Freitag, 20. September 2019

Behinderte vs Behinderung


Frauen sind deutlich langlebiger als Männer; sie haben eine robustere Physiologie und auch eine stabilere Psyche.
Während Witwer verkümmern und hilflos sind, können Witwen sich anpassen überleben.

In Deutschland ist dieses Phänomen besonders aus den beiden Weltkriegen bekannt.
Religiös indoktrinierte geschlechtliche Rollenzuweisungen gaben Frauen eine dienende und unselbstständige Position in der Gesellschaft. Wenn aber durch Nationalismus und Größenwahn Millionen Männer an die Front geschickt wurden, mussten Frauen aufgrund der außergewöhnlichen Umstände die Rollen ihrer Ehemänner ausfüllen und konnten das so gut und so selbstständig, daß die möglicherweise erst nach Jahren zurückkehrenden Männer verzweifelten. Sie fühlten sich ihrer Großartigkeit und Unersetzlichkeit beraubt, wenn sie feststellen mussten, wie gut es auch ohne sie ging und konnten sich anders als ihre Eheweiber schlecht an die neuen Umstände anpassen.

Wir Männer haben schließlich nur ein Y-Chromosom, das zwar eigenständig klingt, aber bloß ein verkümmertes, krüppeliges, amputiertes X-Chromosom der Frauen ist.
Allerdings haben wir einen biologischen Vorteil; wir produzieren ununterbrochen Fortpflanzungszellen und können daher verschwenderisch mit Spermien um uns werfen. Hat man mal alle durch die Samenleiter gejagt, muss man nur ein bißchen warten während man Frische nachproduziert.

Frauen können das nicht, sie werden schon mit ihrer Gesamtzahl an Eizellen geboren. Ein bis zwei Millionen Stück sind schon im Embryo vorhanden. Lächerlich wenige; ein Mann spült bei einer Ejakulation bis zu 300 Millionen Samenzellen raus.
Die Eizellen der Damenwelt sind also nicht nur irgendwann endgültig alle – nach dem Klimakterium ist es vorbei mit der Fortpflanzung – sondern sie werden auch noch alt.
Bekommt eine Frau mit 40 oder 45 Jahren ein Kind, ist die Eizelle eben auch schon 40 oder 45 Jahre alt. Und besser werden menschliche Zellen nun einmal nicht.
Daher kommt der Begriff „Risikoschwangerschaft“. Je älter das Ei, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß es schon ein bißchen angeditscht, schadhaft oder schwach ist.

 […..] Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit dem Down-Syndrom (Trisomie 21) zu bekommen, nimmt mit dem Alter der Mutter zu: von 0,006 Prozent bei 20- bis 24-jährigen Müttern auf 0,5 Prozent bei 30-Jährigen und zwei Prozent bei 40-Jährigen.
Auch das Risiko für Fehlbildungen, Früh- und Fehlgeburten steigt mit zunehmendem Alter der Mutter. Beispielsweise steigt die Rate an Fehlgeburten von etwa neun Prozent im Alter von 20 bis 25 Jahren auf 20 Prozent aller Schwangerschaften bei den 35-jährigen Frauen.
Abgesehen davon treten mit steigendem Alter der Mutter auch Schwangerschaftskomplikationen häufiger auf. Das betrifft vor allem schwangerschaftsbedingten Bluthochdruck, Eiweißausscheidung im Urin, Schwangerschaftsdiabetes und Funktionsstörungen des Mutterkuchens mit Unterversorgung des Kindes (Mangelgeburt). […..]
(TK)

Die moderne Medizin kann diese ganz natürlichen Risiken manchmal abmildern und gelegentlich auch ganz beheben.

Noch einmal zur Erinnerung: Die menschliche Natur, die Natürlichkeit ist nicht unbedingt das, was mit zivilisatorischen Werten und Wünschen vereinbar ist. Unnatürlich ist gut!

(….) Natürlichkeit verträgt sich allerdings nicht mit Zivilisation. Es wäre auch natürlich, daß Menschen ohne Zähne verhungern oder daß alte Menschen sehr oft blind werden.
Die Zivilisation ist aber unnatürlich. Deswegen bekommen in Hamburg Menschen mit Grauem Star eine Cataract-Operation. Wie am Fließband werden in einem kleinen ambulanten Eingriff neue Linsen eingesetzt und dabei auch gleich die Kurzsichtigkeit korrigiert.
Wir lassen der Natur eben nicht ihren Lauf, sondern greifen ein. Wir implantieren Zähne, passen Hochleistungshörgeräte und Cochlea-Implantate an, setzen Defibrillatoren und Pacemaker in die Brusthöhle, entfernen Tumore aus Prostata und Dickdarm. All das ist völlig unnatürlich und in der Geschichte der Menschheit sehr neu. Aber der evolutionäre Humanismus verlangt solche technischen Korrekturen an der natürlichen Biologie.
Dementsprechend wollen wir auch Kindersterblichkeit in Deutschland möglichst nicht akzeptieren – auch wenn das ein natürlicher Ausleseprozess wäre.
In vielen moralischen Aspekten ist Unnatürlichkeit überlegen.
Das betrifft den Beginn genauso wie das Ende des Lebens, welches wir mit Opiaten und Morphinen erheblich angenehmer gestalten, als es natürlich wäre.

Es ist natürlich Kinder aus Versehen zu zeugen, sie durch Verhütungsmittelfehlfunktionen zu generieren, sie aufgrund einer Gewalttat zu erschaffen. Das geht ganz leicht. Zehnjährige Mädchen werden ohne den Vorgang zu verstehen von ihrem elfjährigen Bruder geschwängert, oder es ist jemand nach einer nächtlichen Sauftour schwanger, ohne sich überhaupt zu erinnern Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. In vielen Teilen der Welt gibt es Massenvergewaltigung im Zuge ethnischer Kriege.
Die Kombination von Ei und Samenzelle zu einem neuen Leben funktioniert ohne Liebe, ohne Ethik, ohne Religion, ohne Vertrag und ohne Vertrauen. (……)

Um festzustellen, ob bei einer Schwangerschaft möglicherweise ein Fötus mit einer Trisomie gebildet wurde, gab es lange Zeit nur die Fruchtwasseruntersuchung.
Das ist eine invasive Methode, die das Risiko einer Fehlgeburt erhöht.

Neuer ist ein spezieller Gentest.

[….] Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) wird seit 2012 angeboten. Dabei wird der Schwangeren eine Blutprobe aus der Armvene entnommen und im Labor untersucht. Im Blut findet man DNA-Fragmente des Fötus, die herausgefiltert und analysiert werden. Gesucht wird nach den häufigsten Chromosomen-Abweichungen Trisomie 21 (Down-Syndrom), Trisomie 13 und Trisomie 18, die mit sehr hoher Sicherheit festzustellen sind.
In Deutschland gibt es mittlerweile mehrere Anbieter solcher Bluttests. Die Erkennungsrate für Trisomie 21 liegt bei diesen Tests bei mehr als 99 Prozent, die falsch positiven Befunde liegen im Bereich von 0,1 bis 0,2 Prozent. Für Trisomie 18 (Erkennungsrate von 98 bis 100 Prozent) und Trisomie 13 (Erkennungsrate von 80 bis mehr als 99 Prozent) gibt es ähnliche Werte. [….]
(FR, 19.09.2019)   

Der NIPT ist teuer und so gilt es als kleine Sensation, daß gestern der nahezu allmächtige gemeinsame Bundesausschuss gBA dafür stimmte unter genau definierten Bedingungen NIPT als Kassenleistung einzustufen.
Kirchen und Behindertenverbände laufen Sturm.
In meinen täglichen Zeitungen lese ich empörte Kolumnen Down-Syndrom-Vätern, die ihre Kinder herabgesetzt sehen und die große moralische Eugenik-Keule schwingen. Damit wolle man den Wert ihrer Kinder „schmälern“.

[…..]  Als Vater eines mittlerweile fünfjährigen Jungen mit dieser genetischen Besonderheit kann ich sagen: In dem Moment, als die Diagnose raus war, waren wir voller Angst und Unsicherheit, unwissend, was da auf uns zukommt. […..] Denn unsere Gesellschaft ist noch lange nicht so weit, behindertes Leben als grundsätzlich lebenswert zu empfinden. Das zeigt die Erfahrung meiner Familie in den vergangenen fünfeinhalb Jahren. […..] Am Ende kann ich zwar nur unser Leben mit unserem Sohn – er heißt Rick – beurteilen. Aber dieses Leben macht Spaß. So einfach ist das. Na klar, Rick kann furchtbar nerven. Welches Kind kann das nicht? Rick findet es auch – ganz Downsyndrom-typisch – furchtbar witzig, einfach ohne erkennbares Ziel wegzurennen. Er ist bei Weitem noch nicht so selbstständig wie seine „normale“ Zwillingsschwester. Und er verursacht technokratischen und bürokratischen Stress, dem sich Familien mit „normalen“ Kindern nicht aussetzen müssen.
[…..] Schmälert all dies Ricks Wert als Mensch? Ist es richtig, Menschen wie Rick die Chance zu nehmen, einfach so zu sein, wie sie sind? […..] Überhaupt: Wie weit wollen wir in die Prozesse der Natur eingreifen, nur weil wir es können? Rein statistisch betrachtet hat schließlich jedes 800. Kind das Down-Syndrom. Es läuft dabei also nichts schief-, sondern nur anders als bei der von uns festgelegten Norm. Damit gehört das Down-Syndrom aber letztlich auch zur Normalität. […..]
(RND/Mopo/ Dr. Sebastian Harfst 20.09.19)

An anderer Stelle wird auf Island verwiesen; dort wird der NIPT schon lange von den Krankenkassen bezahlt mit der Folge, daß so gut wie keine Kinder mit Down-Syndrom mehr geboren werden.
Das sei zutiefst amoralisch.

Dr. Harfst, das weise ich empört zurück. Genau wie die Kirchen verwechselt er Kranke und Krankheit, Behinderung und Behinderte.

Niemand hat etwas gegen Behinderte, will den „Wert“ eines Menschen mit Trisomie 21 schmälern. Im Gegenteil, ihnen gebührt Achtung wie jedem anderen auch.
Mit Behinderungen umzugehen, indem man sie als eben nicht „unnormal“ behandelt, sondern sie inkludiert, also in das gesellschaftliche Leben einbezieht, ohne sie zu diskriminieren, ist ein zivilisatorischer Fortschritt.
Die längste Zeit in den letzten 2.000 Jahren wurden mit offensichtlichen Behinderungen geborene Babys gleich ins Meer oder die Klärgrube geworfen, oder bestenfalls weggesperrt in Irrenanstalten.
Das war der „christliche Weg“.
Kein Humanist würde das auch nur annähernd befürworten.
Jeder Mensch mit einer Krankheit/Behinderung ist schützenwert und hat die gleiche Würde wie jeder andere.

Aber man bekämpft die Krankheit.

Es ist eine Unverschämtheit, wenn ausgerechnet konservative Christen denjenigen, die sich um Linderung eines Leidens bemühen niedere Motive unterstellen.

[….] Der Bundesverband Lebensrecht kritisiert den Test, da er Menschen mit genetischen Besonderheiten wie etwa der Trisomie 21 "diskriminiert und selektiert". Die Evangelische Behindertenhilfe warnt vor gesellschaftlichen Folgen bei einer Zulassung als Regeluntersuchung. In diesem Falle müssten umfassende Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und spezifische Hilfen für Familien mit einem Kind mit Behinderung geschaffen werden. Sonst liefen sämtliche Bemühungen um Inklusion ins Leere. [….]
(SZ, 20.09.19)

Christen und CDUler, die aus ideologischer Verbohrung dafür kämpfen, daß mehr Menschen mit schweren Behinderungen geboren werden, sollten sich schämen.
Abgesehen davon, daß es sie grundsätzlich gar nichts angeht, wie eine Frau mit ihrem eigenen Uterus umgeht und sich schon daher alle Verbote verbieten, sind ihre Vorwürfe perfide.

Natürlich wünscht man sich seinem Kind eine Krankheit zu ersparen.
Das hat aber rein gar nichts damit zu tun, daß man sein Kind weniger lieben oder weniger unterstützen würde, wenn es doch eine Krankheit/Behinderung oder einen sonstigen Makel bekäme.
Auch das ist nämlich eher die Spezialität evangelikaler Christen, die ihre eigenen Kinder verstoßen und auf die Straße werfen, wenn beispielsweise nicht ihrem heterosexuellen Leitbild entsprechen.

Diese Debatte gibt es immer wieder, wie zum Beispiel zur Verleihung des „Ethik-Preises der Giordano-Bruno-Stiftung“ an denen Philosoph Peter Singer im Jahre 2011.
Aber Christlich-Konservative sind erkenntnisresistent.

[…..] In dem maßgeblichen Buch zu dieser Thematik „Muss dieses Kind am Leben bleiben? – Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener“ (Helga Kuhse/Peter Singer, Harald Fischer Verlag 1993) heißt es dazu: „Wir meinen (…), dass die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen. Wir sollten alles tun, um die oft beklagenswert schlechte institutionelle Betreuung zu verbessern und die Dienstleistungen bereitzustellen, die behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Institutionen und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen“ (S.26). […..] Angesichts „des Leids, das der Status quo für die schwergeschädigten und kranken Kinder und ihre Familien bedeutet“, stellten Kuhse/Singer, wie zuvor schon Hoerster, zwei Forderungen auf:
a) „Eltern eines schwerstgeschädigten Kindes [müssen] zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom Alter des Kindes die Möglichkeit haben, das Kind ohne eigene Kosten in einer staatlichen Institution unterzubringen (Wir gehen natürlich davon aus, dass diese Institutionen über genügend Mittel verfügen, um einen hohen Betreuungsstandard zu garantieren.)“
b) „Aktive und passive Euthanasie sollte immer dann erlaubt sein, wenn jemand unter einer unheilbaren Krankheit so sehr leidet, dass ein Weiterleben nicht in seinem oder ihrem Interesse ist. (…) Die erste Bedingung befreit die Familie von der Belastung, ein schwerstbehindertes Kind aufziehen zu müssen – wenn sie denn davon befreit werden will. Die zweite Bedingung stellt sicher, dass ein Kind dasselbe Lebensrecht besitzt wie wir alle, aber nicht, wie zur Zeit noch, gezwungen werden kann, ein elendes Leben weiterzuleben“ (S.252).
Man könnte diese Position etwa auf den folgenden Nenner bringen:
 1. Jeder Mensch hat ab der Geburt ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht. (Manchmal ist das Leben leider mit solchen Qualen verbunden, dass es unethisch wäre, es unbedingt aufrechterhalten zu müssen.)
2. Kranke und Behinderte sollten mit allen Mitteln gefördert werden – Krankheit und Behinderung jedoch nicht! Ich halte diese Differenzierung nicht für „behindertenfeindlich“, sondern, ganz im Gegenteil, für „behindertenfreundlich“. […..]

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn muss der gBA-Entscheidung der NIPT-Kostenübernahme übrigens noch zustimmen.
Angesichts des letzten unverantwortlichen Spahn-Desasters zur Homöopathie sind alle Befürchtungen angemessen.