denn die konservativen Rednecks und fundamentalistischen Teabagger würden ja niemals Gods Own Country verlassen, um das sozialistische Europa zu besuchen, wo es auf den Straßen von Schwulen, Atheisten und Schlimmeren wimmelt.

John Irving, der auch gerade in Deutschland weilt ist sauer.
[…] "Bei jeder Wahl ärgere ich mich mehr über meine Partei als über die Opposition", sagte der Bestsellerautor […] Der als liberal bekannte Schriftsteller findet harte Worte für den politischen Gegner: "Ich weiß, dass die Republikaner lügen und worüber. Sie überraschen mich nicht, weil sie es so machen wie immer: Wenn sie unter sich sind, können sie gar nicht laut genug tönen. Aber wenn sie in der Öffentlichkeit reden, haben sie plötzlich nichts mehr zu sagen, sie verstecken sich. Und warum? Weil sie nicht wollen, dass du etwas über ihre drakonische Haltung zum Abtreibungsrecht erfährst, weil sie nicht wollen, dass du etwas über ihre drakonische, Dinosaurier-hafte Haltung zu Schwulenrechten weißt."
Gleichzeitig, so Irving, sei es "verstörend", wie es den US-Demokraten mehr und mehr peinlich sei, sich für liberale Themen stark zu machen. "Bill Clinton war kein Liberaler. Ich habe ihn gewählt, ich mag ihn, er ist ein guter Mann. Aber er ist kein Liberaler nach meiner Definition, er ist der Mitte viel näher als ich. Und Obama ist sogar noch näher an der Mitte als Clinton. Auch Obama ist ein guter Mann, und ich will, dass er gewinnt. Aber er ist ein Zentrist, ein Mann der Mitte" […]
Die Hasenfüßigkeit der Demokraten und die Unaufrichtigkeit der Republikaner sind aus der Sicht des 70-jährigen Schriftstellers jedoch eher Symptome als Ursache - der geringe Bildungsstand seiner Mitbürger sei das eigentliche Problem. Ihn ängstige die hohe Zahl von Leuten, die gar kein Interesse haben dürften, die Republikaner zu wählen, aber von ihnen an der Nase herumgeführt würden. "Es gäbe gar keine republikanische Partei in den USA, wenn die Republikaner nicht immer wieder in der Lage wären, Leute gegen ihr ureigenstes Interesse für sich zu gewinnen. […] Die Mehrheit der Leute, die Romney wählen, schießt sich damit in den eigenen Fuß."
 Das exterritoriale Amerika ist freundlich.

Am liebsten würde ich das ganze amerikanische Amerika ignorieren und mich um die augenblicklich stattfindende Präsidentschaftswahl nicht kümmern.

Leider geht das aber nicht, weil Amerika erstens nach wie vor ungeheuer mächtig ist und mir, zweitens, all die in den USA Lebenden leidtun, die genauso entsetzt und abgestoßen von der GOP sind, wie ich.

Es ist eben nicht egal, welche Clique gerade im Weißen Haus hockt.
Fanatisierte Lügner wie Ryan und Romney sollten niemals den Koffer mit den "nuclear codes" in die Hand bekommen, während es überall in der Welt zischt und brodelt.
Man stelle sich nur vor, was uns womöglich erspart geblieben wäre, wenn 2000 der Kandidat mit den meisten Stimmen US-Präsident geworden wäre. 

Hätte Al Gore auch so radikal den Umweltschutz behindert, die Milliardäre beglückt, die Finanzspekulanten von der Kette gelassen und ein paar illegale Kriege angefangen?

Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich gewinnt nicht der grundsätzlich lügende Vollidiot Mitt Romney.

Da die Wahllokale aber in wenigen Stunden schließen, ist es für mich ziemlich sinnlos all die gebookmarkten Prognosen zu lesen oder mich hinter den dutzenden Zeitungsartikeln zum Thema vergraben, die hier um mich herum gestapelt sind.

Was man aber jetzt schon beklagen kann, ist die traurige Tatsache, daß Aufrichtigkeit und Anstand endgültig ausgedient haben. 

Amerikaner wollen von ihren Führern verarscht und belogen werden.
Kein Kandidat war in diesem US-Wahlkampf ehrlich zum Bürger. Daran sind die in vieler Hinsicht so großartigen Amerikaner selbst schuld - sie wollen belogen werden.
[Obama], der Amerika von George W. Bush erlöste, hat sich Bush-Taktiken bedient - der 2004 lieber seinen Herausforderer John Kerry demontierte, statt über seine umstrittene Bilanz zu reden. Und auch Obama, der Wahlkämpfer, begann die harten Realitäten zu verschweigen, denen Amerika sich stellen müsste.
Dass der Demokrat gegen einen prinzipienlosen Rivalen antritt, der viel Kritik verdiente, macht die Sache nicht besser. Man kann die Schuld für diese traurige Evolution Barack Obama geben. Man kann sie aber auch den Amerikanern geben. Denn diese wollen, und das klingt hart, belogen werden. Einen Politiker, der dies nicht tut, würden sie schlicht nicht wählen.
Stellen wir uns einmal vor, Obama hätte die Bewerbung für seine Wiederwahl so begonnen: "Hört her, unsere Schulen zählen weltweit nicht mehr zu den Top Ten, jede vierte unserer Brücken wackelt, unsere Kinder sterben häufiger und unsere Alten früher, obwohl wir doppelt so viel für unser Gesundheitssystem ausgeben als etwa Deutschland. Wir bereiten uns so schlecht auf einen Hurrikan vor, dass Millionen New Yorker tagelang im Dunkeln sitzen. Und unsere Schnellzüge ruckeln kaum schneller als Vorortzüge in China. Wir müssen neu anfangen."
Kurzum: Er hätte gesagt, dass Amerika nicht mehr in jeder Hinsicht das großartigste Land der Erde ist, sondern wie jede andere Nation ein "work in progress".
 Ein Präsident hat sich dies einmal getraut, Jimmy Carter. Der Demokrat redete der Nation 1979 ins Gewissen, sie müsste ihren Energiekonsum ändern. Die Amerikaner mochten es nicht hören. Sie spotteten über Carters Miesmacherei - und jagten ihn aus dem Amt.
[…] Amerika, dieses großartige Land, wollte immer mehr sein, eine Staat gewordene Idee. Seine Gründerväter beschworen einst "common sense", gesunden Menschenverstand. Heute strafen die Bürger jeden Politiker gnadenlos ab, wenn er pragmatisch Unpopuläres durchsetzt. Schlimmer noch: Es reicht sogar, wenn ein Kandidat nur über Unpopuläres redet. Über die Wahrheit zum Beispiel.
 Amerika ist erbärmlich geworden.

Immer eindringlicher warnen Reisführer davor bloß kein kritisches oder gar vergleichendes Wort über Amerika zu verlieren.
(US-Reise-Knigge hier)
Die amerikanischen Amerikaner sind so ungeheuer stolz auf ihre Nation, daß die Realität längst zu einer Fiktion von Ausländern und Sozialisten geworden ist. 
Wer einen GOPer mit so etwas schmutzigen wie der Wirklichkeit konfrontiert, kriegt gleich auf’s Maul.
Wer dennoch Mitleid mit den konservativen Amis hat, sollte so freundlich sein, ihnen eine Niederlage zu gönnen.

Die Republikaner brauchen die Niederlage.
Politik in den USA ist traditionell viel brutaler als im konsensbemühten Europa. Aber die Extremisten auf der Rechten haben dem Land einen Glaubenskrieg neuer Dimension aufgezwungen. Ein Sieg Romneys würde sie für ihre Blockadepolitik belohnen - und so selbst den Republikanern schaden.
[…] Die politischen Extremisten auf der Rechten haben das Klima vergiftet, die Spaltung verstärkt und dem Land einen Glaubenskrieg aufgezwungen, der Amerika schadet. Die USA sind grotesk verschuldet, ihr Haushalt ist blockiert, die Steuergesetzgebungen sind verrottet, das Ausgabensystem ist aus dem Lot.
Muss man deswegen Romney den Sieg wünschen, nur weil er vielleicht die Meute besser an der Leine führen kann und damit die USA wieder handlungsfähig macht? Besser nicht. Man würde die Blockade der letzten zwei Jahre nur belohnen und sich dem Terror des Geschreis beugen. Die Republikaner brauchen die Niederlage, weil nur so der moderate Teil der Partei gegen den dröhnenden rechten Rand eine Chance auf Behauptung hat.

Montag, 5. November 2012

Sinnlose Existenz




Als Blogger wird man manchmal überflüssig gemacht.

So wie unter dem Realsatiriker Helmut Kohl die Kabarettisten um ihren Job bangten, gibt es keinen Platz mehr für mich, wenn Merkel, Seehofer und Rösler das tun, was sie gestern Abend wieder vorexerzierten.

Normalerweise gibt es zu den Tagesgeschehen beschreibende Artikel und Kommentare. Der Blogger verschafft sich einen Überblick, zieht seine eigene Schlüsse, übertreibt ein wenig und fügt die flapsige und akzentuierte Sprache hinzu, die man in einer seriösen Print-Zeitung so nicht verwendenden würde.

Aber wie sollte man ein derartiges Regierungsversagen in Worte fassen? 
Selbst die gröbsten Schimpf-Metaphern wirken angesichts der schwarzgelben Realität wie Euphemismen! Grüne und Linke geben heute noch nicht mal richtige Pressemitteilungen zu dem Koalitionsbeschlüssen von gestern Nacht heraus.

Zum Regieren ist volle Handlungsfähigkeit eigentlich die allermindeste Voraussetzung, so wie man zum studieren lesen können sollte oder als Parfümista einen Geruchssinn haben sollte.

Bei der debilen Schnittmenge aus Gurkentruppe und Wildsäuen, die Merkels Kabinett bildet, sitzt man allerdings schon seit drei Jahren taten- und ratlos auf dem Hintern und bewirft sich gegenseitig mit Dreck.
Merkel wollte nun also wenigstens ein einziges mal „Handlungsfähigkeit“ beweisen. 
Aus ihrer Perspektive ist das schon ein gewaltiger Fortschritt.
WIE man handelt, ob das Ganze irgendeinen Sinn macht, womöglich in irgendeine Richtung weist oder auf bizarre Weise womöglich sogar dem Volk zu Gute käme, ist bei Merkel schon längst irrelevant.
Es sollte diesmal nur etwas beschlossen werden, IRGENDETWAS. 
Geld aus dem Fenster werfen nach dem Zufallsprinzip. 
Bezeichnenderweise war der Bundesfinanzminister, der das Ganze bezahlen sollte, gar nicht erst angereist. Er wollte sich das Elend ersparen.

In der deutschen Bundesregierung geht es nicht nur zu wie beim Geschacher auf einem orientalischen Basar. 
Nein, diesmal hat sich die Kanzlerin offenbar auch von der koptischen Papstwahl inspirieren lassen:
Man schreibe die ältesten und sinnlosesten Wünsche der drei Koalitionspartner auf kleine Zettel, wirbele diese durcheinander und lasse dann den Dümmsten und Kleinsten der Runde mit verbundenen Augen ein Los ziehen.

Herausgekommen ist die Apotheose der politischen Dummheit: Die Herdprämie, die Bildungsfernhalteprämie.

Blogger Jake würde an dieser Stelle einwerfen „Schlimmer geht immer!“.
Mag sein, allein mir fehlt dazu die Phantasie.

Während Millionen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen schuften, die so miserabel bezahlt sind, daß sie weniger als Hartz-IV-Empfänger bekommen, während wir anfangen arme Omen und Open nach Osteuropa zu exportieren, weil uns der politische Wille fehlt das lästige senile Pack hier adäquat zu versorgen, während unsere Bundesregierung mal wieder verschärft Fachkräfte im Ausland anwirbt, weil unser Bildungssystem so marode ist, daß hier 70.000 Kinder jedes Jahr die Schule abbrechen, beschließt Schwarzgelb rund 1,5 Milliarden Steuerzahlergeld dafür rauszuwerfen, daß bildungsferne Kinder auch garantiert von jedem Bildungsangebot ferngehalten werden.

Das tut diese Bundesregierung, obwohl sie selbst mit übergroßer Mehrheit davon überzeugt ist hierbei Schwachsinn zu verzapfen.
Sie wird aber getrieben von einer randständigen Regionalpartei, die von einem Soziopathen geführt wird, den niemand einnorden kann.
Da ob des allgemeinen Fehlens von Rückgrat niemand diesen Bajuwarischen Berserker stoppen kann, besinnt sich eine andere sterbende Klein-Partei unter Führung eines erratischen Hobby-Komikers an ihre einzige Kompetenz, nämlich die eigene Käuflichkeit und läßt sich die Zustimmung zur Herdprämie mit der Finanzierung eines FDP-Lieblingsplans bezahlen.
Bundeskanzlerin Merkel und ihre Koalition stellen politisches Kalkül über das Gemeinwohl. Nur um einen Gesichtsverlust von Horst Seehofer vor den Landtagswahlen in Bayern zu vermeiden und dem siechenden FDP-Vorsitzenden Rösler das Überleben für wenige weitere Monate zu sichern, schließen sie beim Betreuungsgeld einen faulen Kompromiss. Der Burgfrieden ist teuer erkauft. Merkel lässt den Preis dafür Kinder und Eltern zahlen. Denn denen drohen jetzt schlechtere Bildung und Integration sowie weniger und schlechtere Kitaplätze.
Frau Merkel und ihre Koalition handeln damit gegen den überwältigenden und nahezu einstimmigen Widerstand aus allen gesellschaftlichen Bereichen: gegen Gewerkschaften und Arbeitgeber, gegen Wohlfahrtsverbände und die evangelische Kirche, gegen die renommierte Wissenschaft – und auch gegen die eigene Anhängerschaft, die selbst mehrheitlich ein Betreuungsgeld ablehnt. Selten war eine Regierung so ignorant, so uneinsichtig und so verantwortungslos.
Pressesplitter:
Acht Stunden saßen die drei Konfliktparteien letzte Nacht im Kanzleramt zusammen, und herausgekommen ist: nicht viel. Praxisgebühr gegen Betreuungsgeld, so lautet der kleinste gemeinsame Nenner von Schwarz und Gelb nach mehr als drei Jahren gemeinsamer Regierung. Wobei kaum zu erkennen ist, wo hier noch regiert wird. Über beide Themen haben Union und FDP schließlich schon seit Wochen erbittert gestritten, im Grunde war allen Teilnehmern klar, dass es auf diesen Kuhhandel hinauslaufen wird. […] Aber die größte Lachnummer ist und bleibt das Betreuungsgeld - eine weiß-blaue Kröte, für die die CSU notfalls auch die ganze Koalition über die Klippe springen lässt, eine bayerische Machtfrage. Um die Sache geht es längst nicht mehr. (Eva Corell BR 05.11.12)
Ursula von der Leyen (CDU) spricht von der "Zuschussrente mit neuem Namen". Die Arbeitsministerin tut alles, um nicht als Verliererin der Gipfelnacht dazustehen. Schließlich war sie es, die den Kampf gegen drohende Altersarmut mit lautem Alarm auf die Tagesordnung gehievt hatte. Nun sollen noch in dieser Wahlperiode die Weichen gestellt werden, damit Geringverdiener später nicht aufs Sozialamt müssen. Doch für die Mini-Renten soll es wohl auch nur eine Mini-Aufstockung geben, nur zehn bis 15 Euro über der Grundsicherung. Ein Witz, findet nicht nur die Opposition. Der DGB spricht von "blankem Zynismus", der Sozialverband VdK beklagt eine "Rentenpolitik auf Sparflamme".

Noch nie fielen Anspruch und Wirklichkeit eines Regierungsbündnisses so weit auseinander: Nach drei Jahren an der Macht ist die schwarz-gelbe Koalition in ihren politischen Spielräumen eingeschränkt, in ihren Prozeduren ineffektiv und im Erscheinungsbild ermüdend. […]
Die jüngste Sitzung des Koalitionsausschusses war sinnbildlich für diese Not: Erst Monate der Untätigkeit, dann Wochen der Streiterei und zuletzt siebeneinhalb Stunden mühsames Gezerre für ein Minimum an Beschlüssen. Verbindlichkeit: ungewiss.
Einer Koalition mit dieser Arbeitsweise soll man nun abnehmen, dass ihr bei dem wirklich großen Problem der Rente noch etwas gelingt? 

Um die ganze Fragwürdigkeit der Ergebnisse des Koalitionsgipfels richtig zu erfassen, muss an die Startphase des schwarz-gelben Bündnisses von Kanzlerin Angela Merkel erinnert werden. Vor der letzten Bundestagswahl versprachen Union und FDP den Wählern großspurig nicht weniger als solides "Durchregieren" und eine deutliche Entlastung im Geldbeutel. […]
Um das Wahlvolk milde zu stimmen, werden auf den letzten Metern Geschenke verteilt, die widersinnig sind, teuer und zu bizarren Fehlsteuerungen führen werden. FDP und CSU erinnern an zwei Schuljungen, die das ganze Jahr viel Unfug gemacht haben und sich nun für die letzte Klassenarbeit anstrengen, um die Versetzung noch zu retten. […Merkel] moderiert faule Kompromisse, die noch reichlich Schaden anrichten können.
[…] Unsinn ist die Einführung des Betreuungsgeldes. Nach der Diktion der schwarz-gelben Koalitionäre soll man sie nicht Herdprämie nennen. Aber warum eigentlich nicht? Das Betreuungsgeld ist nichts anderes. Sie begünstigt ein Frauen- und Familienbild, das Mutti daheim bei Kindern und Küche sieht, während Papi das Geld ranschafft. Schon heute sind weitere Fehlsteuerungen absehbar: Etliche Familien aus einkommensschwachen und/oder Problem-Familien werden ihre Kinder daheim "erziehen", um die Prämie zu kassieren. Wichtige frühkindliche Förderung, die in den Kindergärten geleistet wird, bleibt aus.
 (Roland Nelles, SPON, 05.11.12)

Nichts macht die wahre Bedeutung des Koalitionsgipfels klarer als der Umstand, dass Wolfgang Schäuble nicht dabei war. […] Von der Wunschkoalition des Jahres 2009 ist eine mut- und ziellose Truppe geblieben. CDU, CSU und FDP haben mit ihren Entscheidungen den Bundestagswahlkampf eingeläutet.
 Ein Konzept sucht man bei den Ergebnissen der achtstündigen nächtlichen Verhandlungen vergeblich. Selbst der fürs Schönreden der CDU-Politik engagierte Generalsekretär Hermann Gröhe flüchtete sich in blumige Sätze: „Im Übrigen finde ich es auch schwierig, die Dinge jetzt einzeln der einen oder anderen Partei allein zurechnen zu wollen.“ Erfolge verkauft man anders. Jeder Koalitionär will nur noch retten, was zu retten ist. Am ehesten gelingt das noch der FDP.
Paradoxerweise will sie ihre Unersetzbarkeit mit einer Entscheidung belegen, die auch alle anderen Parteien einschließlich der Opposition herbeiführen wollten. Ausgerechnet die selbsterklärte Partei marktwirtschaftlicher Vernunft schafft zum Jahreswechsel die Praxisgebühr ab. Jedoch: Die rund 2 Milliarden Euro, die jährlich in der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen werden, müssen früher oder später durch Erhöhungen der Kassenbeiträge wieder hereinkommen. Die FDP sorgt also damit für eine Steigerung der Lohnnebenkosten.
[…] Dieser Umstand offenbart die Misere der Freidemokraten: Die vorgeblichen Wirtschaftsexperten genieren sich für ihren Wirtschaftsminister und Nochparteichef.

Wer bisher noch Zweifel hatte, ob die Koalition wirklich so schlecht ist wie ihr Ruf, der ist jetzt bekehrt worden: Sie ist noch schlechter. Die Spitzen von Union und FDP brauchen eine ganze Nacht, um zu entscheiden, was längst hätte entschieden sein müssen. Der Gipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren und zeigte doch nur eines: das Scheitern dieser Regierung. […]
Um es kurz zu machen: Das Betreuungsgeld soll jetzt tatsächlich, ganz wirklich und in echt kommen. Was für eine Überraschung! Es ist ja vorher schon dreimal von genau den Leuten beschlossen worden, die vergangene Nacht im Kanzleramt zusammensaßen. Im Tausch darf die FDP die Abschaffung der Praxisgebühr als ihren großen Sieg feiern. […]
Weiterer Kuhhandel: Weil die CSU so lange auf das Betreuungsgeld warten muss - statt zum 1. Januar 2013 wird es erst zum 1. August eingeführt -, darf sich ihr Verkehrsminister Peter Ramsauer noch 750 Millionen Euro für seinen Etat aus dem Steuersäckel holen. […]
Der Koalitionsgipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren. Das hat Schwarz-Gelb auch wahrlich nötig. Bewirkt aber hat der Gipfel das Gegenteil. Nach Monaten des Streits, der gegenseitigen Blockade, des Misstrauens, der Beschimpfungen und der Durchstechereien ist das, was der Gipfel hervorbrachte, ein Dokument des Scheiterns dieser Regierung.