Montag, 29. April 2013

Piepsis und ihre Killer.



Das ist das Gute am Kindsein – das Hirn ist noch so aufnahmefähig.
In der fünften Klasse mußte ich in meiner neuen Schule vor 36 anderen Kindern ein Gedicht aufsagen. Aufstehen und vor Fremden laut etwas deklamieren fand ich damals schon genauso beschissen wie heute.
Mit Grausen erinnere ich mich an meinen ersten Tag in der Uni, als uns die Tutoren zu „gruppendynamischen Spielen“ zwangen und ich ähnlich unglücklich vor einer Gruppe stand und irgendwas über mich erzählen sollte.
Allerdings war ich da schon 18 und habe vergessen, was ich damals sagte. Das Gedicht von einem Jahrzehnt davor kann ich heute noch aufsagen.

Grau mit viel Braun und wenig weißen Federn,
Das Männchen auf der Brust mit schwarzem Fleck,
Sie leben unter Palmen, Fichten, Zedern
Und auch in jedem Straßendreck.
In Ingolstadt und in der City Boston,
Am Hoek van Holland und am Goldnen Horn
Ist überall der Spatz auf seinem Posten
Und fürchtet nicht des Schöpfers Zorn.
Inmitten schwarzer Dschungeln von Fabriken
Und todgeladner Drähte Kreuz und Quer
Sieht man die Spatzen flattern, nisten, brüten, mausern, picken,
Als ob die Welt ein Schutzpark wär!
Es stört sie nicht der Lärm der Transmissionen
Und keineswegs das Tempo unserer Zeit -
Sie leben (schnell und langsam) seit Äonen,
Wo sie der Himmel hingeschneit.
Als Jesus über Gräser, Zweige, Blumen
Einritt, und alle Hosianna schrien,
Da pickt‘ ein Spatz gemächlich gelbe Krumen
Aus dem noch warmen Mist der weißen Eselin.
Herr, gib uns Kraft und Mut wie Deinen Spatzen,
Mach unser Leben ihrem Rinnstein gleich.
Dann mag wer will von edleren Tauben schwatzen,
Denn unser ist Dein gutes Erdenreich.
Carl Zuckmayer, 1926



Die christliche Durchwirkung ist mir damals gar nicht bewußt geworden.
Jesus, Hosianna und des Schöpfers Zorn hatten für mich noch keinerlei Konnotationskanon zur Folge.
Ich weiß auch nicht mehr, ob ich als Kind eine besondere Meinung zu Spatzen hatte. 
Es gab eine Menge von denen in unserem Garten und an dem Zuckmayer-Text gefiel mir, daß die Piepsis so cool waren und sich von nichts stören und aufhalten ließen.
Die haben ihr Leben gelebt, komme was da wolle, egal was der Menschen um sie herum anstellt.



Carl Zuckmayer hat sich vermutlich auch nicht vorgestellt, daß Sperlinge 90 Jahre später zu einer Seltenheit in Deutschland werden würden.
Sie gehören leider zu den kleinen Vögeln, die gar nicht so anpassungsfähig sind, wie man denkt. Amseln, Meisen oder Tauben integrieren sich bekanntlich hervorragend in die Stadt. 
Sie stellen ihre Ernährungsgewohnheiten um, singen lauter als ihre Artgenossen auf dem Land, um den Verkehr zu übertönen und nehmen auch menschliche Bauten begeistert als Nistplätze an.
Kaum ein Städter mit Balkon, der nicht im Winter Vogelfutter streut und im Frühjahr Vogelhäuschen aufstellt.
 Die fetten Jahre sind vorbei
Heutzutage sind Spatzen nirgends mehr so zahlreich, dass ihr Appetit ins Gewicht fallen könnte. Die moderne Landwirtschaft hat ihnen das Leben schwergemacht. Vor allem deshalb, weil die Felder nur noch kurzzeitig Futter im Überfluss bieten. Mit großen Mähdreschern lässt sich reifes Getreide schnell ernten, und die Ernte wird dann außer Reichweite gelagert. Rar geworden sind vielerorts auch Insekten und andere kleine Krabbeltiere, mit denen die Spatzen ihren Nachwuchs füttern. Die fetten Jahre sind also eindeutig vorbei.
Zuckmayers Vision von den allgegenwärtigen Spatzen ist längst vorbei, er der Haussperling ist in die Vorwarnliste bedrohter Arten aufgenommen worden. 
In den letzten zehn Jahren ist der deutsche Spatzenbestand von rund fünf Millionen Paaren um 25% zurückgegangen.
Ältere Leute erinnern sich oft an große Spatzenschwärme, die man auf Feldern sehen konnte. Jugendliche von heute kennen das Bild nicht mehr.
Hauptgründe für die schleichende Ausrottung der kleinen grauen Finkenvögel sind erstens die Versiegelung der Flächen und zweitens Predation.

Zum ersten Punkt:
Spatzen finden keine Sandkuhlen, keine Büsche, keine Nistmöglichkeiten mehr, weil in den Städten als betoniert und asphaltiert wird. Sie sind aber auf Staubbäder zur Gefiederpflege angewiesen (daher der Begriff „Drecksspatz“) und gelten als empfindlich gegenüber Brutstörungen. Sie geben ihr Nest lieber auf, wenn man ihnen zu nahe kommt. Ohne Wiesen oder Stadtbrachen mit Wildstauden verhungern sie.

Der zweite Punkt ist quantitativ noch bedeutender: Neben den natürlichen Feinden wie Falken, Bussarden und Eulen fallen sie Katzen zum Opfer.
Allein zwei Millionen Katzen streunen in Deutschland wild umher und noch mehr Hauskatzen haben freien Auslauf.
Was diese vom Menschen in die Natur eingebrachten Killer der heimischen Fauna antun, wollen Katzenliebhaber natürlich nicht wahrhaben.

Katzen töten jedes Jahr rund 50 Millionen Singvögel in Deutschland!
 FÜNFZIG MILLIONEN!

Ein probates Mittel wäre ein drastische Katzensteuer, aber das gehört zu der Liste der vernünftigen Dinge wie Tempolimit oder Extragebühren für den Polizeiaufwand bei Fußballspielen – kein Politiker würde sich trauen sich dem unweigerlichen Shitstorm auszusetzen, den so eine Forderung mit sich brächte.

Da ich aber nicht gewählt werden muß, spreche ich mich für eine saftige Katzensteuer von 100 Euro im Monat aus. 

Das sollte uns die Erhaltung der Vogelwelt in Deutschland wert sein!
Der langjährige Leiter der Vogelwarte am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell (Kreis Konstanz) [fordert] eine "ökologische Ausgleichssteuer" für Katzenhalter. Er hat damit eine kontroverse Debatte unter Natur- und Tierschützern angestoßen.

"Die Eingriffe von Katzen in die Tierwelt sind substanziell", sagt der 74-Jährige. Er verweist auf eine US-Studie, wonach eine Katze im Jahr mindestens 40 Vögel erbeute, dazu 200 kleine Säugetiere sowie "große Mengen an Eidechsen, Schlangen, Amphibien und Insekten wie etwa Schmetterlinge". Katzen seien in der Lage, beträchtliche Populationen ohne Weiteres auszurotten. "Für das Aussterben von bisher 33 Vogelarten weltweit sind wesentlich Katzen verantwortlich", sagt Berthold.

Rund acht Millionen der domestizierten Raubtiere leben laut Berthold in Deutschland. "Davon sind zwei Millionen verwilderte Katzen, die sich auch selbst ernähren müssen." Jährlich brächten die samtpfotigen Fleischfresser in Deutschland allein 50 Millionen Vögel zur Strecke.

[…]  Der Diplom-Biologe Holger Kurz, Leiter des Hamburger Büros für biologische Bestandsaufnahme, befürwortet die Einführung einer Katzensteuer, allerdings unter der Bedingung , dass man das Geld zu Vogelschutzzwecken einsetzen würde.
(HHAbla 26.04.13)
Mistviecher.

Katzenhalter und -freunde mögen nun genervt aufstöhnen und sagen, dass ein Großteil der Jung- und Altvögel von anderen Jägern erbeutet wird, was schließlich allgemein bekannt ist. Dem ist jedoch bedauerlicherweise nicht so. Ein großer Teil der Verluste in der heimischen Vogelwelt dürfte auf das Konto streunender, freilaufender sowie verwilderter Hauskatzen gehen, da sie zahlenmäßig die stärkste Gruppe innerhalb der Gemeinschaft der Jäger darstellen.

Warum ist das so? Und warum wollen die meisten Katzenhalter davon nichts wissen? Ganz einfach: Weil ein Großteil der Besitzer einer Hauskatze nicht einmal ahnt, was der vermeintlich sanfte Stubentiger draußen in freier Natur alles anstellt. Erst seit wenigen Jahren wird von der Wissenschaft erforscht, welche Verhaltensweisen Hauskatzen zum Beispiel nachts während eines Freigangs zeigen. Bedauerlicherweise haben sich die Ergebnisse dieser Studien noch nicht ausreichend unter Katzenhaltern herumgesprochen, um alarmierend zu wirken.