Montag, 27. Januar 2020

Gute Wahlentscheidungen – Teil I

Seit den frühen 1980er Jahren verfolge ich intensiv jeden Landtags- und Bundestagswahlkampf. Unzählige Mal wunderte ich mich darüber, wenn mir jemand sagte, es genüge doch um 18.00 Uhr die Prognose im Fernsehen anzuschalten und dann wisse man auch Bescheid.
Nicht könnte verkehrter sein. Das eigentlich Interessante ist es nämlich vorher die Mechanismen der Demokratie zu analysieren und so Wahlentscheidungsprozesse nachzuvollziehen.
Das ist ein komplexes Unterfangen, da es nicht „den Wähler“ gibt, der einen Kurs bestätigt, indem er einer Partei eine Mehrheit verschafft.
Es gibt stattdessen einzelne Wähler, die sich aus rationalen und vielen irrationalen Gründen für diese Partei entschieden und andere Wähler, die genau das eben nicht wollten.
Hatte die CDU einst 30% und erringt bei der nächsten Wahl 20%, hat sie damit mathematisch 33% = 10 Prozentpunkte verloren.
Die politische Deutung lautet meistens „der Wähler ist heute viel unzufriedener mit der CDU als vor fünf Jahren“.
Das ist aber viel zu pauschal und kann möglicherweise ganz anders sein.
Vielleicht waren die CDU-Wähler vor fünf Jahren noch viel unzufriedener mit der Partei, wählten sie aber dennoch, um einen noch viel unsympathischeren Gegenkandidaten zu verhindern.
(Beispiel Kretschmer vs AfD bei der Landtagswahl am 1. September 2019, Chiracs 82%-Sieg über Le Pen am 5. Mai 2002)
Die 20%, die fünf Jahre später die CDU wählten, taten das womöglich aus tiefer Überzeugung und Begeisterung für den neuen Kurs.

Trends sind extrem wichtig. Die unentschlossenen Wähler (das können noch in der letzten Woche vor der Wahl 30 oder 40 Prozent der Wahlberechtigten sein) werden psychologisch davon beeinflusst wer der Sieger sein könnte. Niemand will am Ende die Partei gewählt haben, die verloren hat.
Die Wähler springen auf einen Zug auf, weil sie unabhängig von ihren eigentlichen Überzeugungen zu den Siegern gehören wollen.
Daher verbreiten die Wahlkämpfer auch bis zum Schluss geradezu abstruse Zuversicht.
Die Zuversicht darf aber nicht zu extrem ausfallen, denn sobald die Wähler denken, das Ergebnis stünde ohnehin fest, gehen sie gar nicht mehr zur Wahl. Sie wollen einerseits gern für den späteren Sieger stimmen, aber andererseits soll das Rennen doch noch so offen sein, daß sie mit ihrer Stimme den Ausschlag geben könnten.
Während sie manipuliert werden, wollen Wähler unbedingt sicher sein auf gar keinen Fall manipuliert zu werden und alles zu durchschauen, sonst sind sie beleidigt und bleiben schmollend zu Hause – in dem grotesken Irrglauben, dadurch gäbe es anschließend weniger Abgeordnete oder schlechter bezahlte Minister.
Das Wetter spielt eine große Rolle, weil die meisten Wahlberechtigten zu desorganisiert und planlos sind, um Briefwahl zu beantragen. Ihnen fällt erst am Wahlsonntag ein wählen zu gehen. Wenn es dann aber regnet, haben sie keine Lust das Haus zu verlassen.
Zu toll darf das Wetter aber auch nicht sein, denn dann könnten sie sich am Freitag schon dazu entschlossen haben ein langes Wochenende auf ihrer Datsche an der Ostsee oder den Bergen zu verbringen, wo sie nicht mehr zum Wahllokal kommen.
Wer einmal Straßenwahlkampf beobachtet hat und weiß wie Passanten auf Parteienstände reagieren, verabschiedet man sich auch von der Illusion, sie wüßten welche Politiker für welche Positionen stehen.
Sie kennen zwar die Wichtigsten wie Merkel oder Schäuble oder Scholz, haben ganz sicher eine Meinung zu ihnen, aber deswegen haben sie noch lange keine Ahnung in welchen Parteien sie sind.
Zig Millionen Euro werden dafür ausgegeben, daß sich Profi-Werber in großen Agenturen den Kopf über die Kleidung und Frisuren der Kandidaten zerbrechen. Unterschiedlichste Outfits werden von Marktforschern in Testgruppen ausprobiert.
Bundeskanzler Schröder zog ein einziges mal für eine Werbekampagne einen Brioni-Maßanzug an und war für immer als der „Brioni-Kanzler“ gebrandmarkt.

Viele Wähler sind stets in Denkzettellaune. Sie ärgern sich über irgendeine Entscheidung der Groko, die womöglich auf Druck der CSU durchgesetzt wurde und zahlen es ihrem lokalem SPD-Abgeordneten in Bremen heim, der diese Entscheidung genauso ablehnt.
Kommunale Probleme sind umgekehrt immer wieder Anlass dafür Bundespolitiker mit Stimmenentzug zu strafen.
Wenn der Lieblingsparkplatz vor der Tür durch einen Poller blockiert wurde oder der Eintrittspreis des Lieblingsschimmbades erhöht wurde und dafür auch nur im entferntesten Sinne irgendein CDU-Politiker der Bezirksversammlung Mitverantwortung trägt, bekommt Angela Merkel bei der Bundestagswahl womöglich eine Stimme weniger.

Generell werden die Verantwortungsebenen munter vertauscht. Landesregierungen mit vorbildlicher Bilanz müssen Prügel für EU-Entscheidungen oder Bundespolitik einstecken. Und umgekehrt bekommt ein hervorragender EU-Kandidat der SPD vielleicht keine Stimme, wenn ein Wähler bei einer Informationsveranstaltung über die Verlegung einer Bushaltestelle, die sozialdemokratische Bezirksvertreterin unsympathisch fand.

Einige Wähler haben hingegen immer noch die sogenannten „längerfristigen Grundüberzeugungen“. Ein Schweinezüchter in Cloppenburg-Vechta wählt immer CDU, auch wenn der Kandidat ein pädophiler Krimineller mit abstoßender Physiognomie und Mundgeruch ist. Genauso gibt es in Hamburg-Eimsbüttel oder Berlin-Kreuzberg urgrüne Milieus, bei denen anderen Parteien gar nicht erst angeguckt werden.

Wieder anderen geht der Lokalkolorit über alles. So erging es dem Hamburger Kurzeit-Bürgermeister Christoph Ahlhaus, der als geborener Heidelberger nicht nur ein Quiddje war, sondern auch anders als die Quiddje Scholz und Tschentscher vollkommen unfähig war seinen schwäbischen Habitus hinter sich zu lassen und auf ganzer Linie unhanseatisch wirkte.
Da konnten eine rechte Hamburger noch so begeistert von stramm konservativen Ahlhaus sein, aber sie wollten wieder einen Hamburger als Hamburger Bürgermeister.

Sogar die Konfession spielt noch eine Rolle, wie der abgewählte protestantische Ministerpräsident Beckstein in Bayern erleben musste.
Nur 43,4% bei der Landtagswahl im Jahr 2008 waren das Aus. Er wurde in die Wüste geschickt. Aber auch solche Regeln ändern sich.
Markus Söder ist evangelisch und Franke – über viele Jahrzehnte wäre das in der oberbayerisch dominierten CSU ein Ausschlusskriterium für den Ministerpräsidentenjob gewesen.
Bei der Landtagswahl 2018 debakulierte Söder auf 37,2%, noch mal über sieben Prozentpunkte weniger als das Beckstein-Desaster.
In dem einen Jahrzehnt hatte sich aber die Großwetterlage völlig verändert. Söder wurde nicht nur nicht in die Wüste geschickt, sondern stieg zum unumstrittenen Alleinherrscher auf, der nun in der gesamten Union bewundert wird.

Eine eher untergeordnete Rolle spielen die politischen Erfolge der Wahlkämpfer. Die Bilanz eines Ministerpräsidenten ist keineswegs ausschlaggebend für den Wahlkampferfolg.
Nahezu irrelevant sind die Partei- und Wahlprogramme.
Die werden außer von einigen Journalisten und wenigen Delegierten nicht gelesen und sind in der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ganz und gar unbekannt.